Aufmerksamkeit ist ein lebenswichtiges Auswahlverfahren

In der Mediengesellschaft ist das Aufmerksamkeitssystem pausenlos überfordert.

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Aufmerksamkeit wird in der Informations- oder Mediengesellschaft immer wichtiger, damit die Angebote oder Botschaften auch an den Mann gebracht werden können. Schließlich sind auch Waren oder Gegenstände Informationen. Man könnte auch Medien in Analogie zur Aufmerksamkeit im einzelnen Gehirn als kollektive Aufmerksamkeitsorgane bezeichnen, die Informationen filtern und sie zugleich so inszenieren, daß sie wiederum Aufmerksamkeit finden. Medien bestimmen weitgehend darüber, was für uns Wirklichkeit ist. Doch bevor man von solch einer Analogie sprechen kann, muß man erst einmal wissen, was Aufmerksamkeit ist. Florian Rötzer sprach mit dem Hirnforscher Burkhart Fischer über den Stand der Forschung.

Burkhart Fischer ist Professor am Institut für Hirnforschung der Universität Freiburg. Im Zentrum seiner Forschungsinteressen steht die Untersuchung der Aufmerksamkeit anhand des visuellen optomotorischen Systems. Die Augenbewegungen sind ein beispiel für sensomotorische Koordination. Ihre Erfassung wird dazu verwendet, die funktionalen Prozesse der visuellen Aufmerksamkeit und Kognition, des Lernens und Lesens sowie deren Entwicklung zu untersuchen.

Gibt es denn im menschlichen Gehirn ein identifizierbares zentrales Aufmerksamkeitssystem?

Burkhart Fischer: Es gibt vielleicht einen allgemeinen Wachzustand. Aber es gibt keine einzelne Aufmerksamkeitszentrale, sondern Aufmerksamkeitssysteme, die sich auf die verschiedenen Sinne oder auf körpereigene Vorgänge beziehen. Diese Systeme arbeiten natürlich zusammen.

Es gibt also dann vermutlich eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Systemen?

Burkhart Fischer: Natürlich, denn man muß sich ja entscheiden, ob man auf etwas Gehörtes oder etwas Gesehenes reagiert. Die Informationen stürmen gleichzeitig auf das Gehirn ein. Wenn ein Auto rechts hupt und links oben ist gerade eine Ampel auf gelb gesprungen, dann kann man nicht beides gleichzeitig beachten. Man muß sich also entscheiden, und hier treten die Aufmerksamkeitssysteme miteinander in Konkurrenz.

Wenn man dies so beschreibt, dann gibt es zwar mehrere Systeme, die sich auf unterschiedliche Informationen richten, aber es müßte doch irgendwo eine Zentrale oder einen Flaschenhals geben, in dem alles zusammenläuft, um eine Entscheidung zu ermöglichen. Gibt es also nicht doch noch einmal einen übergeordneten Filter?

Burkhart Fischer: Was wir wahrnehmen und wovon wir nur sprechen können, ist das, was in unser Bewußtsein tritt. Das ist natürlich keineswegs alles, was auf uns einwirkt. Insofern gibt es, bildlich gesprochen, einen solchen Flaschenhals, durch den aber etwa visuelle und auditorische Informationen gleichzeitig durchkommen können. Diesen Prozeß kann man vielleicht wirklich als einen Filtervorgang beschreiben, dessen Funktionsweise allerdings erst noch studiert werden müßte.

Unterscheiden sich denn die verschiedenen Aufmerksamkeitssysteme intern? Richten sie sich also nicht nur auf verschiedene sensorische oder körpereigene Informationen, sondern sind sie auch anders strukturiert?

Burkhart Fischer: Beim Sehen ist diese Frage am besten untersucht. Beim Hören gibt es nicht die räumliche Schärfe, die uns beim Sehen sehr genau erlaubt festzustellen, wo etwas ist. Deswegen ist das Hörsystem in dieser Hinsicht auch noch kaum erforscht. Wir wissen, daß die Signale, die in verschiedenen Arealen des Gehirns verarbeitet werden, an denen visuelle Information ankommen, verstärkt werden, wenn man auf die Reize achtet. Untersucht wurde das meist an Affen, die entsprechende Aufgaben gelernt hatten.

Kann man denn, zumindest bei höheren Organismen, überhaupt die Unterscheidung zwischen einer reinen Informationsaufnahme und einer aufmerksamen Verarbeitung treffen? Auswahl alleine kann doch Aufmerksamkeit nicht charakterisieren, denn Organismen selektieren Informationen doch von vorneherein durch ihre sensorischen Apparate.

