Evolution durch Kooperation

Lynn Margulis, Dorion Sagan: Leben - Vom Ursprung zur Vielfalt. Spektrum Verlag. Heidelberg-Oxford 1997

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ein neues Bild von der Evolution setzt sich allmählich durch. Nicht der pure Egoismus, sondern vielefältige Formen der Kooperation und Symbiose haben die Entwicklung des Lebens geprägt und einschneidende Revolutionen bewirkt. Die Biologin Lynn Margulis beschreibt in ihrem neuen Buch die vielfältigen Formen der Kooperation.

Wer mehr und wahrscheinlich auch viel Neues aus der Geschichte der Evolution und deren Prinzipien und vor allem aus dem Reich der Mikroorganismen erfahren will, wird bestimmt von diesem Buch begeistert sein. Lynn Margulis, die große Theoretikerin der Endosymbiontik, die bahnbrechende und für die traditionelle Evolutionstheorie ketzerische Erkenntnisse über Symbiose und Kooperation als Mittel evolutionärer Durchbrüche erarbeitet hat, und der Wissenschaftspublizist Dorion Sagan haben mit "Leben" ein wirklich großartiges und einmaliges Buch mit faszinierenden Thesen über die Dynamik und Organisation des Lebens geschrieben, das sich wegen der vielen Abbildungen der seltsamen, oft ästhetisch wunderschönen Mikroorganismen auch als beeindruckendes Bilderbuch durchblättern läßt und eine neue Welt des zuvor noch nie Gesehenen anbietet.

Weil die Autoren ihr Buch über die Darstellung der leitenden These hinaus, daß die Evolution nicht nur durch blinde Mutation und darwinistischen Egoimus, sondern in hohem Maß durch Kooperation von Organismen und der Bildung neuer Gemeinschaften vorangetrieben wird, auch als eine Art Hymne an das Leben und dessen Vielfalt verstanden wissen wollen, kommt es zu gelegentlichen, am Ende notorischen poetischen Ergüssen und einer Feier des Ganzheitlichen, die anscheinend unvermeidlicher populärwissenschaftlicher Ballast sind und demonstrieren, daß die neuen naturwissenschaftlichen Propheten nicht aus der Misere der alten gelernt haben. Auch die ersten allgemeinen Kapitel, die wieder einmal das böse "mechanistische" Denken und den Cartesianismus anklagen, hätten sich die Autoren sparen und auf ihre große Materialfülle vertrauen können, aus der heraus eine neue Sicht auf das Leben und auch auf die einmalige Beschaffenheit des Planeten, der durch die Arbeit der Organismen umgewandelt wurde, auch ohne metaphysischen Ehrgeiz deutlich würde.

Vorbild des anspruchsvollen Unternehmens war das Buch "Was ist Leben?" (1944) des Physikers Erwin Schrödinger, der noch vor Entdeckung der DNA den Anstoß dazu gab, Leben auf der Grundlage von Physik und Chemie als natürliches, wenn auch besonders komplexes Phänomen zu erklären, das sich wie ein "aperiodischer Kristall" reproduziere. Leben ist, sagen die Autoren, nicht auf die Organismen und ihre Interaktionen beschränkt, sondern ein globales System, das mit der Energie der Sonne und im selbstkonstruierten Schutz der Atmosphäre sich seine eigene und bislang einzigartige Biosphäre im bekannten Universum schuf. Daher läßt sich durchaus von einer planetaren Geophysiologie, einer Biophysik oder eine Biogeologie sprechen. Aber das von Margulis auch hier verwendete Bild vom Planeten als lebendigem Organismus oder, nach der Terminologie James Lovelocks, als Gaia, die sich selbst erhält, über die Einsicht in den komplexen Zusammenhang sowie der wechselseitigen Abhängigkeit aller Lebensphänomene hinaus nicht weiter. Leben ist eben Vielfalt, ein Phänomen der Menge, der Konkurrenz und der Gemeinschaftsbildung, nicht ein einziger Organismus, der sich überdies nicht repliziert. Und der "lebendige Organismus" erhält sich, was gerade die Forschungen von Lynn Margulis gezeigt haben, auch nicht immer im Gleichgewicht, sondern ändert sich mitunter radikal wie beim Übergang von den anaeoroben zu den aeroben Organismen, der über ein Massenausterben und eine gigantische "Umweltverschmutzung" durch die Anreicherung der Atmosphäre mit einem hohen Sauerstoffgehalt aufgrund der Aktivität neuer, photosynthetisch aktiver Bakterien geschehen ist.

