Schonung der Tiere, Euthanasie für schwer behinderte Kinder?

Peter Singer oder die tabuisierte Diskussion über Leben und Tod.

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Peter Singer, der die Tötung von schwerstbehinderten Babys befürwortet, wurde wieder einmal in Deutschland wegen angekündigter Proteste von einer Veranstaltung ausgeladen. Manche wollen die Diskussion seiner Thesen verhindern.

Peter Singer ist ein Philosoph, der sich mit Bioethik beschäftigt. Er lehrt, was man heutzutage durch die wachsenden technischen Möglichkeiten immer mehr benötigt, nämlich praktische Philosophie, d.h. es geht ihm um die Anwendung einer philosophisch begründeten Ethik oder Moral auf praktische Probleme, mit denen wir alle konfrontiert sind und die auch rechtlich geregelt werden müssen.

Wen etwa schließt der in der Verfassung garantierte Grundsatz der Gleichheit ein? Wie sollen wir uns gegenüber Minderheiten und Fremden verhalten? Darf man abtreiben oder Sterbehilfe leisten? Sollte ein Leben unter allen Umständen verlängert werden? Haben reiche Menschen und Gesellschaften Verpflichtungen gegen Arme? Wie sollen wir uns gegenüber Tieren verhalten? Dürfen wir sie töten, unter "tierunwürdigen" Bedingungen halten oder sie für Experimente quälen? Müssen wir die Umwelt schützen?

Peter Singer ist ein rationalistischer Philosoph aus der angloamerikanischen Tradition der Utilitaristen. Der von Bentham und Mill begründete Utilitarismus versucht nicht, aus abstrakten Prinzipien Maximen des moralischen Verhaltens abzuleiten, sondern er beurteilt eine Handlung dann als moralisch richtig oder gerechtfertigt, wenn sie ebensoviel oder mehr Glück für alle Beteiligten bewirkt, und als falsch, wenn sie das nicht tut. Die ethische Beurteilung wird also aus dem Ergebnis einer Handlung abgeleitet - weswegen man eine solche Ethik auch Konsequentialismus nennt - und nicht aus einer moralischen Gesinnung oder irgendwelchen vorausgesetzten und unantastbaren Prinzipien, wobei der Geltungsumfang - "für alle Beteiligten" - bereits einschließt, daß Moral nicht allein auf besondere Interessengruppen oder gar einzelne beschränkt werden darf. Es gilt das Prinzip der "gleichen Interessenabwägung", also daß unabhängig davon, wessen Interesse es ist, die Gleichheit garantiert ist.

Singer unterscheidet seine Position insofern vom klassischen Utilitarismus, als er von den "besten Konsequenzen für alle Betroffenen" ausgeht, und damit das antizipierte Ergebnis einer Handlung meint, die die Interessen im Gesamten - nicht bezogen auf einen einzelnen - fördert, was darüber hinausgeht, lediglich für alle "Lust" zu vermehren und "Unlust" zu vermeiden. Sein Denken ist also gewissermaßen kühl, fast betriebswirtschaftlich, streng rational argumentierend und pragmatisch. Es erkennt keine Unbedingtheiten, keine "heiligen" Prinzipien an, aber es dringt auf eine universale und in sich stimmige Ethik.

Warum also gibt es Probleme mit ihm? Sie rühren vor allem daher, daß Singer die Meinung vertritt, auch schwerstbehinderte Neugeborene dürften unter strengen Einschränkungen zu ihrem eigenen Wohl getötet werden.

Diese Aufhebung des Tötungsverbotes wird durch die Infragestellung des Unterschieds zwischen einer passiven und aktiven Tötung begründet, denn vom Standpunkt des Konsequentialismus sind die Folgen der Einstellung von lebensverlängernden Maßnahmen und die einer schmerzlosen Tötung dieselben. Infragegestellt wird durch seinen Ansatz auch, warum es erlaubt sein soll, Föten bis kurz vor der Geburt abzutreiben , wenn sich eine schwere Behinderung etwa durch einen Gentest nachweisen läßt, und warum es verboten ist, Neugeborene zu töten, die entweder als Frühgeburt oder bis zu einem Lebensalter von einem Monat sich nicht von Föten unterscheiden.