Burkhart Fischer: Beim Menschen, auch wenn man das meist nur an Versuchen an Affen kennt, die ihm hier aber sehr ähnlich sehen, kann man tatsächlich wissen, ab welchen Stufen in der Informationsverarbeitung Aufmerksamkeitseinflüsse erkennbar sind. Das ist, wenn wir einmal beim Sehen bleiben, in der primären Sehrinde, die ganz hinten am Kopf sitzt, noch nicht der Fall. Aufmerksamkeitsprozesse und -selektionen setzen erst in den höheren Hirnarealen ein. Dies ergibt sich aus der Impulsaktivität der Nervenzellen in den entsprechenden Gebieten, die in eigens dafür entwickelten Verhaltensversuchen modulierbar sind oder nicht.

Aufmerksamkeitsprozesse sind also primär als Selektionsmechanismen zu beschreiben?

Burkhart Fischer: Aufmerksamkeit ist ein Auswahlverfahren. Es wird ausgewählt, was man wahrnimmt, was also ins Bewußtsein kommt, und was nicht. Die wenigsten Sinnesreize, die in der Umwelt vorhanden sind, gelangen ins Bewußtsein. Es gibt aber auch die Auswahl für die Aktionen, also ob wir auf die Reize reagieren. Wir können auf bewußt wahrgenommene Reize reagieren, die nicht dem Auswahlmechanismus zum Opfer gefallen sind, wir können aber auch auf Reize reagieren, die wir nicht bewußt wahrnehmen. Ebenso können wir auf bewußt wahrgenommene Reize nicht reagieren. Wie die Wahrnehmung durch Aufmerksamkeit eingeschränkt wird, so werden auch die Bewegungen, die zu den Reizen gehören könnten, eingeschränkt.

Ganz entscheidend für das Verständnis von Aufmerksamkeit ist wohl die Unterscheidung zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Aufmerksamkeit.

Burkhart Fischer: So ist es. Und diese beiden Aufmerksamkeitsformen unterscheiden sich auch, nämlich in ihrem unterschiedlichen Zeitverlauf. Die automatische Zuwendung erfolgt schnell, aber bleibt nur für Bruchteile von Sekunden aufrechterhalten, während die bewußte Aufmerksamkeitsausrichtung langsam vor sich geht und längere Zeit aufrecht gehalten werden kann.

Kann man denn sagen, ab wann in der Evolution der Organismen unwillkürliche und ab wann willkürliche Aufmerksamkeit entstanden ist?

Burkhart Fischer: Darüber gibt es keine Forschungen, aber die Frage ist, worüber sich nicht nur die Zoologen, sondern auch die Philosophen und Anthropologen streiten, ob einem Affen, einem Pferd oder einem Hund Bewußtsein zuzusprechen ist. Man muß da schon sehr vorsichtig sein. Jedenfalls braucht jedes Tier ein Aufmerksamkeitssystem, wenn es verschiedenen Reizen ausgesetzt ist, aber nur einige beantworten kann. Auch ein niederes Tier, das irgendwo im Meer, womöglich im Dunklen, lebt, nimmt irgendwelche Reize auf und muß sich entscheiden, den einen oder anderen so oder so zu beantworten. Dazu braucht es ein solches Auswahlsystem. Tiere, die sich selbst bewegen können, benötigen ein Aufmerksamkeitssystem, gleich ob dies nun ein bewußtes oder unwillkürliches ist. Vielleicht benutzen niedere Tiere mehr ein reflexives System, also einen Orientierungsreflex, während höhere Tiere und der Mensch zusätzlich über ein willkürliches verfügen können.

Man kann doch sicher davon ausgehen, daß einer der entscheidenden Faktoren der "Intelligenz" die Möglichkeit ist, die Aufmerksamkeit über lange Zeit hinweg an Phänomene zu binden, die nicht unmittelbar lebensnotwendig sind. Bildet sich die erhöhte Potentialität der Aufmerksamkeitssteuerung denn auch irgendwie in der Architektur des Gehirns ab?

Burkhart Fischer: Intelligenz und/oder Aufmerksamkeit kann man unter dem Mikroskop nicht sehen, und es handelt sich dabei um eine quantitative Frage. Man kann nicht sagen kann, daß der Mensch eine aufmerksamkeitssteuerung hat und der Affe oder ein anderes Tier nicht. Auch Tiere können sich auf etwas konzentrieren. Sie konzentrieren sich vielleicht seltener und kürzer auf etwas, was für ihr Überleben selbst nicht notwendig ist. Sie sind häufiger und intensiver ihrem reflektorischen Verhalten ausgesetzt. Wenn man sich aber beispielsweise Pferde ansieht, die sich auf ihren Reiter und dessen Mitteilungen konzentrieren, dann sieht man, wie aufmerksam sie sind, obwohl es hier gar nicht um ihr Überleben geht. Sie haben ein Verhalten gelernt, was übrigens ohne Aufmerksamkeit schon gar nicht möglich gewesen wäre.

