Maßvolle physische Gewalt

Großbritannien: Lehrer dürfen härter gegen Schüler vorgehen

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Britische Lehrer können ihre Schüler in Zukunft härter anfassen und bestrafen, ohne sich vor der gebräuchlichen Entgegnung des Schülers: "Fassen Sie mich nicht an! Ich kenne meine Rechte!" zu fürchten. Das ist ein Novum des aktuell in Kraft getretenen "Education and Inspections Act 2006". Der Erziehungsminister Alan Johnson stellte es am Dienstag der nationalen Lehrergewerkschaft vor und erntete Tags darauf harte Kritik für die andere Seite der neuen Strategie: Unruhestifter über Lob zu besseren Menschen zu erziehen.

Die neuen Richtlinien für bessere Disziplin an britischen Schulen gehören zum größeren Programm des britischen Premierministers, der "antisozialem Verhalten" seit längerem schon den Kampf angesagt hat: Blair will "antisoziales Verhalten" ausrotten. An die vom Regierungschef propagierte "moderne Kultur des Respekts" appellierte auch der Erziehungsminister Johnson in seiner Rede vor der Lehrergewerkschaft. Drei große "R" waren seine Signale zu einer nötigen Trendwende: Rules (Regeln), Responsibility (Verantwortlichkeit) und Respect.

Was dies in der Praxis an den Schulen heißt, wurde schon zuvor diskutiert. Seit Anfang April, so die Ankündigung, haben englische Lehrer zum ersten Mal das gesetzlich verankerte Recht ("statutory"), maßvoll physische Gewalt anzuwenden, wenn "das Verhalten von Schülern eine Gefahr für sie selbst oder andere darstellt". Zum Beispiel, wenn Schüler in einen Kampf verstrickt sind. Sogar außerhalb der Schule können britische Lehrer nach den neuen rechtlichen Grundlagen disziplinierend eingreifen, wenn Schüler auf dem Weg von oder zur Schule sind. Darüberhinaus wurde den Lehrern das Verhängen von Nachsitzen am Nachmittag oder am Wochenende erleichert.

Auch zuvor hatten Lehrer schon ähnliche Befugnisse, allerdings war die rechtliche Situation offener für Interpretationen, da sie dem case law unterlagen. Mit dem gesetzlich verbrieften Rechten, so Experten , seien die Interpretionsmöglichkeiten wahrscheinlich etwas eingeengter. Klar geregelt ist der "letzte Ausweg", die körperliche Gewalt, allerdings auch jetzt nicht. Das Bildungsministerium (Department for Education and Skills) bekräftigt nach Aussagen der Experten, dass die legale Definition von "reasonable force" weiterhin erst durch case law in den Gerichten genauer bestimmt werde. Körperliche Züchtigung als bloße Bestrafung ist jedoch weiterhin verboten.

Und wenn man sich genauer vor Augen führt, welchen Beschränkungen das Verhängen von Nachsitzen nach den neuen Richtlinien unterliegt, wird die Ahnung bestätigt, dass hier zwar ein Schritt zurück zu alten Methoden unternommen wird, was aber leicht zu umgehen ist. Gegen Schüler, die einfach aus der Schule rausgehen, ist wenig auszurichten. Es bleibt letztendlich nur der Schulverweis, den einige offensichtlich trotz guter Ermahnungen nicht fürchten.

Die Anzahl der Schüler, die von den größeren Schulen verwiesen werden, sei weiter gestiegen, bemerkte der Telegraph gestern. Ein neues Patentrezept, wie mit solchen Schülern umzugehen wäre, die sich in ihrer Verweigerungshaltung unverwundbar zeigen, hat auch das englische Erziehungsministerium nicht zu bieten.

Man versucht es anscheinend nun auch mit positiven Anreizen für Störenfriede ("unruly and disruptive pupils"). So darf deren iPod, Handy oder anderes Gadget nach den neuen Regelungen zwar leichter konfisziert werden. Andererseits bekommen sie als Belohnung für gutes Verhalten auch mal einen iPod geschenkt - das wird von britischen Zeitungen wiederum scharf kritisiert.

Interessant ist, dass sich der Unmut der Presse nicht an den härteren Sanktionen, sondern vielmehr an den Belohnungen festmacht. An den positiven Impulsen für Unruhestifter, die Alan Johnson als Verbesserungsmaßnahmen vorschlug, entzündete sich die Entrüstung des englischen Boulevards. Ein Belohnungssystem für Troublemakers erkannte der Telegraph in den Richtlinien des Erziehungsministers, die der Maxime folgen, dass sich das Verhalten der Schüler bessern könnte, wenn Schülern mit Lob und Preisen gelockt werden. Der Evening Standard legte die neuen Regeln so aus, dass Youngsters mit schlechtem Benehmen fünf mal mehr gelobt werden müssten als bestraft oder kritisiert und ihnen obendrein großartige Preise in Aussicht gestellt werden:

They can be offered prizes and privileges ranging from non-uniform days and extended breaktimes to CDs, cinema tickets, personal music players and state-of-the-art bicycles

Der Telegraph zitiert dagegen aus dem Maßnahmenkatalog die Good-News-Postkarten, welche Gutes von bösen Schülern in deren Heim verkünden, statt der gewohnten, unheilvollen "blauen Briefe". Liest man die Kommentare zum Artikel, wird schnell deutlich, dass dieser Teil der Botschaft des Erziehungsministers nicht gut ankommt. Besondere Kritik erregt ein Passus, wonach laut Telegraph im Dokument stünde, dass bei bestimmten ethnischen Eigentümlichkeiten Diskriminierung zu vermeiden sei:

Gold rings and earrings are often viewed as an intrinsic part of Gypsy/Roma identity; Sikh pupils may be required by their religion to carry a kirpan (ceremonial knife).

Ob sich daraus in England ein Kirpan-Streit entwickelt, wie er erst kürzlich vor dem höchsten Gericht in Kanada ausgetragen wurde, ist freilich ungewiss. Im Kopftuch-Streit hat sich das Erziehungsministerium kürzlich für das Verbot von Verschleierungen an den Schulen ausgesprochen.