Cyberpeace

Manifest für eine Heimat im Cyberspace

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Die Herausforderung von heute ist ein neuartiger Totalitarismus. Bisheriger Höhepunkt: der große Lauschangriff, der in Richtung der Ermächtigungsgesetze Hitlers und Ulbrichts geht. Da dies voraussehbar zum Polizeistaat führt, muß die Polizei vor einer neuen Machtübernahme wie im Dritten Reich geschützt werden.

In der friedvollen Region des Internet muß das Fernmeldegeheimnis gewahrt und die Wohnung vor Überwachung sicher sein. Alle Link-Informationen bei der Wissenssuche müssen nach ihrer Benutzung sofort wieder gelöscht werden, d.h. die Trajektorie des Teilnehmers muß mit Ausnahme von Geldtransaktionen unverfolgbar bleiben. Nur dadurch, daß die gläserne Überwachung verhindert wird, kann dem Totalitarismus die Grundlage entzogen werden. Cyberpeace ist die logische Antwort der Bewohner von Lampsacus - der Heimatstadt des Wissens im Internet - auf die ausufernde Cyberwar-Bewegung von einzelnen Regierungen, die sich etwa auch in Überwachungschips manifestiert.

Friedens- statt Kriegsspiele

Es wird eine befriedete Region im Internet vorgeschlagen, bei der selbst Kriegs- durch Friedensspiele ersetzt werden. Buckminster Fullers Idee eines globalen Spiels bekommt durch die Evolution des Wissens im Internet einen neuen Kontinent zum Eintauchen. Nicht Abtauchen im Sinne von Flucht aus der Verantwortung, sondern Auftauchen in einen geschützten Raum für alle, eine Heimat, wie man sich diese als Kind schon erträumt hat.

Nachdem auf dem Mond Wasser gefunden wurde, gibt es für die Menschheit nicht nur die Option im Rahmen der menschlichen Evolution den Planeten zu verlassen, sondern es gibt eine zweite Option: Das weiße Blatt des World Wide Web, daß Tim Berners-Lee der Menschheit in friedvoller Absicht geschenkt hat, bietet den Menschen die Chance zur Errichtung eines neuen Lebensraumes. Ebenso wie bald auf dem Mond keine Steine geworfen werden dürfen (wegen der Glaskuppel), sollte im Cyberpeace-Valley nur friedvoll interagiert werden.

Eigenverantwortung statt staatlicher Willkür

Cyberpeace ist ein Grundrecht der Menschen, damit Arbeitslosigkeit ohne Diskriminierung überwunden werden kann. Der "Klassengegensatz" der heutigen Zeit ist das Nord-Süd-Gefälle, welches Armut zunehmend durch den Ausschluß von Wissen erzeugt.

Die Wissensgesellschaft macht dieses alte Problem der Sklavenhaltung sichtbar und daher lösbar: Cyberpeace ist die notwendige Zukunftsgarantie für alle. Der lineare Strichcode des gläsernen Menschen kann überwunden und durch die Vielfalt der Nicht-Uniformität ersetzt werden. Dies heißt im Klartext, Menschen werden nicht mehr durch geichmachende Ausbildungsmaschinerien in veraltete Berufe hineingezwängt, sondern zur Selbständigkeit befähigt. Cyberpeace ist deshalb nicht nur eine Region des Friedens, sondern vor allem auch der Eigenverantwortung.

Der Unterschied zwischen einem Polizeistaat und einem Friedensstaat ist der, daß die Teilnehmer im letzteren stets selbst aktiv um die Freiheit und die Würde streiten, während die Verantwortung in ersterem auf den großen Bruder delegiert wird, der dann unschuldige Polizisten zu seinen Handlangern macht.

Festkörper-Voyeurismus

Lauschangriff bedeutet Lauschen am Türgriff und Ofenrohr, was einen hinterhältigen Angriff auf die Würde des Einzelnen darstellt. Welche Äußerung in welchem Zimmer in welchem Zustand mit welcher Strafe belegt werden kann, wird danach durch das erprobte deutsche Verordnungswesen geregelt. Da Kanther, ebenso wie auch die Opposition, die Bedeutung der Telematik für die Überwachung erkannt hat, fordert er den integralen Überwachungschip.

Der Freund und Helfer von nebenan wird zum effizienten Bespitzeler für eine undemokratische Obrigkeit. Wenn der Nachbar gegen Honorarzahlung beim Finanzamt oder beim Verfassungsschutz denunziert werden kann, ist es zu spät. Die Lauscher des Staates werden zu Voyeuren (Bespitzlern) mit stationären Festkörpermikrophonen und mobilen Mauerwanzen, die jeder Wohnung in den Pelz gesetzt werden. Diese unliebsamen Hausbewohner lassen sich im Gegensatz zu natürlichen Insekten (Kakerlaken, Mücken) nicht durch Sprays bekämpfen, sondern nur durch die Wiedereinführung des alten Grundrechts.

