Kampf gegen den Terror lässt Verbrechensverfolgung erlahmen

Die Ausrichtung der US-Sicherheitsbehörden auf die Terrorbekämpfung hat zu einer Steigerung der Kriminalität und zu einem Rückgang der Strafverfolgung beim FBI, vor allem bei der Wirtschaftskriminalität, geführt

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Die Obsession, mit allen erdenklichen Mitteln und Ressourcen für Sicherheit vor dem Terrorismus zu sorgen, kann nicht nur dazu führen, dass Freiheit und Bürgerrechte eingeschränkt und allgemeine Überwachung im Zuge der Prävention ausgebaut werden, sondern auch dazu, dass andere Gefahren stärker werden können. Der vom Weißen Haus geführte Kampf gegen den Terrorismus hat den USA nicht nur Kriege beschert, die ihn erst wirklich verbreitet und gestärkt haben, der Terror diente auch dazu, andere Probleme wie beispielsweise den Katastrophenschutz (Wirbelsturm Katrina) oder die Klimaerwärmung zu verdrängen. Nun zeigt sich, dass das Starren auf Terrorabwehr auch zu einem Anstieg der Kriminalität geführt hat.

Unerbittlich verhängt die Bush-Regierung über das Land eine erhöhte Terrorwarnung. Zwar wurde gelegentlich einmal zwischen Code Yellow und Code Orange gewechselt, aber man ist offenbar der Meinung, dass trotz der Abwesenheit von Terroranschlägen in den USA und höchstens einer, wie es in Deutschland so schön heißt, "abstrakten Bedrohung" den Menschen und Behörden nicht zuzumuten ist, in der Anspannung nachzulassen. Die Nation ist im Krieg, in einem Langen Krieg, und ebenso lange muss das erhöhte oder hohe Risiko durchgehalten werden.

Die mangelnde Flexibilität zeigt, dass man von der Bedrohung nicht lassen kann und wie gebannt auf sie starrt, obgleich das eingeführte Schema eigentlich den Zweck haben sollte, auch einmal auf die niedrige Risikostufe zu schalten. Bezeichnend für die erwünschte Panikkonstanz ist, dass gar nicht vorgesehen ist, die Abwesenheit von Terrorbedrohungen anzuzeigen. Möglich ist in der Tat immer alles, und nach der Devise des Weißen Hauses müssten wir auch sonst mit permanent erhöhtem Risikobewusstsein durch den Alltag gehen, ohne einmal nachzulassen, weil stets irgendetwas passieren könnte.

Einseitigkeiten haben Folgen, früher hätte man beispielsweise von dialektischen Entwicklungen gesprochen. Wenn alle Maßnahmen gegen Terroristen gehen, die als das Grundübel und das primäre Böse gelten, sinkt die Aufmerksamkeit auf die weniger Bösen, die der alltäglichen Kriminalität nachgehen und letztlich objektiv mehr Schaden mehr bewirken als die Terroristen, die tatsächlich Anschläge ausführen – natürlich nur dann, wenn man nicht Irak oder Afghanistan im Auge hat.

Mit der vornehmlich auf Terrorbekämpfung orientierten Gründung des Heimatschutzministeriums, der Stärkung der Geheimdienste und der Umstrukturierung des FBI wurde die Strafverfolgung der Kriminalität in den USA vernachlässigt, wie die Seattle Post-Intelligencer mit eigenen Nachforschungen nun zu belegen versucht hat. Auch der Bericht The External Effects of the Federal Bureau of Investigation’s Reprioritization Efforts hatte schon 2005 auf die entstandenen Lücken bei der Verbrechensbekämpfung hingewiesen. 2004 wurden deutlich weniger Fälle in den Bereichen der Wirtschaftskriminalität, von Gewaltverbrechen, der Verletzung von Bürgerrechten, wozu Übergriffe der Polizei gehören, und der Integrität der Regierung.

