Demokratisierung der Aufmerksamkeit

Bill Clinton, die Erotik der Prominenz, Internet-Journalismus und "Wag the dog", die Einholung der Wirklichkeit durch den Film.

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Jetzt wird es wieder Zeit für die Kritiker der Mediengesellschaft, die mit der Prominenz der Bettgeschichten des US-Präsidenten den Verfall der Politik und des Journalismus geißeln. Früher, so schreibt etwa Michael Winter in der SZ vom 27.1., stand das Bett des Königs im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Aber die vom Bett aus getroffenen Entscheidungen über die Nation waren streng durch die Hofetikette geregelt und hatten nichts mit dem sexuellen Leben des Königs zu tun -als ob es nicht damals auch immer um Intrigen ging. Jetzt sei der König gestürzt, die Etikette abgeschafft, aber die Betten der demokratisch gewählten Herrscher mit ihren Samenspuren stünden noch immer im Auge des Bürgertums, dem die obsessiven Medien dienen. Daraus werden dann gleich die "Grenzen der Volksherrschaft" abgeleitet. Sollen wir also wieder zurück zum Sonnenkönig, zum Adel und zur Zensur?

Bill Clinton, Präsident der USA und der mächtigste Mann auf der Erde, steht im Zentrum der Öffentlichkeit, nachdem ein Ermittler, der ansonsten es nicht geschafft hatte, ihn zu demontieren, auf Teufel komm raus etwas (er)finden will, um das Weiße Haus vom politischen Gegner zu befreien und sich selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu katapultieren. Daß dabei heimlich von einer weiteren Frau heimlich Mitschnitte von Telefongesprächen mit Monica Lewinsky - deren Namen für eine Web-Domain bereits hoch gehandelt wird - gemacht wurden, ist nur ein weiteres Gewürz der Geschichte. Clintons andere Affären und mögliche Verstrickungen hatte der smarte und joviale Mann - bis auf Paula Jones - leidlich überstanden, jetzt scheint ihm die junge Frau, die durch eine mögliche Beziehung mit ihm plötzlich ebenfalls zu einer prominenten Figur wurde, das Genick brechen zu können. Dramatisch ging Clintons Popularität in den letzten Tagen zurück, während die Medien pausenlos darüber berichten und spekulieren, wie es in der Enthüllungsstory weitergeht: bestenfalls eine kleine Bettgeschichte, wie sie sich leicht zwischen der erotischen Anziehungskraft eines Mächtigen und dem verführerischen Körper einer jungen Frau ereignen kann.

Die Geschichte einer möglichen privaten Verfehlung überdeckt mittlerweile die ganze Weltpolitik und hat die Titelseiten erobert. Inzwischen bahnt sich möglicherweise wieder ein Krieg mit dem Irak an, ist der Nahe Osten weiterhin ein Pulverfaß, köchelt die Wirtschaftskrise in Ostasien noch immer und hat der Papst sich mit dem letzten großen kommunistischen Herrscher verbündet, um der Globalisierung und dem Neoliberalismus den Kampf anzusagen. Aber gegen die Veröffentlichung des Privaten der Prominenz kommt offenbar kaum etwas an, auch wenn die entsprechenden Bilder fehlen und ein Küßchen in aller Öffentlichkeit auch nicht gerade die aufmerksamkeitserheischende Offenbarung ist. Reagan und Bush, bereits etwas ältere Herren, denen die Kraft sexueller Verführung gefehlt hat, ließen die amerikanische Bevölkerung, verstrickt in Political Correctness, ausdörren. Da kam der Krieg mit dem Bösen gerade zurecht, um wenigstens die Macht zu demonstrieren und eine Geschichte zu inszenieren, der freilich das Ingedienz des Erotischen fehlt - stets ein Stimulanz für Aufmerksamkeit.

Der Krieg ist eben nicht nur eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern auch eine Fortsetzung der Aufmerksamkeitsgewinnung mit anderen Mitteln - und wird möglicherweise von Clinton zu eben diesem Zweck wieder eingesetzt. Der neue Krieg geht vielleicht, nur haben wir das noch nicht erkannt, um neue Ressourcen: um die globale Aufmerksamkeit. Ein kleiner Ersatz für fehlende Aufmerksamkeit war freilich Lady Di, die allerdings nur von der alten Machtposition des Königshauses verstoßen wurde. Aber sie war nicht an der Macht, was das Vergnügen an den Intrigen doch etwas geschmälert hat. Mit Clintons möglichen erotischen Eskapaden kann das Leben eines Prominenten dekonstruiert werden - und bei Clinton mit seiner Potenz ist das interessanter als bei Regionalgrößen Waigel oder Schröder, die zudem nur neue Beziehungen eingegangen sind. Schließlich könnte der Abgang des Präsidenten auch erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen haben.