Wenn man Abtreibung befürwortet, dann wird für ihn die Grenzziehung zwischen Fötus und Neugeborenem willkürlich. Deswegen will Singer nur das personale Leben als heilig anerkennen, was aber dann auch Folgen für die Rechte von Tieren hat (vergleiche hierzu das Buch von Peter Singer "Befreiung der Tiere").

Dem Leben eines Wesens bloß deshalb den Vorzug zu geben, weil das Lebewesen unserer Spezies angehört, würde uns in dieselbe Position bringen wie die Rassisten, die denen den Vorzug geben, die zu ihrer Rasse gehören.

Peter Singer

Das "Lebensrecht" allerdings nur einem Wesen zuzugestehen, das "ein gewisses Bewußtsein seiner selbst als eines in der Zeit existierendes Wesens oder eines kontinuierlichen geistigen Selbst besitzt", mag zwar höhere Tiere besser schützen, aber weicht wohl das Tötungsverbot gegenüber Menschen zu stark auf, zumal die Bestimmung, was personales Leben ist und wann ein Lebewesen kein personales Leben mehr oder noch keines besitzt, höchst problematisch ist.

Singer redet nirgendwo einer allgemeinen Euthanasie das Wort. Für ihn soll sie nur dann möglich sein, wenn die Eltern zusammen mit einem beratenden Arzt zu dem Konsens kommen, daß das Leben des Neugeborenen so elend, eingeschränkt, ohne minimale Befriedigungen verlaufen würde, daß es unmenschlich und grausam wäre, es zu verlängern. Er betont aber gleichzeitig, daß damit Behinderte nicht als lebensunwertes Leben gelten.

Obwohl ich meine, daß ein Leben unter Umständen von Beginn an so sehr ruiniert sein kann, daß es besser nicht verlängert werden sollte, glaube ich gleichwohl, daß, sobald man einem Leben eine Entwicklungsmöglichkeit gewährt hat, in jedem Fall alles getan werden sollte, dieses Leben so befriedigend und reich wie nur möglich zu gestalten.

Peter Singer

Eine andere Position wäre auch aus dem Prinzip der gleichen Interessensabwägung aus seiner Perspektive gar nicht vertretbar. Problematisch wird dies wieder dann, wenn kein "personales Leben" mehr vorliegt, also etwa bei Menschen, deren Gehirn durch Unfall oder Alter unheilbar so geschädigt ist, daß sie nicht mehr imstande sind, zwischen Leben und Tod zu wählen. Singer neigt auch hier dazu, eine nichtfreiwillige Euthanasie zu gestatten.

Abgeleitet wird die Tötungsmöglichkeit , basierend auf dem Vergleich des "Werts" verschiedener menschlicher und nicht-menschlicher Lebensformen, von ihm daraus, daß Neugeborene keine menschliche Personen seien, da sie noch kein Bewußtsein von sich selbst und ihrer Zukunft haben. Ein Fötus, ein schwerst geistig behindertes, ein neu geborenes Kind und viele Tiere sind in diesem Sinne keine Personen - und einzig personales Leben hat für Singer ein Recht auf Leben, während nur empfindungsfähiges Leben lediglich ein Anrecht darauf hat, daß man seine Interessen wahrt und die Zufügung von Leid vermeidet.

Eine besondere Schärfe erhält dieses Argument, weil Singer die "Heiligkeit des menschlichen Lebens" nicht als allgemeinen Grundsatz akzeptiert, da ein solcher Anthropozentrismus im Widerspruch zu einer universalistischen Moral steht, in der partikulare Interessen eines Individuums, einer Gruppe, einer Rasse oder eben auch einer Gattung nicht von vorneherein die anderer Lebewesen hintansetzen dürfen. "Heiligkeit" oder Unantastbarkeit kann für ihn einzig "personales Leben" beanspruchen. Wenn Tiere wie Primaten oder Wale aber die Bedingungen für personales Leben erfüllen, sie Bewußtsein, Selbstbewußtsein, intentionale Interessen und Zukunftserwartung beispielsweise im Sinne vorausschauender Planung besitzen, dann sind sie nicht nur Personen, die denselben "Wert oder Schutzanspruch" wie Menschen haben, sondern dann sind auch Föten, schwerst geistig Behinderte, Neugeborene oder Menschen, deren Gehirn unheilbar geschädigt ist und die im Koma liegen, keine Personen im vollem Sinn (um letztere geht es derzeit bei der Diskussion um die Einführung des Teilhirntodes , wobei die Befürworter ähnlich wie Singer argumentieren, daß Menschen, die durch irreversible Beschädigung höherer Hirnfunktionen keine Personen mehr sind, sondern nur noch "Fleisch", das technisch am Leben gehalten wird, bereits tot seien und daher durch Abkopplung auch getötet werden dürfen).

