Ohne Körper geht es nicht

Ein Text mit und für Dietmar Kamper - und eine Hommage, denn der philosophierende Soziologe feiert demnächst seinen 60. Geburtstag.

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Der an der FU Berlin lehrende Soziologe Dietmar Kamper feiert seinen 60. Geburtstag. Er hat theoretisch und praktisch mit vielen Veranstaltungen und Veröffentlichungen wesentlich dazu beigetragen, daß die französische Philosophie hierzulande bekannt wurde. Stets hat er versucht, die importierten Ideen mit einer längeren Geistesgeschichte zu verbinden und die Grundlagen einer radikalen Zivilisationskritik zu legen. Eine neuer Ansatz der philosophischen Anthropologie, seit geraumer Zeit an die Wissenschaften übergegangen, besonders aber die Thematisierung des menschlichen Leibs und der Imagination sind deren Grundlage.

Rudolf Maresch hat mit Dietmar Kamper gesprochen und daraus einen Text gewebt, der mit zwei Mündern spricht.

Vgl. den Text von Dietmar Kamper über Telepolis, womit nicht unser Magazin, sondern die virtuelle Stadt im Cyberspace gemeint ist, sowie die Rezension neuer Bücher von Kamper und de Kerckhove von Rudolf Maresch über Paradoxe Theotechnologien.

Vom Schwinden der Sinne , überhaupt vom Verschwinden des Körpers durch den Einbruch des Digitalen zu sprechen, ist Leitthema des Berliner Philosophen und Historischen Anthropologen Dietmar Kamper.

Daß diese Rede angesichts der Heraufkunft neuer Biofeedbacksysteme, die noch unbegriffene Körper-Korrespondenz-Ereignisse erzeugen, Synergieeffekte zwischen Menschen- und Maschinenkörpern stiften und für andere, rekursive Konfigurationen zwischen Körper und Geist sensibilisieren und trainieren, vor fünfzehn Jahren viel zu tief gehängt wurde, insofern sie von den Untiefen der Rationalitätskritik begleitet wurde, gibt er heute unumwunden zu. In ihrer Endgültigkeit lassen sich derart drastisch formulierte Sichtweisen kaum noch aufrechterhalten, geschweige denn rechtfertigen. Auf der Tagesordnung steht vielmehr die Frage, was Körper überhaupt vermögen und was nicht. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob es sich um Menschen- oder Maschinenkörper handelt, um nicht-triviale oder triviale Maschinen (Heinz von Foerster).

Die Wünsche, Begierden oder Handlungen der Menschen richteten sich immer schon auf einen großen Körper. Sie waren in diesen eingebunden, wurden dort aufgezeichnet und von seiner Äußerlichkeit strukturiert. Der corpus mysticum der christlichen Kirche, die politische Form des Körpers Friedrichs II. oder die anonymen, autopoietisch-bürokratischen Systeme der Neuzeit, von Kafka glänzend literalisiert, legen davon heute noch Zeugnis ab. Diese Transzendentalität des Körpers, der ebenso Ermöglichungsgrund wie wesentlicher Bestandteil menschlichen Wahrnehmens, Begreifens und Wissens ist, legt Konditionen und Modalitäten des Erkennens, der Informationsaufnahme, -speicherung und -weitergabe, auch im Zeitalter der elektronischen Medien fest. Das Interface von Körper und Bild nicht mehr vom Imaginären, sondern vom Körper aus zu denken, darin bestünde eine erfolgversprechende Option künftigen Denkens.

Die Auflösung traditioneller Innen- und Außenverhältnisse, die Austreibung alles Analogen aus dem menschlichen Körper; die Auslagerung des Geistes in einem widerstandsfähigeren und weniger störanfälligen Datenträger, um ihm angesichts der zu erwartenden ökologischen Katastrophen zumindest eine Überlebenschance einzuräumen; oder die kanadische Vorstellung , die direkte Einspeisung mentaler Bilder, Töne und Vibrationen in die Matrix der künftigen Infobahn könnte zu einer planetarischen Kommunikation und einem ebenso spirituellen wie ökologischen Bewußtsein führen: all diese Phantasmen verwischen ihre geschichtlichen Spuren. Solche Allmachtsphantasien sind Selbstvergöttlichungsprogramme. Sie sind gerade nicht Teil jener kalifornischen Ideologie, dem seltsamen Gebräu aus liberalen, neokonservativen Ideologien und Haight Ashbury Träumen, sondern alteuropäischer Ab- und Herkunft. Sie wurzeln in alten Religionssystemen, die zu erforschen ergiebig auch für eine technisch argumentierende Medientheorie sein kann.

