Gerüchte - Das älteste Massenmedium

Bemerkungen zu Jean-Noel Kapferers Buch "Gerüchte" (Gustav Kiepenheuer Verlag, 1996)

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Verschwörungen, geheime Botschaften, seltsame Ereignisse, unheimliche Gefahren, Details aus dem Leben anderer Menschen - das ist die Welt der Gerüchte. Jean-Noel Kapferer untersucht die soziale Bedeutung und das Wirken von Gerüchten, aber ganz überzeugend wirkt seine Theorie nicht. Sind in einer Mediengesellschaft nicht die meisten Nachrichten und Informationen Gerüchte? Und ist das Internet eine Wiederkehr des "ältesten Massenmediums"?

Gerüchte durchziehen die Gesellschaft und prägen die soziale Wirklichkeit. Durch sie und um sie herum bilden sich Gruppen, die sie weitergeben, aufbauen und verändern. Sie füllen die Löcher der Kommunikation, sichern den sozialen Zusammenhalt, die Abgrenzung zu den anderen und zur Macht, verleihen dem Unbekannten, Unverständlichen und Geheimnisvollen Sinn. Gerüchte können in die Wirklichkeit eingreifen, zur Ausgrenzung oder Stilisierung einzelner, zum Sturz von Politikern, zu geschäftlichen Einbußen, zum Beginn von Bewegungen, zur Ursache von Revolten, zu Anläßen von Pogromen und manchmal auch zu Kriegen führen, wenn sie über eine lokale Ausbreitung hinausgehen und eine ganze Gesellschaft erfassen.

Gerüchte werden gelegentlich inszeniert, meist aber verbreiten sie sich unkontrolliert. Nichts verführt die öffentliche Meinung von Gruppen oder sozialen Verbänden mehr als Gerüchte, die ein Geheimnis weitergeben, ein Ereignis deuten, Merkwürdigkeiten berichten oder künftige Geschehnisse voraussagen. Gerüchte lassen sich nur schwer unterdrücken oder verhindern. Meist ist ihre Lebenszeit nur kurz. Sie wallen auf, breiten sich wie ein Lauffeuer aus und versiegen, denn ihr Gegenstand ist die unbedingte Aktualität. Das verbindet sie zutiefst mit den Massenmedien, die gleichfalls die kollektive Aufmerksamkeit ansprechen und stets für neue und auffällige Meldungen sorgen müssen. Hier spricht man allerdings oft von Informationen oder von Falschmeldungen, nicht von Gerüchten, als würde die auf große Gruppen ausgerichtete Aufmerksamkeit der Medien, die wiederum die der einzelnen Menschen zu provozieren sucht, von ganz anderen Gesetzen regiert werden.

Allein schon die Institutionalisierung, die ein Medium mit sich bringt, scheint dem anarchischen und wilden Charakter der Gerüchte zuwiderzulaufen. Trotzdem tut man sich schwer, Gerüchte von Informationen zu unterscheiden, denn diese erhält man wie jene durch irgendwelche Gewährsleute oder Kontexte, denen man vertraut, ohne selbst ihre Wahrheit beweisen oder nachprüfen zu können.

Der Wirtschaftswissenschaftler Jean-Noel Kapferer, der zugleich der Vorsitzende einer "Stiftung zur Untersuchung und Aufklärung von Gerüchten" ist, präsentiert in seinem Buch nicht nur eine Fülle von Gerüchten, sondern glaubt auch demonstrieren zu können, daß sie einer "zwingenden Logik" folgen, deren "Mechanismen sich im einzelnen analysieren lassen."

Als eine Phänomenologie der Gerüchte, die Inhalte, Entstehung, Verbreitung, Bekämpfung oder Benutzung von Gerüchten erörtert, ist sein Buch spannend zu lesen, zerstört es manche Vorurteile und deckt einige Schemata auf, die sich immer wieder finden lassen und so gewissermaßen Archetypen darstellen. Entworfen wird eine Typologie der Gerüchte und ihr Wirken in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie in Betrieben, in der Politik oder bei Finanzgeschäften untersucht. An der Börse etwa müssen Entscheidungen sekundenschnell getroffen werden. Daher ist man hier besonders auf einen frühen Zugang zu Informationen angewiesen und hat wenig Zeit, diese zu überprüfen und andere zu fragen. Besonders interessiert ist der Wissenschaftler an Strategien, wie man Gerüchte vermeidet, denn bekanntlich werden sie von Dementis oft nicht zerstört, sondern weiter am Leben erhalten.