Ich schlage daher vor, dem Leben eines Fötus keinen größeren Wert zuzubilligen als dem Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einer ähnlichen Stufe der Rationalität, des Selbstbewußtseins, der Bewußtheit, der Empfindungsfähigkeit usw. Da kein Fötus eine Person ist, hat kein Fötus denselben Anspruch auf Leben wie eine Person.

Peter Singer

Daraus leitet Singer, worauf meist nicht von den Kritikern eingegangen wird, auch ab, daß aus der Zugehörigkeit eines Wesens zur menschlichen Gattung gegenüber einem Wesen aus einer anderen Gattung, aber mit einem vergleichbaren geistigen Niveau kein Anspruch auf bessere Behandlung abgeleitet werden könne. Der Tötungsschutz sollte deswegen für ihn zumindest auf geistig hochstehende Säugetiere wie Primaten, vielleicht auch auf Wale, Hunde, Bären oder Schweine ausgedehnt werden. Interessant wäre freilich, ob sich dieses Recht auf Leben auch auf vielleicht künftig mögliche intelligente Roboter, Computer oder Software-Leben erstrecken sollte, auch wenn sie nicht in gleichem Maße empfindungsfähig wären, was Singer als Voraussetzung hält, um von Interessen überhaupt zu sprechen.

Aus all dem wird abgeleitet, daß Singer Schwerstbehinderten das Recht auf Leben abspreche und es als lebensunwert bezeichne, daß seine Argumentation, die die "Heiligkeit des menschlichen Lebens" durch die des personalen Lebens ersetzt, eine Bresche für eine Euthanasie öffne, wie sie auch die Faschisten praktiziert haben. Wenn etwa der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese, der den Antrag beim Außenministerium gestellt hat, Singer die Einreise nach Deutschland zu verbieten, kürzlich sagte, daß die Aussage, Neugeborene hätten kein Recht auf Leben, gar nicht erst zur Diskussion stehen dürfe, weil sie das wichtigste Grundrecht unserer Verfassung ("Die Menschenwürde ist unantastbar") verletze, dann hat er mit letzterem sicher recht, auch wenn Singer damit nicht meint, was sich aus einem auf Tiere übertragenen Gleichheitsprinzip besonders deutlich sehen läßt, daß dies zu einer Beliebigkeit des Umgangs mit der Entscheidung über Leben und Tod führt.

Aber eine Diskussion darüber zu verhindern, wäre gleichbedeutend mit dem Verbot, etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung und dessen Implikation zu diskutieren. Das kann nicht im Sinne einer Demokratie sein, zumal auch hierzulande Eltern und Ärzte immer wieder vor dem Problem stehen, ob sie ein Leben, das zu großen Leiden führt oder das ohne jedes Bewußtsein nur noch von Apparaten abhängt, mit allen Mitteln und gegen ihr eigenes Gewissen verlängern müssen, um nicht einer Tötung bezichtigt zu werden.

Der Heidelberger Kongreß stellte sich das Thema "Fundamentalismus und Beliebigkeit". Die Ohren zu verschließen, Probleme nicht zur Kenntnis zu nehmen, Tabus aufzurichten und Menschen zu verteufeln, ist tatsächlich Ausdruck eines Fundamentalismus, den wir nicht unterstützen sollten, gerade weil wir Deutsche eine so schreckliche Vergangenheit mit einer staatlich verordneten Euthanasie im Rücken haben.

Billig zu erwerben ist die Praktische Ethik von Peter Singer, die beim Reclam Verlag 1994 in der 2. und erweiterten Auflage (487 Seiten, DM 18.-) erschienen ist und die grundlegenden Ansichten und Argumentationen dieses Philosophen enthält.

Eine breit angelegte, die vielen Facetten des Themas ausführlich behandelnde Analyse hat der Rechtsphilosoph Richard Dworkin in seinem Buch Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit (Rowohlt Verlag 1994, 374 Seiten) vorgelegt.

Zur weiterführenden Lektüre empfohlen sei der von Johannes Hoff und Jürgen in der Schmitten herausgegebene Band Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium. (412 Seiten. rororo science 1995.)