Noch immer wissen wir nicht, wie das erste Leben entstanden ist oder wie es aussah. Aber seitdem einmal belebte Materie in einer membrangeschützten und mit einer RNA-Kette versehenen Zelle entstanden ist, die sich selbst repliziert und einen selbst-organisierten Stoffwechsel besitzt, ist die Vielfalt des Lebens explodiert und stetig "vorwärtsgestolpert", um sich immer weiter zu vermehren und zu verändern. Lange Zeit hat man die Welt der Mikroorganismen und das Zeitalter ihrer alleinigen Existenz vor dem Kambrium, als die ersten vielzelligen Organismen entstanden sind, vernachlässigt. Heute erkennt man, daß man den Beginn des Lebens immer weiter zurückschieben muß und daß die Welt der archaischen Mikroorganismen keineswegs eintönig und langweilig ist. Tatsächlich sind Bakterien das Leben, denn jeder Organismus geht nicht nur auf Bakterien und deren Innovationen zurück, sondern auch heute wäre vielzelliges Leben ohne Bakterien nicht überlebensfähig. Überdies stellen sie Hauptmasse des Lebendigen.

Noch ist keineswegs bekannt, wieviele verschiedene Bakterien es gibt, aber es ist klar, daß diese Überlebenskünstler, die die Biosphäre auch unter extremen Bedingungen besiedeln, äußerst schnell anpassungsfähig und eigentlich unsterblich sind, bereits hoch komplexe Organismen sind, deren Stärke in ihrer Gemeinschaftlichkeit liegt. Bakterien waren die ersten Gentechniker, die Stücke ihrer DNA untereinander über die "Artengrenzen" hinweg, beispielsweise durch Viren, auszutauschen vermochten und sich so innerhalb von Minuten neuen Umweltbedingungen anpassen konnten, und dies natürlich noch immer können. Der gesamte Genvorrat, einschließlich der Gene "höherer" Organismen, ist der globale Pool, aus dem die einzelnen Bakterien Neues beziehen oder in den sie es einspeisen können. So ließen sich die Bakterien metaphorisch als ein großer Organismus mit einer globalen Datenbank verstehen, der sich wie Proteus stets zu wandeln vermag, wenn dies aus Überlebensgründen notwendig wird.

Bakterien sind die widerstandsfähigsten Lebewesen, die man kennt. Manche überdauern extreme Umweltbedingungen in den trockenen Wüsten des Sinai, andere im Salz des Roten Meers. Manche bevölkern die Felsen der Antarktis, andere gedeihen in der sibirischen Tundra. In Ihrer Mundhöhle leben gerade jetzt mehr Bakterien als Menschen in New York City, auch wenn Sie sich eben die Zähne geputzt haben sollten.

Die ersten Bakterien waren vermutlich hitze- und schwefelliebende Organismen, die mit Hilfe von Gärung Zucker und andere vorhandene organischen Verbindungen verwerteten. Irgendwann war die kostenlose Nahrung verbraucht und das Leben erfand aus dieser Katastrophe heraus die Photosynthese, die "wichtigste metabolische Innovation der Erdgeschichte", denn dadurch konnte mittels der Energie des Sonnenlichtes Nahrung hergestellt werden, die den Primärproduzenten selbst und dann von allen anderen in der Nahrungskette nachfolgenden verwertet werden konnte. Diese schwefelliebenden Photobakterien überzogen mit ihren bunten Farben die Erde, bis aus purpurnen Schwefelbakterien, die das gefährliche Gift Sauerstoff ertragen konnten, die ersten Cyanobakterien entstanden. Sie setzten Sauerstoff und nicht mehr Schwefel frei, und man kann sie heute noch überall finden: von den Wüsten bis zur Antarktis, von heißen Quellen bis zu Salzsuppen, tief unter der Erde und hoch im Gebirge.

