Du mußt nicht mitmachen

CASTOR-Transporte stoßen bei Bürgern und Polizei auf Widerstand

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Kein gesellschaftliches Großereignis entzweit Gesellschaft und Staat so wie die alljährlich stattfindenden CASTOR-Transporte. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lehnt die staatliche Atompolitik ab, auch unter den eingesetzten Polizeieinheiten gibt es viele Beamte, die sich mit ihr nicht identifizieren können.

CASTOR-Transporte haben in dieser Republik bereits traurige Tradition. Die alljährlichen Züge zeichnen sich nicht nur durch das chronische Mißverhältnis zwischen Demonstranten und Polizei, durch einen immensen Aufwand steuerlicher Mittel zum Schutz einer privaten Atomwirtschaft, sondern auch durch einen Riß im demokratischen Konsens aus.

Alljährliche Rekorde

Im April 1995 stellten sich beim ersten CASTOR-Transport 2.000 Menschen "quer", 15.000 PolizistInnen wurden eingesetzt. Beim zweiten CASTOR-Transport waren es bereits 6.000 Menschen und 19.000 PolizistInnen. Beide Polizeieinsätze hatten 145 Millionen Mark verschlungen. Im März 1997 rollte der dritte Transport in die Wiederaufbereitungsanlage Gorleben: Bundesweit demonstrierten 30.000 Menschen, 30.000 PolizistInnen wurden zum Einsatz abbestellt. Kosten: 150 Millionen Mark. Auch der vierte CASTOR-Transport wartete wieder mit Superlativen auf. Es war bislang mit achtzehn Waggons der längste CASTOR-Zug, der verbrauchte Brennstäbe aus süddeutschen Atomkraftwerken über 700 Kilometer in norddeutsche Zwischenlager transportierte. Im Vorjahr waren es noch sechs verstrahlte Müllcontainer aus Neckarwestheim, Gundremmingen und La Hague gewesen.

Allein in Nordrhein-Westfalen waren 18.000 PolizistInnen und 3500 BGS-BeamtInnen zur Sicherung der Transportstrecke im Einsatz. Bundesweit wurden 30.000 PolizistInnen eingesetzt. Die geschätzten Kosten belaufen sich auf rund 100 Millionen Mark. NRW-Innenminister Franz-Josef Kniola (SPD) sprach sogar davon, daß die ursprünglich veranschlagten Kosten aufgrund des vorgezogenen Transportstarts um etwa zwei Drittel gesenkt worden seien. Kniola: "Wir haben das Einsatzziel erreicht: Die CASTORen sind im Zwischenlager, und es hat im wesentlichen eine friedliche Auseinandersetzung gegeben."

Deeskalationstaktik und Eskalation auf den letzten Metern

BI-Ticker: 19.3.98 - 12:18:48 CASTOR - ALARM *** CASTOR - ALARM *** CASTOR - ALARM *** CASTOR - ALARM *** CASTOR - ALARM *** CASTOR - ALARM *** CASTOR - ALARM *** CASTOR - ALARM *** CASTOR - ALARM *** CASTOR - ALARM *** CASTOR - ALARM *** CASTOR - ALARM *** Der CASTOR Transport startet am Donnerstag um 16.00 Uhr vom AKW Neckarwestheim Richtung Walheim - In Walheim wird der CASTOR-Zug zusammenstellt - Der CASTOR wird voraussichtlich am Freitagvormittag in Ahaus erwartet - Der Zug rollt über die Südroute (Coesfeld) - Seit 0.00 Uhr wird diese Strecke und das Privatgleis der BZA von Polizei und Bundesgrenzschutz stark überwacht

Entscheidend für die "Kostensenkung" war nach Ansicht des nordrhein-westfälischen Innenministeriums das Einsatzkonzept der Polizei, den Zug überraschend fünf Tage früher fahren zu lassen. Man könne jedoch diesen "Trick" nicht wiederholen, meinte Kniola gegenüber der Nachrichtenagentur dpa.

