E~Commerce als Speerspitze des Wirtschaftsliberalismus

Global Services Network 2000

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Dienstleister aller Länder organisieren sich

Eine von der Privatwirtschaft organisierte Konferenz, die vergangenes Wochenende in Ditchley Park, England, stattgefunden hat, führte zur Gründung von "Global Services Network". Mit Blick auf die im Jahr 2000 beginnende neue Runde der Verhandlungen der WTO (World Trade Organisation) beginnen Dienstleister weltweit schon jetzt mit der Lobbying-Arbeit für weiteren Abbau globaler Handelsschranken.

Man sollte meinen, dass so abstrakt erscheinende Angelegenheiten wie Verträge der Welthandelsorganisationen von geringer Relevanz für den Alltag der Netzentwicklung sind, sowie vice versa. Dass dem nicht so ist, fasste der Vorsitzende der Konferenz, Dr.Jaime Serra, ehemaliger Finanz- und Handelsministers der Republik Mexico, treffend zusammen. Der rapide wachsende E~Commerce, der heute weder durch Handelsbeschränkungen oder Steuern im Wachstum behindert wird, solle auch in Zukunft keinen Regulationen unterliegen, meinte er, und schlußfolgerte, daß davon "ein starker Druck auf weitergehende Liberalisierung auch der nicht-elektronischen Dienstleistungen ausgeübt wird". Der systemimmanente Liberalismus des E~Commerce würde, so Dr. Serra sinngemäß, auch auf analoge Bereiche überschwappen.

Als Dienstleistungen betrachtet werden Finanzdienstleistungen, Transport, Telekommunikation, Ingenieurs- und Entwicklungsarbeit, Buchhaltung und Informationstechnologien. 20% des grenzüberschreitenden Handelsvolumens werden heute durch Dienstleistungen bestritten. 60% der grenzüberschreitenden Direktinvestitionen entfallen auf diesen Sektor.

Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Eingliederung Chinas in die Welthandelsorganisation zu. Wie der Vertreter Hongkongs richtig bemerkte, würde eine Organisation den Titel "Welthandelsorganisation" kaum verdienen, wenn ein Viertel der Erdbevölkerung von ihr ausgeschlossen ist. In den vergangenen Wochen hatten die USA auf China starken Druck ausgeübt, im Gegenzug für den nun beginnenden Prozess der Eingliederung Chinas in die WTO das Land für Finanzdienstleister zu öffnen. Arthur Andersen, J.P.Morgan, Merrill Lynch usw. können nun in der Volksrepublik aktiv werden. Damit halten westliche Standards in Buchführung und Geschäftsberichterstattung in China Einzug. Zugleich beginnt China damit, seine Staatsindustrien zu "modernisieren", wobei dieser Begriff wohl mit Entlassungen und Schliessungen gleichgesetzt werden kann.

Ein anderer Aspekt ist das starke prognostizierte Wachstum der Telekommunikation. 50% der Erdbevölkerung haben bis heute noch nie einen Telefonanruf getätigt oder erhalten, 80% besitzen kein eigenes Telefon. Der Optimismus der Wirtschaftstreibenden über die enormen "Wachstumschancen" in diesem Bereich erscheint wohl mehr als blauägig. Denn es wird sich nicht nur um Desinteresse handeln, das dazu führt, daß die Mehrzahl der Menschheit von den Segnungen der Telekommunikation noch immer ausgeschlossen ist, sondern andere, strukturelle Ursachen in der postkolonialistischen Wirtschaftsweltordnung haben.

Angesichts derartiger Zahlen wird einem wieder einmal die ernüchternde Wahrheit vor Augen geführt, daß das Internet derzeit nicht einmal einem Promille der Weltbevölkerung zur Verfügung steht. Trotzdem verspürten die Vertreter von "Global Service Network" offensichtlich kein Problem dabei, vom "Empowerment" durch E~Commerce zu sprechen. Kleine und mittlere Unternehmen hätten damit die Möglichkeit, kostengünstig global aktiv zu werden. Daß 60% des E~Commerce sich derzeit noch innerhalb der USA abspielt, erscheint dabei von geringer Bedeutung und "werde sich bald ändern".

TINA (There Is No Alternative), das Dogma der Ex-Premierministerin Thatcher, schien unsichtbar über der Veranstaltung zu schweben, nur leicht modifiziert hin zu TISNA (There Is STILL No Alternative).

Abbau von Handelsschranken, Deregulation und Öffnung von Märkten nehmen oberste Priorität in der Agenda der Industriestaaten und ihrer Wirtschaftslobbygruppen ein, da nur so ein vorläufig unbegrenztes Wachstum möglich erscheint. Auf "soziale Nebenkosten" wie etwa Arbeitslosigkeit und Umweltschäden wurde kein Wort verloren. Die Regulierung von Finanzmärkten etwa scheint ein absolutes Tabuthema zu sein.

Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem, daß der Zusammenhang zwischen der Expansion des Internet und der Agenda des Neoliberalismus - wie er in der kritischen Rezeption bisher vor allem der sogenannten WIRED-Ideologie unterstellt wurde - zu einer pragmatischen Alltagsrealität geworden ist und nun nicht mehr bloß von einigen hippen Netzgurus in San Francisco verkündet wird, sondern auch von den grauen Bürokraten im großen Nadelstreiftroß der internationalen Wirtschaftsverhandlungsdelegationen.

Eine URL hat das Global Service Network noch nicht, wird aber u.U. an dieser Stelle nachgeliefert, sobald sich die Herren auf einen Domain Namen geeinigt haben.

Einige Informationen zum Thema, wie z.B. die Agenda der Ditchley Park Konferenz, finden sich unter www.uscsi.org/, der Web-Site des Verbands der US-amerikanischen Service Industrie.