Die Freisetzung von Sauerstoff veränderte nicht nur das gesamte Leben, sondern die ganze Oberfläche unseres Planeten. Zunächst oxidierte durch die die ganze Erde überziehenden Bakteriengemeinschaften Sauerstoff mit Eisen, Schwefel, Mangan oder Uran und ließ neue Materialien entstehen. Die Atmosphäre reicherte sich an, es bildete sich die vor UV-Strahlen schützende Ozonschicht, der Kreislauf der Materialien durch den Metabolimus der Lebewesen kam richtig in Gang. Nahezu alles wird verwertet, wieder zurückgegeben und neu verwendet. Stets entstanden durch Ausscheidungen neue Gifte, denen man sich durch den Austausch von Genen anpassen konnte und sich wieder als Nahrung abbauen ließen. Darauf basiert noch immer das gesamte Leben.

Am Ende des Archaikums war jede Wüste mit Mikrobenmatten und flüchtigem Bakterienschaum überzogen; jeder heiße Tümpel, schwefel- oder ammoniakhaltig, quoll über von Kolonisten und hereindrängenden Immigranten ... Die Photobakterien krallten sich an die nackten, kahlen Felsen nahe der Pole und zogen ihre schleimige Spur über den Schutt der Vulkane in den flachen tropischen Meeren, sie begrünten die Erde und schieden ihre Hinterlassenschaften für hungrige Opportunisten aus.

Vor etwa zwei Milliarden Jahren kam es zu einer neuen Innovation zwischen den sich fressenden, miteinander interagierenden, stabile Gemeinschaften bildenden und Genstücke austauschenden Bakterien, die neue Zelltypen hervorbrachten und mit ihnen Sexualität, Tod, Individualität. Es entstanden die wesentlich größeren Protisten und Protoctisten, aus denen sich die Eukaryoten, Zellen mit einem membranumhüllten Zellkern, bildeten. Aber das waren keine nur in Gemeinschaften lebenden Einzelorganismen mehr, die in ihrer Existenz voneinander abhängig waren und sogar schon erste Formen vielzelliger Organismen bildeten, sondern ein Zusammenschluß vormals "autonomer" unterschiedlicher Bakterien zu einem neuen Organismus, die nun gemeinsam der Evolution unterworfen und stets aneinander gebunden waren. Nach der zunächst gegenüber der herrschenden Evolutionstheorie ketzerischen, mittlerweile aber weitgehend anerkannten These von Lynn Margulis entstand das neue Reich der Organismen nicht allmählich durch Mutation, Genaustausch oder externe Einflüsse, sondern plötzlich durch "symbiontische Allianzen". Vermutlich kam die Union keineswegs friedlich zustande, sondern ganz einfach durch Freßversuche, Übersättigung und Angriffe, die irgendwann zum Friedensschluß und zur Verschmelzung der Überlebenden führten, was Margulis eine Endosymbiose nennt.

"Unter gierig schlingenden Zellen und mißlungenen Invasionen erlangten fusionierte, einander infizierende Organismen durch Eingliederung ihrer permanenten 'Erkrankung' neue Lebenskraft. Die erste Zelle des neuen Typs - die Zelle mit Zellkern - entwickelte sich nicht durch Übernahme erblicher Merkmale, sondern durch Erwerb bakterieller Symbionten" - vielleicht ist gar die einfache Bakterienzelle schon ein Konglomerat eines sich selbst replizierenden RNA-Organismus und eines metabolischen, Proteine erzeugenden Organismus gewesen.

Eine der ersten dauerhaften endosymbiontischen Gemeinschaften sind für Margulis die mit Geißeln bestückten Bakterien, die eine der erfolgreichsten Lebensformen darstellen. Frei schlängelnde Spirochäten haben sich außen und dann auch innen mit anderen Bakterien verbunden und ihnen so eine größere Beweglichkeit verliehen, während sie von diesen ernährt werden. Margulis nimmt sogar an, daß die Mitose, bei der sich die Chromosomen eines Zellkerns verdoppeln und teilen, mit der Hilfe von ehemaligen Symbionten zustandekam. Für kurze Zeit treten bei jeder Mitose nämlich winzige Mitosespindel auf, die möglicherweise einst schnell rotierende Spirochäten waren und die notwendige innere Zellbewegung leisten. Auch die Geißeln der Spermien, die Flimmerhaare der Eileiterzellen oder die Epithel, die Schmutzteilchen aus den Bronchien entfernen, könnten von einstmals autonomen Spirochäten abstammen. Zu dieser Protistengemeinschaft traten später die von Purpurbakterien abstammenden Mitochondrien, die ihre eigene DNA besitzen und sich wie Bakterien vermehren können. Sie versorgten ihre sauerstoffintoleranten Wirte, von denen sie gefressen wurden oder in die sie als Parasiten eindrangen, mit der Möglichkeit, Sauerstoff zu verbrennen und so Energie herzustellen. Andere Protoctisten- und alle Pflanzenzellen enthalten überdies Organellen, die Photosynthese leisten. Sie stammen von offenbar unverdaulichen Cyanobakterien ab, die sich in die heutigen Plastiden verwandelt haben.