BI-Ticker: 19.3.98 - 14:31:28 +++ Der CASTOR-Transport ist unterwegs von Gundremmingen nach Walheim +++ Der LKW-Transport vom AKW Neckarwestheim ist zur Zeit noch durch eine Sitzblockade blockiert +++ Zahlreiche Hinweise deuten darauf hin, daß der CASTOR morgen nach Ahaus kommt +++ Die Bahnstrecke von Dortmund nach Ahaus wird für den Personenverkehr gesperrt +++ 14:36:04 +++ HOT NEWS +++ HOT NEWS +++ Der CASTOR rollt +++ Der CASTOR rollt +++ Der CASTOR rollt +++ Der CASTOR rollt +++ Der CASTOR rollt +++ Der CASTOR rollt +++ Der CASTOR rollt +++ Der CASTOR rollt +++ Der CASTOR rollt +++ Der CASTOR rollt +++ Der CASTOR rollt +++ Der CASTOR rollt +++ Der CASTOR rollt +++

Nach über 17-stündiger Fahrt wurde der CASTOR-Zug am Freitagabend Ahaus von über 1.000 Demonstranten mit einem Pfeifkonzert empfangen. Auf der letzten Etappe setzte die Polizei Wasserwerfer und Tränengas ein, um Demonstranten von den Schienen abzudrängen. Die wenigen Demonstranten besetzten in kleinen Gruppen immer wieder neue Gleisabschnitte. Wurde einer geräumt, so wurden die Schienen ein paar hundert Meter weiter wieder besetzt. Die meisten Blockierer ließen sich von den PolizistInnen widerstandslos wegtragen. Falls es doch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, setzten die Blockierer Trillerpfeifen ein, um Unterstützer herbeizupfeifen. Dennoch wurden mehrere Menschen verletzt. Fast 300 Helfer des Deutschen Roten Kreuzes versorgten in zwei Sanitätsstationen 66 Verletzte, die unter anderem Knochenbrüche, Platzwunden und Prellungen hatten.

BI-Ticker, 20.3.98 +++ Das Gleisstück in Legden ist repariert +++ Der Vorzug hat sich wieder in Bewegung gesetzt +++ 17:20:20 +++ Am Schumacherring werden Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt +++ Der CASTOR-Zug steht in Coesfeld 17:02:55 +++ Bei der Sägeaktion der Polizei in Legden ist ein Stück der Schiene aus dem Gleiskörper herausgesägt worden 16:56:14 +++ Die Ankettaktion in Legden wird soeben von der Polizei beendet +++ Inzwischen haben sich am Schumacherring Atomkraftgegner angekettet +++ 16:52:01 +++ Am Schumacherring sind 5 Wasserwerfer und ein Räumpanzer aufgefahren +++ Zwischendurch werden immer mal wieder Demonstranten von den Schienen geräumt +++ Der Vorzug ist in Legden, wo sich 2 Atomkraftgegner angekettet habe, aufgehalten worden +++ CASTOR-Zug ist durch Coesfeld +++ An der Schorlemerstraße sind ebenfalls Wasserwerfer und Räumfahrzeuge aufgefahren +++ 16:47:34

Sprecher von Bürgerinitiativen kritisierten die BeamtInnen: Sie hätten in den letzten Minuten "völlig überreagiert". Vertreter von Polizei und der CDU waren hingegen mit der Ahauser Polizei-Strategie sehr zufrieden. Der CDU-Oppositionsführer im Düsseldorfer Landtag, Helmut Linssen, war froh, daß sich die "Bilder von Gorleben" von vor einem Jahr nicht wiederholt hatten, Polizeiführung und Beamte hätten hervorragend gearbeitet. Verantwortlich für den Einsatz war der Polizeipräsident von Münster, Hubert Wimber, - als einziger deutscher Polizeichef Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Immerhin versprach Innenminister Kniola einsichtig Besserung: "Das ist nicht in Ordnung, das müssen wir nachbereiten."

Diffamierung durch den Verfassungsschutz

Im Wendland organisieren sich seit über zwanzig Jahren - seit dem 22. Februar 1997, an dem Gorleben zum nationalen Entsorgungspark erklärt wurde - Bürger gegen den Atommüll. Der Widerstand zog in viele Berufs- und Interessensgruppen ein, auch bis zu 300 Bauern organisierten sich in der "Bäuerlichen Notgemeinschaft". Mit ihren Treckern und Schleppern wollen sie vor allem ein "eindrucksvolles Bild" dafür abgeben, daß nicht nur die "Chaoten" gegen die Atompolitik agieren.

Genau diesen Eindruck versuchte allerdings der Bundesverfassungsschutz (www.verfassungsschutz.de) mit seinem Bericht "Linksextremistische/militante Bestrebungen im Rahmen der Anti-CASTOR-Kamapgne - Konzepte und Gruppen (Wendland)" zu zerstören. Unter der Überschrift "Gruppen, die Gewalt praktizieren, propagieren bzw. tolerieren" werden neben Autonomen, Ökolinken, der Gruppe "Hau weg den Scheiss", "Autonomen Gruppen", der "Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen", der DKP und der KPD, der Bundestagspartei PDS auch die für ihre Gewaltfreiheit bekannte "Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannberg" (BI) aufgeführt. Im wesentlichen, so stellten die staatlichen Verfassungsschützer fest, werde der Widerstand gegen die Atommüllagerung durch die "nicht-linksextremistische" BI getragen. Die BI hebe einerseits die Gewaltlosigkeit als oberstes Handlungsprinzip hervor, andererseit propagiere sie den "zivilen Ungehorsam":

"Als Handlungen des "Zivilen Ungehorsams" werden u.a. das "Entfernen von Schotter, Herausschrauben von Bolzen oder Zersägen der Schienen" angesehen." - Verfassungsschutzbericht.