Prämoderne, archaische Vorstellungen mit den hypermodernen Entkörperungsstrategien ins extraterristrische Universum (Stelarc) zu verschalten, an diesen Ursprung (im Foucaultschen Sinn) denkend zu erinnern und ihn nicht in den Schaltplänen der Hardwarefabrikanten und Softwareingenieure verschwinden zu lassen, ist die heroische Aufgabe einer Historischen Anthropologie, deren Gegenstand die Archäologie der Körper bleibt. Programmierte Ungegenständlichkeit stellt in dieser Form ein Verhängnis dar, sie ist ein ans Wahnhafte grenzendes Programm. Gewiß, Virtualisierung eröffnet - im buchstäblichsten Sinn des Wortes - ein unbegrenztes Feld von Möglichkeiten. Die Entdeckung, daß am Grunde von Existenz und Evolution nur Kontingenz oder, informationstheoretisch gesprochen, Rauschen zu finden ist, bietet Chancen und Freiheitsgrade, nicht mehr so sein zu müssen , wie Rasse, Geschlecht und Ethnie von Geburt an vorschreiben.

Trotzdem, auch wenn die Menschen an der anthropologischen Scham (G. Anders) leiden, auch wenn sie noch so begierig an ihrer Unsterblichkeit feilen, sie sind und bleiben endliche Wesen. Ihre relativ junge Erfindung wird, wie Foucault in seiner Archäologie der Humanwissenschaften anmerkt, immer schon konterkariert durch die Erfahrung, sterblich und vergänglich zu sein. Sich mit diesem mißlichen Umstand abzufinden, die Unvermeidlichkeit von Mangel, Kastration und Tod - die Struktur des Symbolischen (J. Lacan) - anzunehmen und sie als unhintergehbare Seinsweisen des Mensch anzuerkennen: all diese Einsichten könnten vom Wahn des Menschen, vollständig und vollkommen zu sein, befreien. Die Ausweitung des Netzes und der Netzwerke könnte ebenso dazu beitragen. Das in kleinste Schaltungen zerlegte Wissen verstreut die Partikel des reinen Geistes ins Irgendwo. Statt Logokratie herrscht dort die Polysemie des Sinns.

So ist es sicherlich kein Zufall, wenn gegenwärtig alle technisch motivierten Entkörperungsversuche zugunsten der gegenläufigen Struktur der Verkörperung (embodiment) zurückgefahren werden. Die Einsicht setzt sich durch: Nur was sich einschreibt, sich in einem Stoff, einer Materialität materialisieren kann, ist überhaupt. Daß keine Software ohne die entsprechend geschaltete Hardware läuft, erfährt jeder Online-Surfer, Softwarekonsument oder Mediennutzer, wenn er mit Maus, Tastatur und Bildschirm seiner Maschine irgendwelche Informationen entlocken will. Oder wenn er nach vielen Jahren des Aufbewahrens auf alten Datenträgern für seine Software ein geeignetes Abspielgerät sucht, welches ihm erlaubt, die einmal abgespeicherten Daten wieder zu öffnen.