Religion sei das schönste Beispiel für ein Gerücht, weil sie auf Glauben und nicht auf Beweisen beruhe. Paradigmatisch verkörpern Religionen die weltanschauliche Funktion der Gerüchte, die Welt durch eine zusammenhängende Ordnung zu verstehen, die Dunkles, Unerklärbares und Zufälliges eliminiert. Gerüchte unterstellen gerne eine verborgene Ordnung hinter der Oberfläche des Erkennbaren. Heute allerdings haben die heiligen Erzählungen und Legenden einen neuen Inhalt, wenn sie sich auf die soziale und lokale Wirklichkeit beziehen und vom "Freund eines Freundes" stammen. Solche Gerüchte nennt man "urban legends". Dabei geht es beispielsweise um die Alligatoren, die angeblich in der Kanalisation von New York leben und gedeihen sollen, um ein in einem Supermarkt von einer Schlange gebissenes Kind oder um Geschichten der Art, daß jemand aus dem Urlaub in einem tropischen Land zurückkehrt und auf seinem Gesicht eine schwarze Warze wächst, aus der dann Hunderte von kleinen Spinnen ausschlüpfen. Solche "städtischen Legenden" handeln von gewöhnlichen Leuten in der alltäglichen Lebenswelt, denen vor kurzem etwas Merkwürdiges zugestoßen ist, oder von lokalen Ereignissen. Kampferer nennt sie "exemplarische Geschichten", die für eine Gruppe eine bestimmte Funktion besitzen, sie beispielsweise vor Gefahren warnen.

Gerücht und Information

Als das "älteste Massenmedium" sei das Gerücht allerdings noch wenig untersucht, obgleich seine gesellschaftliche Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Aber schon die Klärung des Begriffs führt auf ein Minenfeld, denn Kapferer macht es sich nicht so einfach, Gerüchte nur als "falsche" Informationen zu definieren, die sich nachträglich als unbegründet herausgestellt haben. Schließlich können Gerüchte in ihrem Wahrheitsgehalt später bestätigt werden und bei ihrem Erscheinen dennoch nur Vermutungen oder wilde Spekulationen sein. Aus der Innenperspektive desjenigen, der Gerüchte glaubt, ist an ihnen etwas dran, sieht dieser eine zirkulierende Erzählung gar nicht als Gerücht an, sondern als Information - aus Kanälen, die nicht offizieller Art sind und gerade deswegen vertrauenswürdiger sein können. "Information" ist für eine Gruppe schlichtweg das, so Kapferer, was sie für wahr hält oder was sie glauben möchte, und "Gerücht", was sie für falsch hält. Es geht also um Wirklichkeitsbeschreibungen und Herkünfte von Informationen, die je nach Individuum oder Gruppe differieren können.

Wie aber ließe sich überhaupt ein Gerücht von einer Information unterscheiden? Fast das gesamte soziale Leben beruht darauf, daß wir anderen vertrauen und manchen "Sendern" die Aufgabe zuweisen, für uns den Wahrheitswert zu überprüfen oder überprüft zu haben. Und je mehr wir in einer globalen Welt leben und unsere Informationen aus Medien oder von Spezialisten in einem Fach beziehen, desto weniger wissen wir konkret und desto mehr müssen wir uns auf die anderen und/oder auf die richtige Einschätzung von "seriösen" Quellen und glaubwürdigen Kontexten verlassen.

"Offiziell" verkündete Informationen wollen zwar einerseits Gerüchte vermeiden, sind aber andererseits nicht unbedingt vertrauenswürdiger, sondern oft genug Ausdruck einer Strategie, mit der man die Öffentlichkeit zu beeinflussen sucht. Politik ist unter den Bedingungen einer medialen Öffentlichkeit vor allem damit beschäftigt, vor Entscheidungen möglichen Gerüchten entgegenzutreten, die getroffenen gegenüber Unterstellungen oder "Mißdeutungen" zu verteidigen oder die Personen zu inszenieren. Und selbst wissenschaftliche Befunde, die unter dem Anspruch der Wahrheit auftreten, können später widerlegt werden oder sich als Halbwahrheiten erweisen.

Das meiste, was wir wissen, wissen wir gar nicht, sondern haben es nur gehört, gelesen oder gesehen. Ist also fast unsere gesamte Welt aus Gerüchten gestrickt, denn überdies selektieren wir gemäß unserer Aufmerksamkeitsstrukturen das, was wir aufnehmen oder ignorieren, was wir glauben oder ablehnen?

