PICS - eine moderne Version der Zensur?

Das technische Konzept eines umstrittenen Kontrollinstruments und seine Auswirkungen auf die Netzwelt.

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"Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus". Wollte man zu den einleitenden Worten aus dem 1847 erschienenen Kommunistischen Manifest einen aktuellen Bezug herstellen wollen, könnte es womöglich bald heißen: "Ein Gespenst geht um im Cyberspace - das Gespenst der Inhaltskontrolle".

Kaum ein anderes System der Inhaltskontrolle bringt derzeit die Emotionen der freiheitsliebenden Netzwelt in Wallung wie PICS (Platform for Internet Content Selection). Zeitgenossen, die um die Sicherheit ihrer Kinder in der Netzwelt besorgt sind, propagieren PICS dagegen als ein geeignetes Instrument, um das Internet kinderfreundlich zu gestalten. Im Fokus der PICS-Protagonisten sind menschenverachtende Webseiten, wie die amerikanischer Neonazis, Bombenbau-Anleitungen oder pornographische Angebote. Einzelfälle wie die, als sich ein 14jähriger Schüler Anfang des Jahres in Kalifornien das Leben nahm - in der Hand 20 Seiten Suizidinformationen aus dem Internet - dienen den Moralaposteln zusätzlich als willkommene Munition im Kampf für ein familienfreundliches Netzwerk.

Unter der Schirmherrschaft des World Wide Web Consortiums (W3C) wurde PICS vor nahezu zwei Jahren entwickelt. Das W3C, das in erster Linie für die Weiterentwicklung der Websprache HTML zuständig ist, favorisiert mit PICS eine globale Bewertungssystem-Infrastruktur, die es dem Surfer ermöglichen soll, Inhalte nach speziellen Bedürfnissen auszuwählen. Die Konzeption von PICS ähnelt der der amerikanischen V-chip-Technologie für TV-Programme. Indem die Programmverantwortlichen jugendgefährdende Sendungen indizieren, können Eltern ihre Ausstrahlung individuell verhindern.

Das Funktionsmuster von PICS ist aber wesentlich komplexer: PICS ist eine Art Oberfläche, auf der verschiedene Schemata eingesetzt und den speziellen Bedürfnissen gemäß konfiguriert werden können. Die zur Zeit populärsten Schemata SafeSurf und das des Recreational Software Advisory Council, RSACi, haben ihren Ursprung in den USA. Der SafeSurf-Standard ist die kommerzielle Variante, während der RSACi-Standard von einer unabhängigen Nonprofit-Organisation entwickelt wurde, die von Multimedia-Giganten wie Disney, CompuServe, IBM, SPA, Dell, AT&T, Microsoft und anderen Sponsoren aus dem Soft- und Hardwarebereich unterstützt wird. Beide Schemata haben eines gemeinsam: Sie konkurrieren um Akzeptanz innerhalb der täglich größer werdenden Online-Welt. Die beiden Marktführer auf dem Browser-Markt, Netscape und Microsoft, wollen bei dieser Entwicklung nicht außen vor stehen und statten ihre neusten Versionen PICS-kompatibel aus.

Bei einem Vergleich des SafeSurf- mit dem RSACi-Schema wird deutlich, daß das RSACi-Schema ursprünglich für Videospiele entwickelt wurde, da die Bewertungskriterien sehr eng gefaßt wurden. Der Benutzer hat dort nur die vier Kategorien, Gewalt, Nacktheit, Sex und (Fäkal-)Sprache zur Auswahl und kann diese in eine Skala mit fünf verschiedenen Graden einteilen - je nachdem, wieviel Gewalt oder Sex er für verträglich hält. Die Bewertungen einer bestimmten Webseite werden im Quelltext, einem sogenannten Metatag, untergebracht. Wenn der Internetsurfer eine Seite anfordert, verifiziert der Browser, ob die Klassifizierungen der Metatags mit den vom Benutzer gewünschten Kriterien übereinstimmen. Hat er beispielsweise für die Rubrik "Sex" den Wert "0" eingegeben, sperrt der Browser alle Webseiten, die sexuell anstößig sind - vorausgesetzt die Seite unterstützt das RSACi-Schema. Unregistrierte Webseiten werden ohnehin ausgeblendet. Wird der höchste Wert, also "4" eingegeben, können auch explizit pornographische Webseiten abgerufen werden.

Das Bewertungsschema von SafeSurf ist zwar ähnlich konzipiert, läßt aber differenziertere Klassifizierungsmerkmale zu. Neben den üblichen Kategorien lassen sich auch Seiten, die kommerzielle Glücksspiele, rassistisches Gedankengut, religiöse Intoleranzen u.a. beinhalten, indizieren. Hat der Benutzer seine Bewertungskriterien im Browser festgelegt, können sie bei beiden Schemata nur durch ein Passwort geändert werden.

Gute Gründe für die PICS-Implementierung, sind rar gesät. Für PICS spricht die Durchsetzung des Jugendschutzes im Cyberspace, die im Gegensatz zu der gängigen und fehlerhaften Filtersoftware wie Cyber Patrol möglich gemacht wird. Zudem würden die individuellen Konfigurationsmöglichkeiten seitens des Benutzers einer staatlichen Zensur die Berechtigung nehmen. Mit dem selbstbestimmten Maß an Eigenzensur bliebe die Freiheit des Internet gewahrt, zumindest in den Augen der Erwachsenen, da sie ja auf PICS verzichten könnten.