Die Bürgerinitiative reagierte prompt und bezeichnete den Bericht als "tendenziös und unglaubwürdig". Das Dossier ziele darauf ab den Widerstand in eine "kriminelle und gewalttätige Ecke" zu drängen. Das Ziel des Verfassungsschutzes: Menschen davon abhalten, sich "dem unerschrockenen und phantasievollen BürgerInnenprotest im Wendland anzuschließen". Fazit der Bürgerinitiative: Man müsse den Verfassungsschutzbericht werten als "Ausdruck großer Verunsicherung staatlicher Stellen, die mit dem gewaltigen aber gewaltfreien Protest im Wendland und der großen bundesweiten Sympathiewelle nicht mehr klar kommen".

Doch die Verunglimpfung der überaus erfolgreichen Bürgerinitiative erfolgte nicht allein durch die Kollage verschiedener Zeitungsberichte und Bekennerschreiben. So reihten sich merkwürdige Ereignisse hintereinander, die bis heute nicht aufgeklärt wurden. So wurden Nachrichtenagenturen mit Informationen versorgt, "militante Autonome" schreckten auch nicht vor "Anschlägen auf atomare Einrichtungen wie Atomkraftwerke etc." zurück. Und dem Vorstandsmitglied der BI, Francis Althoff, wurde Material untergeschoben. Beim Aufräumen in einem Schuppen entdeckte er Schweißutensilien: vier Düsen eines Schweißgerätes, zwei Druckminderer für Sauerstoff und Azetylen und Schlauchstücke. Für die BI ist es eine "offene Frage", wer Interesse daran habe, ihre Mitglieder in einen kriminellen Zusammenhang zu bringen. Ein anonymer Anruf bei der Polizei hätte genügt, um eine Hausdurchsuchung zu veranlassen.

Stadträte und "Strukturhilfen"

Obwohl es im münsterländischen Ahaus und Umgebung keine mit dem Wendland vergleichbare Bürgerinitiative gibt, ist auch hier die große Mehrheit des katholischen 35.000-Einwohner-Städtchens an der holländischen Grenze gegen die Lagerung von Atomschrott vor ihrer Haustür. Dabei hatte der Stadtrat sich von der Betreibergesellschaft für eine frühzeitige Inbetriebnahme des Brennelemente-Zwischenlagers immerhin 49 Millionen Mark zahlen lassen. Und 1993 hatte die Stadt 160 Millionen "Strukturhilfe" - zahlbar in 20 Jahresraten - für den Bau einer weiteren Halle ausgehandelt. Doch jetzt wird es den Ahausern unheimlich. In Vorgärten erinnern gelbe Holzkreuze an den Tag X, die Gelder der Atomlobby können die Angst der Menschen vor dem Strahlenabfall nicht dämmen.

BI-Ticker: Sunday, March 15, 1998 at 20:27:33 (GMT) +++ 6000 demonstrierten in Ahaus gegen den CASTOR-Transport +++ Landwirte aus den Kreisen Borken, Coesfeld und Steinfurt formierten sich mit weit über 300 Traktoren zum längsten Treckerkorso des Münsterlandes und schlossen sich den TeilnehmerInnen des letzten regulären Sonntagspazierganges an +++ vom Ahauser Rathaus aus zog der Demonstrationszug zum Atommüllager in Ahaus-Ammeln und traf mit über zweistündiger Verspätung dort ein +++ Redner forderten den überflüssigen Transport abzusagen und die CASTOR-Behälter an den AKW-Standorten zu lagern +++ über 40 Initiativen, Gruppen und Gewerkschaften hatten aufgerufen +++ Ahaus erlebte damit seine bislang größte Anti-Atom-Demonstration +++

Um ungebetene Demonstrationen in Ahaus bereits im Vorfeld zu verhindern, erließ das NRW-Innenministerium ein Demonstrationsverbot. Vom Verwaltungsgericht in Münster wurde die sogenannte "Kniola-Zone" für rechtmäßig und "nicht unverhältnismäßig" erklärt. Begründung: Sachbeschädigungen und Körperverletzungen seitens der Demonstranten seien nicht auszuschließen. Ebenso untersagten die Richter einen Eilantrag der Bürgerinitiative Ahaus gegen das Verbot des Camps auf ihrer "BI-Wiese" gegenüber der Zwischenlagerstätte. Dennoch versammelten sich am Freitag Hunderte von BürgerInnen, vor allem SchülerInnen, StudentInnen und Mütter mit ihren Kindern im Ahauser Stadtzentrum, um gegen den Transport zu demonstrieren.