Je weniger unsere Gesellschaften lesen, desto mehr stützen sie sich auf Bild und Wort, auf das, was unsere Augen sehen, und auf das, was man uns gesagt hat. das Gerücht schleicht sich nunmehr in diesen beiden Wahrnehmungsformen unserer Umwelt ein.

Jean-Noel Kapferer

Um die Aufblähung des Begriffs zu vermeiden, vertieft Kapferer wie viele andere nicht die Unterscheidung zwischen wahrheitsgemäßer Information und Gerücht, sondern wendet sich einer anderen Definition zu, die freilich nicht weniger problematisch ist. Gerücht sei, so Kapferer, "das Auftauchen und die Verbreitung von Informationen im gesellschaftlichen Organismus, die entweder von offiziellen Quellen noch ncht öffentlich bestätigt sind oder von diesen dementiert werden." Obgleich er selbst hin und wieder auf Gerüchte in Massenmedien hinweist und sie mit Nachrichten gleichsetzt, die den Bedingungen der Aufmerksamkeitsattraktion sowohl im mündlichen Gespräch wie in der medialen Darstellung unterworfen sind, will er sie als "nichtoffizielle Information", also als eine Information, die gegen die gesellschaftlichen Autorität verbreitet wird, auf die "mündliche Übermittlung" oder auf "Flugschriften" beschränken. In den großen Kanälen und Medien gibt es so qua Definition keine Gerüchte, da sie die Informationen selektieren und gebündelt ausstrahlen, als technische und weitreichende Massenmedien offenbar "Autorität" besitzen, während Gerüchte als eine Art Gegenmacht von Mensch zu Mensch weitergegeben werden und nicht "objektiv" reproduzierbar sind, sie also nicht gespeichert und archiviert werden können. Dringen Gerüchte in die Medien ein oder werden sie dort lanciert, ohne auf "offizielle oder anerkannte Quellen" zu verweisen, so werden sie "informatisiert" (d.h. in ihrer Glaubwürdigkeit verstärkt) und sind als "medienvermittelte" nicht mehr "rein" - sie werden zu einem "Irrtum" oder einer "Falschinformation".

Anhand des Golfkrieges argumentiert Kapferer allerdings anders, wenn er sagt, daß gerade die 24stündige Abdeckung durch Medien zu einer erhöhten Zahl von Gerüchten geführt habe. Medien wurden, da alle Informationen vom Ort des Geschehens der Zensur unterworfen wurden, gezielt als Propagandamittel eingesetzt, deren Gerüchte durch die Bilder in einem glaubwürdigeren Licht erschienen. Die trotz medialer Dauerpräsenz von der "Wirklichkeit" abgeschirmte Bevölkerung gierte nach Informationen, und die Medien versuchten, diese Gier bestmöglichst durch irgendwelche "Nachrichten" über die Greueltaten und die Stärke des Feindes zu befriedigen, da die "offiziellen" Informationen als unzureichend empfunden wurden. Wenn auch der Golfkrieg wegen der Zensur besonderen Bedingungen der Bereichterstattung unterworfen war, so ist die Verbreitung von Gerüchten, wenn glaubwürdige Informationen fehlen, doch gerade das, was Medien machen müssen, um sie auf dem Markt der Aufmerksamkeit verkaufen zu können.

Die Definition von Gerüchten als mündlichen Botschaften und die Abgrenzung von den Massenmedien wirkt hilflos. Sie dient dazu, bestimmte Ausgrenzungen vorzunehmen, aber sie vermag nicht zu überzeugen. Ganze Sektoren der Massenmedien beruhen direkt auf dem bewußten Aufkochen, Lancieren und Verbreiten von Gerüchten. Überdies nähern wir uns dem Ende des Zeitalters der Massenmedien und erreichen vielleicht mit den Computernetzen bald wieder einen Zustand, der dem gleicht, von dem Kapferer ausgeht.

Bevor es die Schrift gab, verfügten die Gesellschaften nur über den einzigen Kommunikationskanal der mündlichen Mitteilung. Das Gerücht übermittelte Nachrichten, verlieh Ansehen und zerstörte es, beschleunigte Unruhen oder Kriege. Das Aufkommen der Presse, dann des Rundfunks und schließlich die explosionsartige Ausbreitung der audiovisuellen Kommunikation haben es jedoch nicht verstummen lassen. Trotz der Massenmedien entnimmt die Öffentlichkeit weiter einen Teil ihrer Informationen aus mündlichen Mitteilungen.