Protistenzellen, die Gemeinschaften von Bakterien, verbanden sich schließlich zu Vorfahren der vielzelligen Lebewesen, indem sie Kolonien aus Einzelzellen bildeten und sich physiologisch spezialisierten. Mit den symbiontischen Verbänden der Protistenzellen trat auch erstmals die Bildung von Arten auf, deren Individuen Gene nicht mehr zufällig austauschen. Möglicherweise sind die ersten doppelten Chromosomensätze dadurch entstanden, daß Protisten sich auffraßen, aber nicht verdauen konnten und so, wie man heute noch beobachten kann, zu Doppelzellen werden: "Fressen und Paaren waren, wie wir annehmen, einstmals gleichbedeutend."

Aber blieben die Freßfeinde einmal innig umschlungen zusammen, so hatten sie ihre Unsterblichkeit verloren. Spezialisierung in dauerhaften Gemeinschaften, wie bei jedem vielzelligen Organismus, mußte mit dem programmierten Tod der differenzierten Zellen zusammenfallen, dem nur die Geschlechtszellen entgehen, aus denen bei Pflanzen und Tieren die Embryonen durch eine streng geregelte Teilung wachsen. Pilze hingegen, die als Nachfolger der Cyanobakterien das Festland eroberten und heute noch den Pflanzen durch Symbiose mit deren Wurzeln das Überleben ermöglichen, pflanzen sich durch Sporen fort. Kommen diese unbeweglichen Gencontainer in eine feuchte Umgebung, senden sie Fäden aus, die sich durchdringen und ein Gewirr an Röhren bilden, durch deren Zellwände Kerne, Mitochondrien und andere Organellen wandern können. Pilze können zu riesigen geklonten und langlebigen Individuen heranwachsen, die keine klare Grenzen besitzen. Möglicherweise hat ein Pilzbefall von Blütenpflanzen die Entstehung der Früchte bewirkt, die zunächst wie Gallen Erkrankungen waren. Flechten, Allianzen zwischen Pilzen und Algen, waren eine der ersten und hartnäckigsten Landbesiedler, die den Weg für Pflanzen und schließlich Tiere bahnten.

Alles durchdringt sich, ist wechselseitig voneinander abhängig, ist Wirt und Parasit, vernetzt sich - Möglichkeitsbedingung für das geschlossene System der Biosphäre, in dem außer Energie keine Materialien ein- oder ausfließen, sondern nur recycelt werden. Dazu trägt jeder Organismus bei, der nicht nur sich selbst erhält und fortpflanzt, sondern auch seine Umwelt formt, die von Organismen ebenso überquillt wie jedes einzelne vielzellige Lebewesen. "Leben endet nicht bei komplexen Zellen und vielzelligen Wesen", sagen die Autoren, "sondern ging weiter und formte Gesellschaften, Gemeinschaften und die lebendige Biosphäre selbst." Und weil in der Evolution Individuen durch Vergemeinschaftung neue übergeordnete und komplexere Individuen geformt haben, könnte es auch sein, daß die Menschen heute durch ihre Technologien, nicht anders wie die Mikroorganismen, sich immer stärker verbinden und ein "übermenschliches Wesen" zu bilden beginnen, wobei die Menschen gewissermaßen das Gehirn des globalen Wesen darstellen sollen. Das ist eine der "wissenschaftlichen Erzählungen", die die Autoren als Synthese von "verifizierbaren Tatsachen und persönlicher Sinngebung" anbieten. Irgendwie wollen die Autoren unbedingt, daß nicht der Zufall die Welt des Lebens regiert, sondern Bewußtsein, Ziel und Wille. Weil in der Evolution immer größere und komplexere Einheiten entstanden sind, dient sie nun dazu, die Individualisierung zu geißeln und voller Sehnsucht auf ein Größeres zu hoffen, das irgendwie besser, jedenfalls fortschrittlicher und überlebensfähiger zu sein scheint: "Zu den erfolgreichsten - das heißt, zahlreichsten - Lebewesen auf der Erde gehören solche, die sich zusammengetan haben." Symbiose ist gut, auch wenn sie durchs Gefressenwerden entstehet.