Doch die Ahauser standen nicht allein: Die Proteste gegen den CASTOR-Transport liefen bundesweit. Zahlreiche Umweltschutzgruppen und Bürgerinitiativen führten erfolgreich gewaltfreie Protestaktionen entlang der Strecke durch. Auch die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg hatte zu einem "gemeinsamen Frühlingsausflug" nach Ahaus aufgerufen: "Keine Gewalt" war bei Schienenblockaden Motto und Schlachtruf zugleich. Anstatt sich zu vermummen, hatten sich viele Demonstranten bunt geschminkt. "Heute grinsen einige, aber morgen strahlen viele" warnte ein Demonstrant auf einem selbstgemalten Transparent. Die Rock-Band "Die Toten Hosen" gab an der Bahnstrecke ein spontanes Konzert.

BI-Ticker: Tuesday, March 17, 1998 at 09:41:10 (GMT) +++ eine Minute und vier Sekunde benötigten vier Greenpeace-Aktivisten am Montag um das Privatgleis des Atommüllagers für über vier Stunden zu besetzen +++ früh am Morgen hatten sich die Greenpeacer mit einer Stahlkastenkonstruktion am Gleis befestigt und damit gegen den für nächste Woche Mittwoch geplanten Atommülltransport protestiert +++ alle Versuche der Polizei die vier zu entfernen schlugen fehl, so daß sie schließlich selbst das Gleis zerstören mußte und zwei Meter Schienenstrang herausschweißte um dann die Blockierer samt Stahlkasten zur Polizeiwache Ahaus abzutransportieren +++ Applaus gab es zum Abschluß der Aktion von den zahlreichen herbeigeeilten Ahausern +++ NIX-NACH-AHAUS

Kritische PolizistInnen

Kernkraftgegner in Ahaus haben bereits weiteren Widerstand gegen künftige CASTOR-Transporte in Deutschland angekündigt. Die Anti-Atom-Initiativen würden "auch die Einlagerung von CASTOR-Behältern in das Atomlager Greifswald nicht dulden". Die Polizei scheint zumindest etwas aus dem vergangenen Jahr gelernt zu haben. Die Vorverlegung des Transporttermins war Teil der Deeskalationsstrategie, die im Vorjahr mißglückt war. PolizistInnen, die sich von dem Einsatz offen distanzierten, hatte es allerdings nur wenige gegeben. Unter den DemonstrantInnen waren vor allem Polizeieinheiten aus Brandenburg, Berlin und Sachsen-Anhalt aufgrund ihrer brutalen Vorgehensweise aufgefallen. Sie sollten in diesem Jahr nicht mehr eingesetzt werden.

Nach den letzten drei CASTOR-Transporten wurden 151 Ermittlungsverfahren gegen PolizeibeamtInnen eingeleitet. Hauptvorwurf: Körperverletzung im Amt. Bislang kam es zu keinem einzigen Verfahren. Vor allem die "Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten (Hamburger Signal) e.V." (www.members.aol.com/BAGKritPol) hatte als Beobachterin eine Vielzahl von Fehlverhalten aufgelistet und Deeskalationsmöglichkeiten diskutiert, während die Gewerkschaft der Polizei (GdP) die Auffassung vertrat, daß die Beamten autogenes Training und Valium geschluckt hatten, während sich die Wenländer BürgerInnen mit den gewalttätigen Autonomen verbrüderten. In der Ausgabe ihrer Zeitschrift "Unbequem" vom Juni 1997 waren die CASTOR-Transporte Schwerpunktthema. Im Vorwort kritisierte Jürgen Korell die unheilvolle gesellschaftliche Konstellation, die sich durch die Atomtransporte hergeben hatte:

"Tatsache ist und bleibt, daß das wirtschaftliche Interesse eine legal formale Definition erhalten hatte und gegen einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung von der Polizei durchgesetzt wurde, ohne daß von der Polizei überhaupt die Frage eines übergeordneten Rechts gestellt wurde. Besser kann sich die Polizei als Machterhaltungsinstrument nicht darstellen. Letztlich wurde schulterklopfend die Durchsetzung des polizeilichen Ziels als Erfolg gelobt. Daß dabei der gesellschaftliche Konsens verletzt wurde, will die Polizei nicht sehen."