Zahl der Morde zwischen 2004 und 2006. Grafik: Policeforum

Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kam auch der aktuelle Bericht Violent Crime in America: 24 Months of Alarming Trends des Police Executive Research Forum. Dazu wurden Berichte von 56 Polizeibehörden ausgewertet, die Zahlen eingeschickt hatten. Danach ist zwischen 2004 und 2006 die Zahl der Morde um 10,2 Prozent, die der Raubüberfälle um 12,27 Prozent und die der schweren Körperverletzungen mit einer Schusswaffe um 9,98 Prozent angestiegen. Besorgniserregend sei vor allem die seit 2004 stark zunehmende Zahl der Gewaltverbrechen. In den Jahren davor war die Kriminalität stetig zurückgegangen, zwischen 1992 und 2001 um 17,9 Prozent, allerdings um den Preis, dass die Gefängnisbevölkerung ebenso stetig anwuchs. 2005 waren sieben Millionen Menschen, einer von 32 Amerikanern, hinter Gittern.

Mindestens 2.400 FBI-Agenten wurden beispielsweise für die Terrorbekämpfung eingesetzt und von ihren früheren Posten abgezogen, so dass nun die Strafverfolgung von "Identitätsdieben, Betrügern, Hasspredigern und anderen Kriminellen" leidet. Besonders auffällig sei der Rückgang bei der Strafverfolgung und Anklage bei der Wirtschaftskriminalität (white-collar criminals), was zu Schäden in Milliardenhöhe führe. Lokale Polizeibehörden hätten die Lücken, die vom FBI hinterlassen wurden, meist nicht schließen können.

Grafik: Seattle-PI

Nach den Erkundungen der Seattle-PI ist die Zahl der Verbrechensfälle, die vom FBI untersucht wurden, nach dem 11.9. stetig zurückgegangen. 2005 seien noch 20.000 Fälle den Staatsanwälten übergeben worden, 2000 waren es noch 31.000, also ein Rückgang um 34 Prozent.

Untersuchungen zur Wirtschaftskriminalität seien sogar um zwei Drittel von 10.000 Fällen im Jahr 2000 auf 3.500 im Jahr 2005 gefallen. Das ist landesweit unterschiedlich. Beispielsweise wurden 2005 in Western Washington nur noch 28 Fälle von Wirtschaftskriminalität verfolgt, 90 Prozent weniger als fünf Jahre zuvor. Die Zahl der verurteilten Wirtschaftskriminellen ist landesweit um 30 Prozent gesunken. Bei den Haushaltsberatungen wurden etwa keine Gelder für die Verfolgung von Bank- oder Investmentbetrügereien oder Identitätsdiebstahl bewilligt. Es handelt sich also durchaus um politisch gewollte Verschiebungen.

Grafik: Seattle-PI

Auffällig ist nicht nur die Vernachlässigung oder größere Duldung von Wirtschaftskriminalität, sondern auch das Nachlassen der Strafverfolgung von Bürgerrechtsklagen, beispielsweise von Rassenhass und Polizeigewalt, um 65 Prozent. Selbst die Verfolgung von Fällen der Kinderpornographie ist stark zurückgegangen.

Gil Kerlikowske, der Polizeicef von Seattle, erklärt, seine Abteilung sei gar nicht dafür ausgestattet, kompliziertere Fälle von Wirtschaftskriminalität aufklären zu können. Nachdem nun die Anschläge fünf Jahre vorbei seien, müsse man die Prioritäten neue ordnen. Gegenwärtig arbeiten 55 Prozent der rund 12.500 "Special Agents" des FBI in der Terrorbekämpfung und nur noch 41 Prozent im Bereich der Verbrechensbekämpfung. Praktisch alle neue Stellen, die in den letzten Jahren für das FBI bewilligt wurden, waren auf Terrorbekämpfung ausgerichtet. Der stellvertretende FBI-Direktor Chip Burrus muss einräumen, dass die Aufklärung von Betrugsfällen eingeschränkt wurde. Fälle, bei denen es sich um Geldverluste unter 150.000 Dollar, in aller Regel auch unter 500.000 Dollar handelt, wurden nach dem 11.9. oft schon gar nicht mehr bearbeitet.