Wir leben in einer Welt, die immer mehr von Medien bestimmt wird. Manche arbeiten den ganzen Tag am Computerbildschirm und setzen dies in ihrer Freizeit auch noch Zuhause fort. Verändern sich durch die dauerhafte Aussetzung an Medienumgebungen mit ihren spezifischen Reizkonstellationen und nötigen Handlungssequenzen die Strukturen der Aufmerksamkeit?

Burkhart Fischer: Die Aufmerksamkeitsstrukturen werden sich wohl nicht ändern. Doch die Aufmerksamkeit ist wie eine Software, die sich sehr wohl ändern kann. Man kann sein Aufmerksamkeitssystem trainieren, schnell von dem einen auf etwas anderes zu schalten oder sich an etwas festzuhaken. In unserer Gesellschaft sehe ich hier ein ganz großes Problem oder eine große Herausforderung. Die Reizüberflutung hat so heftig zugenommen, daß unser Aufmerksamkeitssystem pausenlos damit überfordert ist, das herauszufischen, was wichtig ist.

Der Blick beispielsweise ist bei den Menschen normalerweise immer dorthin gerichtet, wohin das Aufmerksamkeitssystem auch gerade hinzeigt. Das optomotorische System, das diese Koordination bewerkstelligt, entwickelt sich bis zum zwanzigsten Lebensjahr. Jetzt kann man überlegen, was die Kinder bis dahin schon alles machen, mit welchen Aufgaben ihr Gehirn konfrontiert war oder ist. Durch Schule, Film, Fernsehen, Musik und Computerspiele ist ihr Aufmerksamkeitssystem über lange Zeitspannen hinweg vollkommen überfordert. Das Aufmerksamkeitssystem muß von früh bis spät irrsinnige Leistungen vollbringen. Man sollte sich deshalb durchaus einmal von den äußeren Reizen abkoppeln. Für unsere Gesellschaft wird es immer wichtiger werden zu lernen, sich einmal zurückzuziehen. Wenn man das einmal versucht, dann merkt man, daß man dies nicht gut kann.

Ist die tatsächliche Menge der Sinnesinformationen denn wirklich angestiegen, denn schließlich kann ja nur eine bestimmte Menge durch die Sensoren gelangen? Ist es nicht eher so, daß die Umwelt eine andere geworden ist und daß die von ihr ausgehende Information, oft schon wie bei den Medien und Waren für die Aufmerksamkeit zurechtgeschnitten, anders strukturiert und deshalb überfordernder ist wie Informationen aus der natürlichen Umwelt?

Burkhart Fischer: Ich denke, daß beides eine Rolle spielt. Die Reizflut ist größer geworden. Durch Manipulationen der Darstellung wird in der Werbung beispielsweise versucht, die Filterfunktion der Wahrnehmung möglichst zu umgehen. Je besser dies gelingt, desto mehr strömt auf uns ein, auch wenn wir es nicht bewußt wahrnehmen. Wir sind wahnsinnig damit beschäftigt, das alles zu bewältigen. Deswegen wird unser Aufmerksamkeitssystem dauernd überfordert.

Bei den Forschungen zur Künstlichen Intelligenz, zur Robotik oder zum Künstlichen Leben geht man jetzt davon aus, daß Intelligenz nur durch Lernen und aktive Orientierung in einer Umwelt stattfinden kann. Die Umwelt muß also wahrgenommen werden, wobei hier wieder die Aufmerksamkeit ins Spiel kommt. Könnte man denn ganz allgemein sagen, daß wirklich intelligentes Verhalten nur dann entstehen kann, wenn ein System Aufmerksamkeitsmechanismen zur Selektion besitzt?

Burkhart Fischer: Das ist den Roboterentwicklern längst klar geworden. Roboter erhalten ja sensorische Informationen aus ihrer Umwelt, die sie irgendwie sortieren müssen, um das Richtige zu tun und anderes zu lassen. Das Problem ist jetzt nur, wie man das implementieren kann. Deswegen klopfen Robotikforscher öfter bei uns an und fragen, wie das denn in der Natur geregelt ist. Dabei spielen die unterschiedlichen Formen der willkürlichen und unwillkürlichen Aufmerksamkeit mit ihren verschiedenen Zeitfenstern eine Rolle. Das sind wichtige Eigenschaften, die für die Robotiker interessant sind. Dazu muß man sich auch neuronale Netzwerke anschauen und untersuchen. Deren Funktion basiert auf stochastischen Prozessen, die aber für uns schwierig zu erfassen sind, weil sie nicht anschaulich sind. Die Robotiker wissen um die Probleme der Aufmerksamkeit. Sie schlafen nicht, denn her geht es um viel Geld.