Aber Lynn Margulis ist nicht nur Professor für Biologie an der University of Massachussets, sondern auch Co-Direktorin des Planetary Biology Internship der NASA - und damit zuständig auch für das Extraterrestrische, wodurch die NASA, um zu überleben, entweder die Entdeckung von Leben auf anderen Planeten oder die Besiedlung des Weltraums als Zukunftsaussicht benötigt. Noch ist das Leben auf der Erde einzigartig, und unser Überleben, trotz aller Cyborgisierung, an die Existenz von vielen Arten geknüpft, die sie, einschließlich der Mikroben, beim Flug in den All mitnehmen und in die kleinen Arche-Noah-Gehäuse von künstlichen Biosphären mit geschlossenen Kreisläufen mitnehmen müßten, in denen sich das Leben und die Menschheit "ausknospen" könnte.

Vielleicht also trägt die Technologie endlich Keime des Lebens zu anderen Planeten - und leistet das, worauf man heute wie etwa Zubrin von der NASA spekuliert: "terraforming" von planetaren Wüsten mit der Hilfe von Bakterien. Und weil die Menschheit das Leben auf der Erde beim besten Willen nicht gänzlich ausrotten können wird, besteht kein Grund zur ökologischen Katastrophenstimmung oder zur Kritik an der Technik, was ja auch keineswegs NASA-freundlich und amerikanisch optimistisch wäre: "Die Natur ist nicht am Ende, und der Planet muß nicht gerettet werden. Die technologische Dissonanz bedeutet kein Ende, sondern eine Flaute, ein Kräftesammeln." Auch ohne Menschen und die vielen ausgestorbenen Arten wird das Leben weitergehen. Aber nicht damit endet das Buch. Die Autoren vernehmen hinter der "unablässigen Metamorphose des Planeten" eine "neue Pastorale":

Die Melodie verheißt eine zweite Natur, wenn Technologie und Leben gemeinsam die Keime der vielfältigen Arten der Erde zu anderen Planeten und in ferne Sonnensysteme tragen werden. Aus einer grünen Perspektive ist es durchaus sinnvoll, sich für High-Tech und die veränderte globale Umwelt zu interessieren. Die Menschheit steht vor einer Wende. Die Erde wird Samen aussäen.

Und dann, am wirklichen Schluß, noch einmal das Gebet, daß wir nicht nur zerstören, sondern "auf die anderen Lebewesen hören" sollen, weil wir Teil eines "lebendigen Kontinuums" seien, eingebettet in die "irdische Symphonie" - nicht des Lebens, sondern irgendwie des Bewußtseins. Der Materialismus scheint irgendwie unbefriedigend zu sein, so daß der Dualismus Geist-Körper ganzheitsbeflissen und widerspruchsintolerant zwar eher wissenschaftlich zugunsten des Körpers und der Materie aufgelöst werden sollte, aber dann doch dahinter wieder der Geist als das alles Durchdringende auftaucht. Einheit muß sein, auch wenn es letztlich nur die Überlebenden sind.

Das ist biologisch und neoliberal korrekt, aber nicht politisch. Politisch sind die Autoren nicht, höchstens metaphysisch versöhnlerisch, ohne die Fallstricke der Übertragung zu bemerken oder zu thematisieren. Unfähig oder unwillig, Unauflösbares bestehen zu lassen, was nur für den allseits problemlösenden Optimismus eine Katastrophe ist, ist eine larvierte Dissonanz das Ergebnis der "wissenschaftlichen Erzählung". Zerrissen zwischen einer angemahnten Demut und der Kritik an der menschlichen Hybris, die sowohl zur Erhaltung der Biosphäre als auch zur postbiologischen Verabschiedung des Menschen dienen könnte, schwankt der Versuch, aus der Biologie Lehren für das menschliche Leben zu übernehmen, hin und her. Katastrophen, auch wenn es sich um Kooperationen und Symbiosen handelt, haben die Evolution vorangetrieben, sind deren kreative Maschinen - aus der Sicht der jeweils Überlebenden, der Sieger, die wir alle immer und notwendigerweise sind, bis uns das Schicksal ereilt.