Was aber den im Internet vertretenen Free-Speech-Initiativen zunehmend Kopfschmerzen bereitet, ist die Frage der Zuständigkeit bei der Kenntlichmachung von Webseiten. In den USA bewertet der Webmaster noch selbst oder sein Zugangsanbieter die eingespeiste Seite. Das hat aber einen entscheidenden Haken: Da dem Webmaster keine rechtlichen Konsequenzen drohen, wenn er eine pornographische Seite als jugendfrei klassifiziert, gibt es weltweit Bestrebungen, Kontrollgremien zu schaffen, die verbindliche Klassifizierungsmerkmale für PICS determinieren sollen. Free-Speech-Initiativen, wie die Electronic Frontier Foundation und Netfreedom, befürchten, daß dann auch Internetseiten politischer Extremisten oder Oppositioneller gesperrt werden könnten. Schließlich wäre es für ein mit Regierungsmitgliedern besetztes Kontrollgremium ein leichtes, willkürlich unliebsame Inhalte zu indizieren und durch Proxy-Server bereits im Vorfeld sperren zu lassen.

Da PICS nicht den inhaltlichen Kontext einer Seite erfassen kann, wäre es auch möglich, daß selbst unbedenkliche Internetinhalte gesperrt würden. Da das RSACi-Schema keinen Unterschied zwischen Kunst oder Literatur und profanen Inhalten zuläßt, könnten selbst Online-Romane, -Büchereien, -Kunstmuseen und andere seriöse Quellen als jugendgefährdend klassifiziert werden. Im Cyberspace abgelegte Romane von Charles Bukowsky oder Skulpturen von Michel Angelo wären dann nur noch für Erwachsene zugänglich, wie der britische Cyberrechtsaktivist Yaman Akdeniz kritisiert.

Ein weiteres Problem könnte mit PICS auf die Onlinewelt zukommen und die ohnehin schon strapazierte Freiheit im Internet auf ein Mindestmaß reduzieren: Heute kann der Internetsurfer noch selbst bestimmen, ob er ein Rating-System in Anspruch nehmen möchte oder nicht. Populäre Suchmaschinen wie Lycos oder Yahoo kündigten aber an, bald nur noch PICS-registrierte Angebote zu verzeichnen. Damit wären Webmaster, die ihre Seiten einer möglichst großen Zahl von Surfern zugänglich machen wollen, gezwungen, die Inhalte schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb PICS-kompatibel und möglichst jugendfrei zu gestalten. Die Gegner warnen immer dringlicher vor den Gefahren dieser neuen Technologie. Der Internet-Experte Simson Garfinkel nennt PICS gar "die effektivste globale Zensurtechnik aller Zeiten". Da die Zensur nicht mehr von der Staatsgewalt ausgeht, erscheine es als natürlicher Vorgang, wenn bestimmte Internetinhalte verschwinden.

Es gilt also sorgfältig abzuwägen zwischen den berechtigten Interessen besorgter Eltern und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das dabei leicht auf der Strecke bleiben könnte. Bislang allerdings ist der Einfluß von PICS auf die Netzwelt noch beschränkt. Anfang 1998 waren weltweit erst 65.000 Seiten nach dem PICS-Standard erfaßt, also nur ein Bruchteil der Millionen Webseiten. Monatlich kommen zwar 5.000 neue Seiten hinzu, aber diese Zuwachsraten entsprechen natürlich nicht dem allgemeinen Web-Wachstum.

Nichtsdestotrotz könnte der Stellenwert von PICS in absehbarer Zeit noch um einiges wachsen, da viele Regierungen in diesem Instrument die zentrale Lösung für ein keimfreies und sicheres Medium sehen. Auf Anfrage äußerte ein Sprecher des Bundesforschungsministeriums, daß in Deutschland zwar keine zentralen Standards vorgegeben werden, da ganz auf die freiwillige Selbstkontrolle der Multimediabranche gesetzt wird. Dennoch wird PICS begrüßt, um dem Bestreben nach einem kinderfreundlichen Netzwerk näher zu kommen. Wenn jedoch die EU-Kommission ihre Absicht, PICS europaweit zu implementieren, durchsetzt, müßte auch Deutschland nachziehen.

Während in den USA der Provider CompuServe die Implementierung von PICS seit 1996 fördert, entdeckten die deutschen Provider das Kontrollsystem erst relativ spät. Jörg Lammers, Pressesprecher von T-Online, will sich aber nicht länger nachsagen lassen, die Entwicklung verschlafen zu haben. Daher wird Europas größter Internet-Provider seinen Kunden demnächst PICS-fähige Browser zur Verfügung stellen. T-Online verspricht sich davon eine Signalwirkung für die ganze Branche. Dagegen scheint AOL noch keinen Handlungsbedarf zu sehen. So wußte zwar ein Redakteur der technischen Administration mit dem Begriff PICS erst gar nichts anzufangen, versicherte aber, daß innerhalb AOLs alles "klinisch rein" sei - "ganz im Gegensatz zum Internet".