Fall Radikal endgültig ad acta gelegt?

Generalbundesanwalt stellt "radikal"-Verfahren gegen Provider ein

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Nach fast eineinhalb Jahren ist nun die entgültig letzte Entscheidung im "Fall radikal" gefallen. T-Online, Compuserve, AOL, der DFN und andere Provider hatten nach Ansicht des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe den Zugriff auf die von der niederländischen Provider "XS4All" und einem Internet-Provider in Philadelphia, USA, eingestellte Untergrunddruckschrift "radikal" ermöglicht und sich damit dem Vorwurf der "Beihilfe zum Werben für terroristische Vereinigungen" ausgesetzt. Jetzt wurde das Verfahren hauptsächlich wegen Geringfügigkeit (§153 Abs. 1 StPO) eingestellt.

Nach Ansicht des Generalbundesanwalts sprach für die Einstellung, daß es sich bei der Frage, unter welchen Voraussetzungen Internetprovider für den Inhalt der von ihnen zugänglich gemachten Daten strafrechtlich verantwortlich sind, um "tatsächliches und rechtliches Neuland" handelte. Erst im August letzten Jahres war das Informations- und Kommunikationsgesetz (IuKDG) in Kraft getreten, das die Providerverantwortlichkeit regelte (siehe Bundestag beschließt Multimediagesetz).

Er vertritt jedoch weiterhin die Auffassung, daß sich Internetprovider strafbar machen, wenn sie bewußt Informationen strafbaren Inhalts zugänglich machen. Berücksichtigt wurde bei der Entscheidung auch, daß "radikal" als Druckexemplar bereits längere Zeit zuvor im Umlauf gewesen war und damit eine "Presseverjährung" bereits eingesetzt hatte. In der Frage der "technischen Zumutbarkeit" (IuKDG Art.1, Par. 5) hatten speziell vom Generalbundesanwalt angeforderte technische Gutachten, unter anderem vom Bundesinstitut für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), den Ausschlag zugunsten der Provider bewirkt.

Die Deutsche Telekom begrüßte die Entscheidung, betonte jedoch, daß die Vorwürfe der Generalbundesanwaltschaft nicht haltbar seien. T-Online hatte "radikal" nicht gesperrt, da eine gezielte Sperrung nicht möglich und die zahlreichen Mirrors die Sperrung "ineffizient" machten. Mit der Sperrung der IP-Nummer wären gleichzeitig über 5000 andere Adressen betroffen gewesen, man hätte mit Regreßforderungen seitens kommerzieller Anbieter rechnen müssen, so die Telekom heute.

Der DFN wollte sich bislang noch nicht zur Einstellung des Verfahrens äußern, da ihm die Begründung bei Redaktionsschluß schriftlich noch nicht vorlag. Zur Erinnerung: In zwei Schreiben hatte die Generalbundestaatsanwaltschaft den DFN-Verein zur "radikal"-Blockade aufgefordert. Am 11. April hatte sich der DFN e.V. (Deutsches Forschungsnetz) entschieden, den Zugriff auf den Webserver des niederländischen Providers Xs4All zu sperren. In einer Stellungnahme des DFN hieß es, der Verein habe die Überzeugung gewonnen, daß der Inhalt der "radikal" deutschem Recht zuwiderläuft, und eine Sperre technisch möglich ist. In einem Schreiben an den DFN und die Bundesstaatsanwaltschaft hatte dann jedoch der Xs4All-Webmaster Felipe Rodriquez 42 Mirrors aufgelistet, die konsequenterweise ebenfalls gesperrt werden sollten. Am 21. April beendete der DFN die Sperre. Zu viele Mirrors machten die Sperrung unsinnig, lautete die Begründung.

Eine exakte Sperrung der angemahnten URL war damals noch nicht möglich, mehr als 5000 Adressen waren von der DFN-Sperrung und der Sperrung der bei der Providerlobby ECO zusammengeschlossenen Internet-Service-Provider betroffen. Eine unverhältnismäßige Maßnahme, die zu weltweiten Protesten führte. Doch die Niederländer sorgten durch das Verfahren der rollierenden IP-Nummern dafür, daß die Sperrung immer wieder umgangen werden konnte. Zudem hatte Felipe Rodriquez in einem Protestschreiben "Germany censors Xs4All" die Sperrungen bekannt gemacht. Zeitweise spiegelten über 50 Websites die Zeitschrift "radikal" wieder.

Bereits in den letzten Monaten und Wochen ließ sich die Karlsruher Entscheidung erahnen. Freigesprochen wurde die Ex-PDS-Vizevorsitzende Angela Marquardt durch das Landgericht Berlin, die auf ihrer Homepage auf "radikal" einen Link gesetzt hatte. Das Bonner Landgericht stellte das Verfahren gegen den Bad Hennefer Rechtsanwalt Michael Schneider ein, der sich selbst angezeigt hatte. Er hatte ebenfalls auf seiner Homepage im Zusammenhang mit der ECO-Sperrung auf die "radikal"-Seite einen Link gesetzt. Mit der Entscheidung des Generalbundesanwalts ist jetzt der "Fall radikal" endgültig zu den Akten gelegt.

Weitere Telepolis-Berichte zum Fall radikal und Providerverantwortlichkeit:
Freispruch für Marquardt
Staatsanwaltschaft versus Provider, 07.05.97
Kontrollgesellschaft im Nacken, 22.04.97
Multimediagesetze im Regulierungschaos, 15.05.97
Bundestag beschließt Multimediagesetz, 13.06.97
Best of Fotogeschichte zur Debatte zum IuKDG im Bundestag, 19.06.97