Noch liegt diesem neuen Denken von Körper und Formen ein veraltetes Bild von Materie und Stofflichkeit, von Materialität und Mütterlichkeit zugrunde. Und zwar jene, wie sie von den Griechen überliefert und seit Aristoteles bestimmend für das zentraleuropäisches Denken geworden ist. Die Materie wird schlicht als statisch und passiv gefaßt. Sie ist das, was im Hintergrund bleibt, quasi die Folie bildet, vor dem sich die Veränderung als Wandel der Formen von Formen abhebt und zeigt. Ohne diesen materiellen Bezug zeugten Formen nur Akte der reinen Unterscheidung (Theorie des radikalen Konstruktivismus), ein grenzenloses Spiel der Differenzen (Postmodernismus), das durch postmoderne Reflexivität, so die Meinung, irgendwie beschrieben werden könnte. Die Systemtheorie ist davon bekanntlich abgerückt. Ein Denken vollkommener Referenzlosigkeit ist ihr fremd. Formen (Systeme) müssen einen Bezug zur Materie (Umwelt) haben. Da der alte, erleidende Materiebegriff für die Beschreibung komplexer Abläufe wenig geeignet ist, ist man dazu übergegangen, die Substanz/Form-Unterscheidung durch Austausch der einen Seitenform zu verlassen. An die Stelle der Materie ist das Medium gerückt.

Formen, demnach Körper, schreiben sich in Medien ein. Sie hinterlassen dort Spuren in Form von Abbildungen. Der Begriff des Mediums, mithin die Menge lose gekoppelter Elemente im Gegensatz zur Menge eng verschalteter Elemente zu Formen, erlaubt es, einen geschärfteren Blick auf das komplexe Amalgam aus Körper und Geist, Materie und Technik, Natur und Kultur zu werfen. Hat man den Modus der Beobachtung auf diese Weise erst einmal umgestellt, so kann endlich auch das in leidvollen Subjekt-Objekt-Kategorien verstrickte alteuropäische Denken verlassen werden, das in heroischer Weise immer nur weitere Niederlagen des Denkens konstatieren kann, eine weiter munter voranschreitende Logik des Zerfalls.

Noch so geniale Versuche, wie beispielsweise der von Peter Sloterdijk , black boxes wie: Grab, menschlicher Körper, Buch, Bürokratie und komplexe Maschine philosophisch, d. h. verstehend auszuleuchten, leiden an dieser Verengung der Perspektive, Formen und Zeugnisse menschlicher Kulturen bloß als Körper und nicht als Medien zu begreifen. Kamper stimmt dieser Beschreibung zweifellos zu, gibt aber zu bedenken, daß Sieg und Niederlage die Form des Mediums ebenso durchdringen.

Geschichte als Wechsel und Abfolge verschiedener Medientechniken zu begreifen, gebiert nämlich einen Traum: Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Über sein Werk ist er ziemlich enttäuscht und er grämt sich. Der unvollkommen gebliebene Mensch konstruiert die Maschine, bleibt aber seltsamerweise beim Anblick seiner Erfindung genauso unbefriedigt zurück. Nun versucht es die Maschine von neuem. Sie verschaltet die Dinge digital und berechnet eine vollkommene Welt - die Geschichte beginnt wieder von vorne. Es wird recycelt, ewige Wiederkehr des Gleichen. Dennoch: Körper als Medien und nicht als Stoff oder geronnene Form zu begreifen, führt letztlich dazu, die Historie von Himmel und Erde, von Leben und Tod neu zu schreiben, und die Geschichte der menschlichen Zivilisation noch einmal ganz anders erzählen zu müssen, eine Tatsache, die bislang niemanden noch richtig zu Bewußtsein gekommen ist.

Ist der Körper nun aber Medium oder doch Stoff oder Form, und mithin einziger Garant des Wirklichen und des Anderen? Für die heilige Teresa von Avila, für Antonin Artaud war er sicherlich Medium. Das heißt, er war Mittel, um Körpergrenzen zu sprengen und ekstatische Erfahrungen zu machen. Wieder einmal hilft Lacan an dieser Stelle weiter. Bekanntlich ist der Borromäische Knoten aus dem Symbolischen, dem Imaginären und dem Realen geknüpft. Die Herausnahme eines Feldes hätte unweigerlich die Zerstörung des ganzen Knotens zur Folge. Für Dietmar Kamper dominiert eindeutig das Imaginäre, beherrschen uns die Bilder und Phantasmata. Das Symbolische agiert dagegen im Hintergrund. Es strukturiert die Szenen und produziert dabei etliche Lücken, Risse und Leerräume, die von der Philosophie gegenwärtig als Gegenstand neu entdeckt und vermessen werden. Das Reale, der Körper, hingegen, bleibt, vielleicht, als Abfall und Überbleibsel in diesen unmarkierten Räumen übrig. Ob in diesem Rest tatsächlich die Chancen der Menschen bestehen, Narben in Wunden und Zeichen in Wunder zu verwandeln und die Spiegel zu Fenstern zu öffnen?

