Orgasmus, Reproduktionstechnik und Kindermachen

Die Strategie des Lebens gegen die Lebewesen

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Mit dem Klonen von Dolly wurde nur erneut wieder deutlich, daß sich mit der allmählichen Herauslösung der Fortpflanzung aus der biologischen Sexualität eine Fülle von faszinierenden und auch ängstigenden Möglichkeiten eröffnet. Der Philosoph Vilém Flusser, gerne provozierend, führt in seinem Essay aus dem Jahr 1989 aus, warum dies ein neuer und begrüßenswerter Schritt hin zur eigentlichen Menschwerdung sein könnte. Wir beginnen mit diesem Beitrag in Telepolis eine Serie mit Essays des verstorbenen Philosophen, die bislang noch wenig bekannt und verstreut erscheinen sind.

Gebildete Leute stellen keine Wozu-Fragen: Sie denken kausal und nicht teleologisch. Sie fragen nicht, wozu es regnet und wozu die Sonne aufgeht. Aber im Bereich des Lebens ist teleologisches Denken beinahe unvermeidlich. Es klingt besser, wenn man sagt: "Wir haben Augen, um zu sehen" als "wir sehen, weil wir Augen haben". Das Leben scheint Absichten zu verfolgen. Welche? Das Leben ist an Meeresstränden entstanden, also dort, wo Festland, Wasser und Luft ineinandergreifen. Seine Absicht scheint zu sein, sich zwischen Erdkruste, Hydrosphäre und Atmosphäre zu schieben und eine erdweite Biosphäre zu bilden. Mit dieser Absicht breitet es sich aus, und zu diesem Zweck vermehren sich (teilen sich) Zellen. Sie sektionieren, und das Leben ist "seksuell" (sexuell) motiviert, sich zu vermehren. Dazu macht man Kinder.

Bekanntlich ist die Sache nicht ganz so einfach. Bei der Zellteilung unterlaufen Fehler: Wenn sich die Doppelschraube der Nukleinsäuren spaltet, kann die eine Hälfte die andere falsch kopieren. Eine Strategie zur Fehlervermeidung ist, zuerst zwei Zellen zu mischen und dann erst die Mischung zu teilen. Diese verfeinerte Sex-Strategie führt zu den beiden berüchtigten Geschlechtern. Aber sie hat einen Nachteil: Das Leben muß die beiden sich-mischen-sollenden Zellen auf zwei "Organismen" (mehrzellige Auswüchse aus der Biomasse) verteilen. Diese Lebewesen tauchen aus dem Lebensschleim auf, befruchten einander und tauchen dann wieder darin unter. Das Wieder-Untertauchen heißt "Tod": "Jedes legt schnell noch ein Ei, und dann kommt der Tod herbei", ist der Leitspruch des Lebens.

Dem Leben ist gleichgültig, daß die Lebewesen sterben, aber die Lebewesen wollen seltsamerweise an dem sie verachtenden Leben bleiben. Sie haben eine andere Absicht als das Leben. Darum hat das Leben bei den sogenannten "höheren Lebewesen" den Orgasmus erfunden: Sie sollen sich gefälligst paaren und dabei den Tod vergessen. Der Orgasmus als Strategie des Lebens gegen die Lebewesen. Gegenwärtig scheint das Leben über die Menschen den Sieg zu erringen: Sex ist salonfähig, und der Tod wird verschwiegen. Jedoch beginnt sich dieser Sieg als Pyrrhussieg herauszustellen. Die Leute treiben Sex des Orgasmus halber und nicht, um Kinder zu machen. Die Pille als Waffe des Menschen gegen das Leben. Also hat das Leben bei der verfeinerten Sex-Strategie "Orgasmus" einen Fehler begannen. (Das ist nicht überraschend: das Leben macht lauter Fehler.) Welchen Fehler? Das Leben ist mit dem Orgasmus über sein Ziel hinaus geschossen.