Jean-Noel Kapferer

Die Netze als Träger von Gerüchten

Mit Medien wie dem Telefon und vor allem den Computernetzen, der Symbiose von individuellen und kollektiven Kommunikationstechniken, werden "Informationen" und "Gerüchte" mit einer rasenden Geschwindigkeit über den Globus verbreitet, in Newsgroups oder Diskussionsforen weitergeführt und ausgebaut. Jeder kann prinzipiell wie einst im Dorf "Nachrichten" senden und empfangen, stets läßt sich eine Gruppe irgendwo im virtuellen Raum finden, die eine Überzeugung teilt und so verstärkt. Kürzlich hat Gundolf Freyermuth darauf hingewiesen, daß der Cyberspace zum "zentralen Tummelplatz für Verfolgungs- und Verschwörungswahnsinnige" geworden sei.

Allzu sorgfältig filtern die Massenmedien alles Extreme aus, allzu manipulierend zwängen sie unangenehme Tatsachen in das Korsett einer durchschnittlichen Common-sense-"Objektivität", die vielen ihrer Leser und Zuschauer höchst unvernünftig scheint. Immer mehr Amerikaner, die jenseits des akzeptierten Mittelbereichs denken und die sich auf diese Weise täglich mundtot gemacht sehen, strafen die etablierten Publikationsorgane deshalb mit Mißachtung und weichen in alternative Medien aus ... Keine andere Ausweichmöglichkeit bietet sich heute allerdings so nachdrücklich an wie der Cyberspace mit seiner weitgehend unregulierten Freiheit.

Gundolf Freyermuth

Donna Kossy hat beispielsweise eine "Museum" gegründet, das sich den "Kooks" widmet, also all dem, was Menschen an seltsamen Theorien hegen. Hier gibt es auch einen Korridor der Konspirationen, auf dem man sich über ungeklärte oder nicht zufriedenstellend erklärte Mordfälle von John Lennon über John F. Kennedy bis hin zu den Todesfällen um Bill Clinton oder O.J.Simpson, über die "Hintergründe" des Oklahoma-Attentats oder der Erstürmung von Waco, über Verschwörungen, Komplotte, UFOs und, was Amerikaner so schätzen, geheime Machenschaften der Regierung informieren kann, beispielsweise über angebliche Opfer, die ferngesteuert durch irgendwelche Hirnimplantationen manipuliert worden seien (Mind Control Forum. Nexus ist beispielsweise ein Ezine, das sich all den Enthüllungen oder verborgenen Wahrheiten hinter den offiziellen Versionen widmet und so alle Gerüchte aufkocht.

Den Netzen als den Trägern der Gerüchte widmet Kapferer leider keine Überlegung. Zu gebannt sieht er noch auf die herkömmlichen Massenmedien, erkennt nicht, daß das Netz eben jenes Medium ist, das sich sowohl für die globale als auch für die lokale Ausbreitung von Gerüchten am besten eignet, weil es den Stimmen der von den Massenmedien Ausgeschlossenen Gehör und Öffentlichkeit verschafft und so den einzelnen, die sich von der Komplexität ihrer Umwelt erdrückt fühlen, die Möglichkeit bietet, gemeinsam mit anderen an einer "sinnvollen" Erklärung der Geschehnisse zu basteln.

Die Neigung der Konspirationstheoretiker, alles mit allem zu verbinden, wird, wie Freyermuth vermutet, möglicherweise durch die Struktur des Mediums Internet mit seinen unübersichtlichen Verschachtelungen, Verbindungen und Verästelungen gefördert, aber auch von der ihm eigenen Anonymität verstärkt, die das öffentliche Äußern von verrückten Ideen erleichtert.

Ist das Internet also eine Wiederkehr des "ältesten Massenmediums" im Gewand der neuen Kommunikationstechnologien und deren "Informationen"? Ist vielleicht aus dieser Perspektive der von Marshall McLuhan propagierte Begriff des globalen Dorfes gerechtfertigt, auch wenn die durch Gerüchte sich zusammenschließenden Gemeinschaften dieses Dorfes über den Erdball verstreut sind?

Jean-Noel Kapferer: Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt. Gustav Kiepenheuer Verlag, Berlin 1996. 359 Seiten. DM 39,80