Freilich schreibt sich dieser trash des mortal flesh längst als Spur des Realen in den elektronischen Medien fort. Gerade sie spielen auf der Tastatur des Realen, insofern sie Farben und Geräusche qua Signalprocessing als Farben und Geräusche ins Erscheinen bringen. Medien sind Weisen des Entbergens und Verbergens, sogenanntes Zeig-Zeug , das Kunde gibt von dem, was ist oder nicht ist, was sichtbar wird und ins Unsichtbare fällt. Der Körper, sollte er tatsächlich nur Medium sein, fungiert dabei als Störgröße. Er fügt, wie im übrigen jedes andere Informationsmedium auch, der Botschaft Rauschen bei. Auf diese Weise verhindert er im Verbund mit anderen technischen Medien, daß jedes sinnlose Gezänk vermieden wird und der ewige Frieden (Kant) eintritt.

Jedes uns bislang bekannte Kommunikationssystem, außer dem der Engel vielleicht, ist verrauscht. Störungsfreie, unentstellte Kommunikationen gibt es nicht. Das wissen alle Spione und Geheimagenten dieser Erde, weswegen ihre Organisationen permanent nach neuen, besseren und überlegeneren Störsystemen fahnden. Jedes Medium wirkt als Umschalter und Umformer analog dem elektronischen Schaltkreis: on/off; 0/1; fort/da. Es teilt auf und teilt zu, es entnimmt, differenziert und trennt, es vermittelt und überträgt - und teilt sich dadurch mit.

Deswegen irrt die Systemtheorie , wenn sie einem Medium keinerlei Aktionen zuschreibt und davon ausgeht, daß es weder informiert noch kommuniziert. Ein Blick in Hegels Phänomenologie des Geistes würde darüber schnell aufklären. Technische Medien stehen nicht unbeteiligt am Rande und sind keinesfalls neutral. Indem sie die in der Gesellschaft oder der Natur verborgenen Energien aufschließen, in die Unverborgenheit (Heidegger) bringen, teilen sehr wohl etwas mit. Für den Dialektiker das Negieren und das Aufbewahren, für den Semiologen die Differenz von Zeichen und Bezeichneten, für den Medientheoretiker den (Zeit)Abstand zwischen Signal und Geräusch, zwischen Kanal und Programm.

Dieser unmarkierte Raum (im Sinne Spencer-Browns) gilt für Systemtheoretiker als unbeobachtbar, und die technische Medientheorie stimmt dem zu. Aber liegt in dieser Unbeobachtbarkeit nicht gerade die Souveränität der Medien? Zwingen ihre Techniken unseren Augen und Ohren, unseren Seelen und Sozialsystemen nicht schon seit langem ihre Gesetzesrealitäten auf? Übersteigen bzw. unterschreiten ihre Frequenzen, Halbleiter und elektromagnetischen Wellen nicht seit geraumer Zeit die Wahrnehmungsschwellen und Urteilsgeschwindigkeiten menschlicher Akteure?

Vom Gros der Kultur- und Geisteswissenschaften, im übrigen auch von Medientheoretikern, wird dieser schwarze Kasten nicht bemerkt. Ihre Vertreter begnügen sich meist mit der Beschreibung von Semantiken oder amüsieren sich vor bzw. mit den Oberflächen der postmodernen Interfacekultur. Die Materialitäten der Kommunikationen aber aus den Beobachtungen und Überlegungen auszublenden, heißt zugleich, daß die Tiefenstrukturen von Wissen, Information und Kommunikation, und damit die Schaltpläne der Macht, verborgen bleiben.