Bereits im Vorfeld hatten sich damals zwei Kritische Polizisten geweigert an dem Einsatz teilzunehmen. Der eine beantragte unbezahlten Urlaub, der andere sagte einfach "Nein". Die Weigerung blieb ohne Folgen. Ein Angehöriger der Hessischen Polizei meinte dazu, daß eine Verweigerung so lange folgenlos bleibe, so lange sie keine größere Tragweite habe bzw. ohne Außenwirkung bleibe. Sprich: Wenn es bei einigen wenigen Aussteigern bleibt, wird Toleranz geübt. Auch wurden im Wendland einige Polizeifahrzeuge gesichtet, die das Flugblatt der Kritischen PolizistInnen "Du mußt nicht mitmachen" in den Fenstern hängen hatten.

Bernward Boden, Kritischer Polizist, 3. CASTOR-Transport: "Danach rede ich mit den Kollegen auf den ihm unterstellten Gruppenwagen. Zunächst Verschlossenheit, Schweigen, vielleicht auch vereinzelt Abwendung. Wer will auch immer diskutieren, denke ich. Vielleicht sind die Kolleginnen und Kollegen ja schon oft angesprochen worden. Deutlich erkenne ich in den glänzenden Augen einiger der dort vor dem Tor stehenden KollegInnen, daß sie den Tränen nahe sind. Keine Aggression gegen die kritischen Polizisten, wie ich sie früher auf einer Dienststelle einmal erlebt habe. Auch kein Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Nicken zu meinen Argumenten, Zustimmung zur Einschätzung der Gefahren, auch Ablehnung des CASTOR-Transportes bei gleichzeitiger Anerkennung der polizeilichen Bewachungsaufgabe. Zwei Seelen in einer Brust. Nicht anders bei mir selber, nur: Ich stehe heute nicht unter einem Befehl, sondern ich bin lediglich - wie täglich - Recht und Gesetz unterworfen. Ich bin nicht verpflichtet, den CASTOR zu schützen, sondern ich darf mich auf den Schutz der Grundrechte allein verpflichtet fühlen. Leben, körperliche Unversehrtheit, Demonstrationsrecht, Anspruch auf Verhältnismäßigkeit der Mittel, Meinungsfreiheit".

Verstrahlung als "Dienstunfall"

Umstritten ist in der Polizei das Maß der Strahlengefährdung und die nötigen Maßnahmen. Polizeikräfte, die die Transporte begleiten, sind immerhin der Strahlengefahr am stärksten ausgesetzt. Die Gewerkschaft der Polizei forderte die Innenminister auf, solange von den Transporten abzusehen, bis man eine sicherere Einschätzung des Gefährdungspotentials vornehmen konnte. Der Vorschlag wurde abgelehnt, die Transporte werden weiterhin durchgeführt. Laut Greenpeace gibt es keine bundeseinheitlichen Vorschriften: Hessische Polizisten tragen Strahlendosimeter, niedersächsische Polizistinnen durften die ersten beiden Transporte nicht begleiten, für den Bundesgrenzschutz existieren überhaupt keine Vorschriften. Nach Informationen der "Junge Gruppe der Gewerkschaft der Polizei" wurden nach dem Atomtransport bei den meisten eingesetzten PolizistInnen Einträge in die Personalakten vorgenommen: später auftretende Gesundheitsschäden wie z.B. Leukämie sollen dann als "Dienstunfall" anerkannt werden.

Im November letzten Jahres riefen die "Kritische Polizistinnen" ihre KollegInnen, die sich in der Nähe des Transports augehalten hatten, auf, sich zu melden. Sie wollen nun ein Strafverfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzung gegen die Verantwortlichen einleiten. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß sich die Geschädigten für die Stellung des Strafantrags überhaupt melden. Hintergrund des Aufrufs: Den "Kritischen Polizistinnen" liegen Informationen von Radiologen vor, nachdem der Kokillenbehälter "TS-28" im vorderen Deckel bzw. Mantelbereich des CASTORs nicht ausreichend gegen den Durchgang von Neutronen-Direktbestrahlung abgeschirmt ist. Dadurch wurden die maximal zulässigen Grenzwerte um das vier- bis zwanzigfache überschritten. Die mitgeführten Dosimeter seien für eine Erfassung der Neutronendosisleistung nicht geeignet gewesen.