Man kann einerseits versuchen, technische intelligente Systeme durch die Implementierung von Aufmerksamkeitsmechanismen zu bauen, andererseits gibt die Aufmerksamkeitsforschung auch Mittel dafür in die Hand, die Menschen gezielt zu beeinflussen. Sehen Sie denn die Möglichkeit, daß die neurowissenschaftliche Aufmerksamkeitsforschung eines Tages dahin kommen wird, Rezepte anzubieten, die garantieren, ein bestimmtes Aufmerksamkeitsverhalten auszulösen?

Burkhart Fischer: Das muß man sich sehr genau ansehen, aber ich glaube, man kann es tatsächlich herausfinden. Allerdings funktioniert das nicht mit Ja und Nein. Man kann also nicht sagen, daß eine Firma, die ihr Produkt so oder so gestaltet, anbietet und mit einem bestimmten Logo versieht, eine hundertprozentige Verkaufsgarantie erhält. Es wird nur die Wahrscheinlichkeit höher oder geringer. Um diese Wahrscheinlichkeit beeinflussen zu können, sollte man wissen, was eine höhere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Werbespezialisten wissen das zum Teil aus Erfahrung, nicht aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen. Beispielsweise sind Logos unheimlich wichtig geworden. Das funktioniert oft nicht bewußt. Wenn ich so eine Shell-Muschel sehe, dann weiß ich, daß da eine Tankstelle ist. Von diesen unbewußten Aufmerksamkeitsmechanismen sind wir mehr geprägt, als wir glauben. Wie man das genau manipulieren kann, wird die Wissenschaft schon herausbringen.

Manipulation klingt ja von vorneherein negativ, weil da etwas dem Menschen untergeschoben werden soll. Die Aufmerksamkeitsforschung könnte aber doch durchaus auch Erhellendes zum Umgang mit Medien und Wichtiges etwa zur Effizienzsteigerung des Lernens beitragen?

Burkhart Fischer: Natürlich, aber muß wissen, daß immer dann, wenn Gesetzmäßigkeiten in der Forschung neu entdeckt werden, sie sowohl zum Guten als auch zum Bösen eingesetzt werden können. Wir versuchen auch, die guten Seiten einzusetzen.

Wir beschäftigen uns nämlich auch z. B. mit dem Lesen und Leseschwächen. Wenn man besser verstehen würde, wie die Aufmerksamkeitsmechanismen beim Lesen im einzelnen arbeiten, dann könnte man den Kindern helfen, die jetzt beim Lesen Schwierigkeiten haben. Die Aufmerksamkeitsforschung ist also nicht nur für marktstrategische Ziele, sondern auch für die psychologische und psychiatrische Diagnose und Behandlung wichtig. Wenn man zu wenig auswählen kann und den inneren und äußeren Reizen ausgeliefert ist, dann wird man krank. Inwieweit Angstattacken und depressive Zustände so begünstigt werden, ist noch unklar. Wir wissen aber, daß z. B. bei der Schizophrenie die willkürliche Steuerung der Blickrichtung ungenügend funktioniert. Die neurobiologische Forschung hat hier noch viel vor sich, denn diesen Menschen muß geholfen werden. Wir haben zwar ein Verfahren entwickelt, das die Diagnosemöglichkeiten verbessert, aber wir wissen noch nicht, mit welchen Maßnahmen man helfen kann.

Fazit wäre, daß die Aufmerksamkeitsforschung schon ein gutes Stück vorangekommen ist, aber daß es noch große weiße Flächen gibt?

Burkhart Fischer: Richtig. Die Aufmerksamkeitsforschung ist deswegen ein so schwieriges Thema, weil die Aufmerksamk etwas Gehirn-Internes ist. Daher kommt man so schwer da dran. Man hat kein gutes Maß für Aufmerksamkeit. Versucht wird, es durch Reaktionszeiten zu erfassen. Das geht auch sehr schön, aber es wird dadurch schwierig, weil dabei immer auch motorische Aktionen erfolgen. Man muß dann unterscheiden können, was durch die Vorbereitung der Bewegung und was durch den Prozeß hervorgerufen wird, den wir Aufmerksamkeit nennen.

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