Eine unendliche Geschichte: Microsoft und die Gerichte.

Der reibungslose Kapitalismus funktioniert noch nicht ganz nach Plan.

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Richter haben es nicht einfach; sie entscheiden oftmals über Wohl und Wehe von Individuen und Unternehmen und müssen manchmal auch unliebsame Urteile fällen. Eine besondere Verantwortung lastet dieser Tage allerdings auf dem US-amerikanischen Bundesrichter Thomas Penfield Jackson in Washington, DC.

In seiner Funktion als verlängerter Arm des Justizministeriums hat er es gewagt, der unantastbaren Softwarefirma Microsoft ein Steinchen auf ihren profitablen Weg nach vorn in die Zukunft der Informationsgesellschaft zu werfen: das Unternehmen im Staate Washington darf Computerfirmen nicht mehr dazu nötigen, ihren Webbrowser Internet Explorer zugleich mit dem weltweit beliebten Betriebssystem Windows 95 auf die Bildschirme der Kunden zu zaubern.

Ein Skandal - nicht nur weil der Microsoft-Frontmann Bill Gates sich bereits in einer Zeit des "reibungslosen Kapitalismus'" wähnte, in der dem Staat angesichts des "freien Marktes" nicht einmal mehr die Aufgabe zukommt, den Mißbrauch von Monopolstellungen zu verhindern. Skandalös vor allem auch, weil damit nach all den Jahren des ungehinderten Schaltens und Waltens plötzlich eine Firma in ihrem Handlungsspielrahmen eingeschränkt wird, die mit einem Marktwert von 162 Milliarden Dollar fast doppelt soviel "Finanzgewicht" auf die Waage bringt wie AT&T oder General Motors.

Der Streit um die wenigen Kilobyte Softwarecode könnte böse Folgen haben für die Weltwirtschaft: es bestehe die Gefahr, daß die unerhörte Entscheidung des Richters "Microsoft, einer Reihe von Drittparteien und der allgemeinen Öffentlichkeit einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen " könnte. Dies ließ zumindest die Rechtsabteilung des Redmonder Unternehmens unter der Leitung von William Neukom kurz nach dem am 11. Dezember 1997 erlassenen Urteilsspruch verlauten. Der Internet Explorer, der nach Angaben des Marktforschungsinstituts Dataquest seinen Marktanteil von 20 Prozent Ende 1996 auf 39 Prozent Ende November 1997 fast verdoppelt hat, sei schließlich auch als fester Bestandteil und Kernstück des lange versprochenen, aber bereits verzögerten Update des PC-Betriebssystems vorgesehen. Und falls der Webbrowser nun wieder herausgenommen werden müßte, könnte aus dem von den Börsen heiß erwarteten Windows 98 schnell die 99er Version werden. Endlich schien die im Dauerstreß stehende Softwareschmiede also einen Grund gefunden zu haben, das Erscheinen der neuen Computeroberfläche mal wieder um ein paar Monate zu verschieben.

Washington schien den Trick allerdings zu durchschauen und blieb trotz aller unterschwelligen Drohungen mit der Wirtschaftskeule hart. Explorer raus aus dem Betriebssystem oder 1 Million Dollar Versäumnisstrafe war die Losung aus den Hallen der Gerechtigkeit. Gerade noch rechtzeitig fiel den erprobten Marktstrategen eine neue (Doppel-)Variante ein, sich den gerichtlichen Entscheidungen zu entziehen. Zunächst argumentierten die Rechtsanwälte aus Redmond, daß der Verfügung jegliche Grundlage fehle. Das Justizministerium und anschließend Richter Jackson berufen sich in ihren Erlassen auf eine Verfügung von 1995, in der Microsoft unlautere Marketingstrategien untersagt werden. Doch Unschuldsknabe Bill Gates ließ seine Anwälte verkünden, daß bei der Bündelung von Browser und Betriebssystem eben gar keine Bündelung vorliege, sondern daß der Explorer in den Zeiten des Internet quasi wie von selbst und für jeden vorausseh- und nachvollziehbar in die Benutzeroberfläche hineingewachsen sei.