Der Orgasmus wurde erfunden, damit sich die Lebewesen auch unter Lebensgefahren paaren mögen (damit sie den Tod zugunsten des Lebens vergessen). Aber den Tod vergessen ist Selbstvergessen. Im Orgasmus werden die Leute selbstlos: Das eine Selbst verschwimmt dabei im anderen. Im Orgasmus überwinden zwei Menschen den Tod und damit das Leben. (Übrigens bietet dies eine Definition von "Pornographie": Beschreibung des Paarens bei Weglassung der Lebensüberwindung.) Das ist gegen das Interesse des Lebens. Es erlaubt (unter anderem), den Sex von der Vermehrung zu trennen. Angenommen: "Mensch" meine ein verneinendes Lebewesen (auch die eigenen Lebensbedingungen verneinend). Das nannte man früher ein "geistiges" Wesen. Dann ist die Trennung zwischen Sex und Vermehrung eine spezifisch menschliche Verneinung des Lebens. Ein Beweis, wie sehr das Leben beim Orgasmus ( und beim Menschen überhaupt) über sein Ziel hinaus schoß.

Trotzdem macht man gelegentlich Kinder. Ist das ein Rückfall? Vom Standpunkt des Lebens ist "Kind" ein Auswuchs aus einem befruchteten Ei. Es soll weitere Eier und Samen absondern und nachher aufgesogen werden. Das ist aber nicht der menschliche Standpunkt. "Kind" ist zwar Träger einer genetischen Information , die es weiterzugeben hat, aber auch Träger erworbener ("kultureller") Informationen, die es prozessieren soll, um sie weiterzugeben. Das Leben ist an den erworbenen Informationen völlig uninteressiert, denn sie können biologisch nicht vererbt werden. Aber die Menschen interessieren sich hauptsächlich eben dafür. Für Menschen ist ein "Kind" ein künftiger Mensch, und zwar eben in jenem Maß, in dem es erworbene Informationen aufnimmt, speichert, prozessiert und an andere Menschen vermittelt. Darum machen Menschen Kinder: um künftige Menschen aus ihnen zu machen. Also gegen das Interesse des Lebens. Und das Kindermachen wird erst seit der Pille tatsächlich menschlich: Man entscheidet sich entweder für die Pille und für den "reinen Orgasmus" oder gegen die Pille und für das Machen künftiger Menschen.

Es geht auch anders. Man lagert Samen in Spermenbanken, damit sie von Jungfrauen ausgewählt und abberufen werden. Bald wird es von Menschen, die unbefleckt empfangen wurden, nur so wimmeln (wobei sich diese Jungfrauen nebenberuflich auch dem "reinen Orgasmus" widmen können). Und das läßt sich verbessern. Abgezapfte Spermen und Eier werden in Retorten gemischt und in künstlichen Gebärmüttern ausgetragen werden. Dadurch wird der größte Teil des weiblichen Geschlechtsapparates überflüssig werden: Gleichberechtigung der Frauen. Kinder nur noch als Hardware für kulturelle Software. Endsieg des Menschen über das Leben?

Noch nicht ganz. Es ist nämlich funktioneller, statt Kinder Homuniculi zu machen. Zum Beispiel dichtgestreute mit künstlichen Intelligenzen versehene Hologramme. Das wird zweifellos kommen. Und dann wird die Frage "Wozu Kinder machen?" folgende Antwort erhalten: Wenn es darum geht, künftige Menschen zu machen, ist Kindermachen unnötig.

Aber die Sache hat einen Haken: Im Orgasmus geht das "Ich" mit dem "Du" in einem "Wir" auf, und aus diesem "Wir" kann man Kinder machen. Das ist eine andere als die maschinelle Methode, und was herauskommt ist anders. Leider würde jeder Versuch, dieses Anderssein zu definieren, in sentimentales Gerede zerfliessen. Und doch ist es wahr, daß das Sentiment dabei ins Spiel kommt. Also wird man hoffentlich (und auch wahrscheinlich) gelegentlich Kinder auf die alte Methode machen. Und zwar nicht mehr im Interesse des Lebens, sondern aus spezifisch menschlichen Motiven Vielleicht sind wir tatsächlich dabei, die vor zwei Millionen Jahren begonnene Menschwerdung einen Schritt weiterzuführen.