Natürlich, Clinton steht seit langer Zeit wegen seiner erotischen Umtriebe im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Daher kann nicht verwundern, daß der in einer Liaison mit einer attraktiven jungen Frau verstrickte amerikanische Präsident auch zum Inhalt eines Films wurde. Wag the Dog kam kurz vor dem Medienrummel in die Kinos und erlebte gewissermaßen seine Bestätigung durch die Realität. Obwohl fiktional käme er an die Wahrheit näher heran, als manche einzugestehen wagen, schließlich untersuche der Film, wie es auf der Web-Site heißt, die verschwimmenden Grenzen zwischen der Politik, den Medien und dem Showbusiness. Aufgeboten sind prominente Schauspieler wie Robert de Niro oder Dustin Hoffmann, zwei Medienberater des fiktiven Präsidenten, die ihm helfen sollen, die Enthüllung der Affaire zwei Wochen vor seiner Wiederwahl zu verhindern. Und was machen sie? Die Manipulateure der Medien und der Öffentlichkeit ziehen die Aufmerksamkeit vom privaten Leben des Präsidenten ab und inszenieren eine neue und spannendere Geschichte: eben einen Krieg, in diesem Fall mit Albanien, wobei die Berichterstattung über den gefakten Konflikt - die Anklänge an den Golfkrieg sind unübersehbar - von einem bekannten Hollywood-Produzenten (Dustin Hoffman) und seinem Krisenstab gelenkt wird. Das Weiße Haus stritt natürlich eilends ab, daß die Erwägungen, den Irak militärisch zur Einhaltung seiner Verpflichtungen zu zwingen, irgendetwas mit Clintons gegenwärtigen Problemen zu tun haben.

An die Öffentlichkeit gebracht wurde die Geschichte durch einen Journalisten, der auch eine Zeitlang für Wired gearbeitet hatte und mittlerweile auf dem Internet eine Site unter seinem Namen anbietet: Drudge-Report. Die Geschichte, die eigentlich bei der Newsweek lag und dort noch vor einer etwaigen Veröffentlichung überprüft wurde, lancierte er mit dem neuen Medium als Alleinkämpfer. Für manche Angehörigen der alten Medien wurde dadurch demonstriert, daß der Journalismus sich im Zeitalter der Computernetze tiefgreifend verändert. Tatsächlich geht die Aktualität - und das ist es, was Informationen in der Aufmerksamkeitsgesellschaft auszeichnet - vom Radio und Fernsehen allmählich auf das Netz über, während die gedruckten Medien immer zu spät kommen und so ihren Neuigkeits- und Aufmerksamkeitswert verlieren. Sie leben noch einzig, weil man Zeitungen am Küchen- oder Kneipentisch, in Zügen oder U-Bahnen problemlos mit sich führen und sich so von der Nahumgebung in die ferne Aufmerksamkeitswelt flüchten kann. Das mag nicht immer so bleiben. Schleichend allerdings verändert sich der Journalismus durch die Annäherung an die Echtzeit: die Filter fallen und die Konkurrenz wird größer, weil im Prinzip jeder mit dem Web sein eigenes Nachrichtenmedium aufbauen kann, wenn er es denn schafft, prominent zu werden und Aufmerksamkeit zu finden. So hatte die noch nicht mit einer Web-Site gesegnete Newsweek, die die Enthüllung erst später veröffentlichen wollte, wegen der vorzeitigen Bekanntgabe durch den Drudge-Report die Story doch noch schnell vier Tage vor der gedruckten Ausgabe in AOL publiziert.