Entmächtigung

Ermächtigungsgesetze müssen sofort nach ihrer Einführung erkannt werden, weil sonst das Volk irreversibel entmachtet ist. Die Alternative zur Aufdeckung ist Staatsterrorismus. Die Folge: Alles, was nicht in das System paßt, wird "gesäubert".

Der Polizeistaat ist vielleicht die einzige Maschine vor der man Angst haben muß. Bei derartigen Maschinen gibt es nur eine Regel: Schalte die Maschine aus, bevor sie dich ausschaltet. Dazu bedarf es einer Gegenmacht - im politischen System also einer aufmerksamen und tatkräftigen Opposition. Diese muß bekanntlich jederzeit in der Lage sein, die Regierungsverantwortung zu übernehmen.

Das Problem in Deutschland ist, daß die Opposition sich soeben selbst abgeschafft hat. Um die Demokratie wieder einzuführen, ist deshalb eine neue politische Kraft erforderlich. Die Cyber-Aktivisten können diese neue politische Kraft sein, die eine Gegenmacht zum Orwellschen System bildet und ihre Legitimation aus der von der Verfassung geforderten Oppositionsrolle gewinnt, die von der gleichgeschalteten Opposition jüngst in hochverräterischer Weise aufgegeben wurde. Die Ununterscheidbarkeit der Regierung von der Opposition in lebenswichtigen Frage der Gesellschaft war auch die Ursache für das Ermächtigungsgesetz von 1933. Das Ermächtigungsgesetz von 1998 offenbart, daß es wieder an der Zeit ist, sich die Freiheit neu zu erkämpfen.

Diskussion

Etwa alle 50 Jahre müssen die Menschen erkennen, daß die Freiheit gefährdet wird. Die eigentliche Herausforderung von heute scheint zu sein, die erfolglose deutsche Revolution von 1848 150 Jahre später einzufordern.

Das Ei des Kolumbus für die Überwindung des dritten Ermächtigungsgesetzes ist die Erkenntnis, daß langfristige Innovationszyklen und Basistechnologien dazu neigen, einem diktatorischen Mißbrauch die Hand zu reichen. Deshalb wird alle 50 Jahre ein erneuter Kampf um die Wiederherstellung der Freiheit unausweichlich.

Das Einstein'sche Prinzip der Relativität wirkt auch im politischen Bereich. Dort bedeutet es, daß Freiheit immer relativ zum jeweiligen System mit seinen wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Ausprägungen zu betrachten ist. Die Evolution eines demokratischen Systems kann ebensowenig stehenbleiben, wie die Weiterentwicklung von Unternehmen oder des Einzelnen, sondern diese muß aufgrund der neuen Medien der telematischen Wirklichkeit angepaßt werden. Dies ist eine Nuß, die alle knacken müssen.

Da die Virtuellen Realitäten den Machthabern mehr Kontrolle erlauben, ist im Sinne von Galbraith eine Gegenmacht erforderlich, die der Machtbegrenzung dient. Die Technologie des Rundfunks erlaubte Goebbels die Massenpropaganda und hätte damals von den Menschen in ihrer Mißbrauchsanfälligkeit erkannt werden müssen. Die heutige Ferndatenverarbeitung ermöglicht ebenfalls ein über den Tisch ziehen der Bevölkerung, im Sinne einer neuen Gefügigmachung.

Doch die Rechnung wird ohne den Wirt gemacht. Denn längst haben die Cyber-Demokraten im Internet erkannt, wo der Hase hinläuft. Die Folge der überwachenden Manipulierung ist, daß der Staat sich seiner eigenen Kreativität beraubt, da keiner mehr dem anderen vertraut und jeder im anderen den Wolf im Schafspelz wittert. Das Beispiel der Ausweisung, Inhaftierung und Tötung von unzähligen Menschen, speziell Kindern, im Dritten Reich zeigt, daß kulturelle Vielfalt nicht nachträglich wieder eingeführt werden kann, wenn die maschinelle Säuberung erst einmal in Gang gesetzt wurde. Die Manipulierbarkeit der Körper wird durch die Überwachung operationalisierbar und der Geist wird, wie bei Sklaven üblich, buchstäblich ausgeschaltet.

Solange sich die Gesellschaft im kollektiven Freizeitpark wohl fühlt, so die Annahme der Politiker, ist deren Macht nicht gefährdet. Brot und Spiele sind nach hergebrachter Meinung der Politiker alles, was die Bevölkerung verlangt. Doch diese Annahme trügt.

Es ist gerade die Relativität der Freiheit, die bedingt, daß die Gefahren der Manipulierung erkennbar werden. Freiheit ist deshalb ein Gut, daß sich stets am Rande des Chaos befindet, auf einer Gratwanderung zwischen Totalitarismus und Demokratie. Durch die sich ständigen vollziehenden Wandlungen in den Bereichen der Wirtschaft, der Technik und im sozialen Bereich ist jede Politik aufgefordert, die Freiheit gemäß diesen Veränderungen zu verteidigen. Tut sie dies nicht, verliert sie ihre Legitimation.