Die Antwort der Regierungsseite war, daß Microsoft das Ausnutzen einer Machtstellung im Softwarebereich für die Vermarktung weiterer Produkte mit der Erlaubnis zur Entwicklung kompetitiver neuer Programme verwechsle und anscheinend die Geschichte umschreiben wollte. Seltsam genug, daß einer Firma, die sich permanent auf die Mächte des freien Marktes beruft, Praktiken vorgeworfen werden, die einem kommunistischen Zentralkomitee alle Ehre gemacht hätten. Doch die Streiter aus dem Staate Washington gaben sich mit diesem Bescheid noch lange nicht geschlagen. Der Explorer sei bereits derart in Windows integriert, daß er nicht mehr zu entfernen sei, ohne das ganze System zum Absturz zu verurteilen, hieß es nun in der folgerichtigen Fortsetzung des strategischen Ansatzes. Die Käufer hätten daher die Wahl zwischen einer zwei Jahre alten Version von Windows 95 ohne den Explorer - und ohne die seitdem ergänzten Verbesserungen an dem Betriebssystem -, einer aktuellen Windowsversion ohne Explorer, aber dafür mit permanenter Crashgefahr, oder der bisher gelieferten neuesten Software mit Explorer. Alle drei Versionen selbstverständlich zum selben Preis. "Eine Erfüllung der Gerichtsanordnung mit erhobenem Mittelfinger" wie Dan Gilmor, Kolumnist der Silicon-Valley-Postille San Jose Mercury News kommentierte, mit der die Firma erneut beweise, daß sie im Kampf um ihre Monopolstellung keine Grenzen mehr kenne.

Doch der streitfertige Richter aus dem Regierungssitz ging mit in die nächste Runde und entfernte das umstrittene Browserobjekt im Rahmen einer öffentlichkeitswirksamen Sitzung innerhalb einiger Sekunden mit ein paar Mausklicks von der Schreibtischoberfläche. Alles eben nur oberflächlich, konterte Microsoft-Sprecher Mark Murray: Der Richter habe nicht den Explorer deinstalliert, sondern nur ein paar Graphiken auf dem Desktop. "97 Prozent des Code für den Internet Explorer" seien dagegen immer noch im Computer. Dazu gehörten vor allem die sogenannten Dynamic Links Libraries (DLLs), die sich andere Programme mit dem Browser teilten und daher nicht entfernt werden dürften. Seitdem diskutiert die amerikanische Nation, ob eine völlige Deinstallation des Explorers tatsächlich auch die Funktion so manch eines anderen Programms beeinträchtigen könnte, und ob der Richter wirklich nur die Oberflächensäuberung oder die Tilgung jeglichen Browsercodes aus dem gesamten Betriebssystem verlangt habe. Aufklärung soll eine Anhörung am 13. Januar 1998 bringen, während der Microsoft in Washington Rede und Antwort stehen soll.

Der Streit wird derweil munter auf den Frontblättern aller Zeitungen ausgetragen, was nicht nur zeigt, wie wichtig die Computerindustrie für die amerikanische Volkswirtschaft inzwischen geworden ist, sondern auch, wie sehr die Emotionen hochschlagen, sobald die Namen Microsoft und Gates fallen. Die Aufregung, für die diese Diskussion um ein letztlich kleines und zudem kostenloses Programm sorgt, ist letztlich auch ein Zeichen dafür, daß Washington anscheinend die jahrelang geübte Nachsicht gegenüber der Softwarefabrik aus dem gleichnamigen Staate bereut und nun jeglichen Anhaltspunkt nützen will, Bill Gates in die Geschäfte zu reden.

Der Milliardär, der auf der Comdex im Herbst noch lockere Sprüche über das Justizministerium vom Band gelassen hatte, sollte dies zumindest zum Anlaß nehmen, seine mit vier Mann vergleichsweise sehr gering besetzte Lobbymannschaft in der Hauptstadt zu verstärken und die Regierung auch in den Zeiten der "Neuen Ökonomie" als Mitspieler neu zu entdecken.

Ein anderer, im Vergleich zum Riesen aus Redmond mit seinem für das vergangene Finanzjahr ausgewiesenen Reingewinn von 3,45 Milliarden Dollar eher unbedeutende Player hat inzwischen dem Rivalen unerwartete Unterstützung angeboten, wie sie eben nur in der Weihnachtszeit denkbar ist: Netscape will in den nächsten Tagen Microsoft helfen, den Explorercode von den PC-Oberflächen zu entfernen, ohne das gesamte System zu behindern. Überall im Netz sollen nach Vorstellungen des Marktführers im Browsergeschäft - 57 Prozent der Netizens surfen nach wie vor mit Netscape - bald die Banner aufpoppen mit den Links zu den Säuberungshilfen für die Explorermüden. Ob Netscape damit allerdings langfristig die Position halten kann, ist angesichts des längeren und eisigeren Atems des nördlicher gelegenen Konkurrenten allerdings trotz aller Justizvorkehrungen fraglich.