Das Internet beschleunigt den Informationsfluß, schließlich können Nachrichten jetzt weltweit in großer Schnelligkeit verbreitet werden. Plötzlich rutschen auch regionale Medien in Konkurrenz zu den großen, können mit ihnen mithalten und alle erreichen. Und wie es bei Nachrichten so ist, kommt es darauf an, wer sie zuerst bringt. Darüber können Minuten entscheiden. Weil Information schon längst Ware geworden ist und daher der Aufmerksamkeitswert zählt, können sich freilich auch Gerüchte oder unhaltbare Vermutungen in Windeseile verbreiten. Nachprüfen kann man ja später. Offenbar hat, wie Wired hämisch berichtet, Dallas Morning News auf ihrer Web-Site drei Stunden lang eine Story veröffentlicht, daß ein Geheimdienstmitarbeiter ein Verhältnis zwischen Clinton und Lewinsky bezeugen würde. Weil das aber nur ein Gerücht war, hat man ganz im Sinn des Fort-Da-Spiels schnell die Story wieder vom Netz geholt, als ob nie etwas geschehen wäre, während sie aber noch in den Nachrichten von Fernsehsendern lief, die anscheinend langsamer sind. Journalisten kupfern, um den permanenten Aktualitätsstand in Konkurrenz mit anderen zu halten, gerne voneinander ab. Was wie Berichterstattung aussieht, ist oft Ware bestenfalls aus zweiter Hand, geklonte Information. "Printmedien bemerken, daß Inhalte im Web", so gibt Wired Bob Steele vom Poynter Institute wider, "nur schwer zu kontrollieren sind. Zeitungen können genau die Distribution der gedruckten Ausgabe nachvollziehen, aber im Web kann jeder Kopien machen, URLs mailen oder beliebige Seiten verlinken." Doch dieser Vorfall zeigt, daß nicht das Internet die Standards der Berichterstattung senkt, sondern daß der Run nach Aktuellem, Neuem und Spektakulärem, um die Quote, Auflage oder Zugriffsstatistik zu heben, das Problem aller Medien ist. Das Internet wird nur gerne als neuer Konkurrent für alles verantwortlich gemacht.

Aber es ist nicht nur eine Geschichte über den Journalismus und über Verfehlungen, Schwächen und Verführungen, sondern auch eine des Kampfes um Aufmerksamkeit, der in der Mediengesellschaft mit ihren kollektiven Aufmerksamkeitssystemen, die permanent Neues liefern müssen, immer dominanter wird. Vielleicht sieht man hier die ersten Aufstände derjenigen, die keine Aufmerksamkeit genießen und sich mit allen Mitteln dennoch zu Prominenten machen wollen, indem sie deren Kapital anzapfen. Noch kursieren in den Medien vorwiegend die Eliten der Aufmerksamkeitsgesellschaft, nur hin und wieder schafft es jemand, aus dem Nichts durch irgendeine möglichst spektakuläre Tat die fünf Minuten Ruhm zu erlangen, von denen Andy Warhol sprach. Die Menschen wollen keine Zuschauer mehr sein, sondern in den Mittelpunkt des Geschehens rücken. Talk-Shows und andere Mitmach-Sendungen sind in den letzten Jahren daher explodiert, während das Internet sich durchgesetzt hat und interaktive Spiele ihren Siegeszug antraten. Gleichzeitig wird mit zunehmender Medienvielfalt und dem Auseinanderbrechen der Öffentlichkeit der Markt der Aufmerksamkeit immer umkämpfter, steigen die Schwellen, es zu mehr als einer regionalen Bedeutung zu bringen.

Dabei muß es freilich nicht nur darum gehen, persönlich prominent zu werden, sondern möglicherweise ein Thema, eine Bewegung oder nur ein Ereignis prominent zu machen. Daher hüllt man das Reichtagsgebäude ein oder stellt Tier- bzw. Menschenkadaver aus, läßt permanent eine Web-Cam Bilder aus dem eigenen Zimmer liefern oder bekennt sich zu irgendwelchen Absonderlichkeiten, buhlt um die provozierendste biotechnologische Innovation oder führt Verbrechen und Anschläge durch, die alles bisher Dagewesene an Ausmaß oder Sinnlosigkeit übertreffen. An Bomben und Massentötungen haben wir uns schon gewöhnt. Die AUM-Sekte in Japan hat mit ihrem Giftgasattentat in der U-Bahn Tokyos schon gezeigt, wo die nächste Steigerung liegen wird: im Einsatz von biologischen Massenvernichtungsmitteln. Das alles ist die Demokratisierung der Aufmerksamkeit, an deren Schnittstelle die Medien sitzen. Das Internet hat sicherlich dazu einen wesentlichen Beitrag geliefert, weil nun auch ein Einzelner ohne die Filterung von Redaktionen mit der richtigen Strategie Prominenz erreichen kann, wie das Drudge vorgeführt hat. Die Strategie, die Aufmerksamkeit von schon Prominenten auf sich weiterzulenken, ist eine Möglichkeit, die oft funktioniert.