Es geht massiv um Meinung

re:publica: Der Tanz um die besten Plätze in der Medienrevolution

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ob Onlinemedien Printmedien verdrängen, ist genauso falsch gefragt, wie ob Blogger Journalisten ersetzen. Der Bloggerkongress re:publica hat eindrücklich gezeigt, dass gerade erst begonnen wird, das mediale Potenzial des 'sozialen Netzes' zu entdecken: Es reflektiert sich selbst und vibriert vor Leben. Es verdrängt nichts, sondern es bereichert, und es summt laut – erst in die eigenen Kanäle, dann darüber hinaus.

Das Verhältnis Print:Online ließ sich in der Diskussion über Medien(r)evolution bei den Diskutanten nur mit gutem Willen als paritätisch bezeichnen. Jochen Wegner arbeitete immerhin rund 14 Jahre für Printmedien, jetzt ist er seit einem guten Jahr Chefredakteur von Focus Online. Thomas Knüwer schreibt für das Handelsblatt und betreibt ein Blog mit “Notizen aus dem Journalistenalltag“. Mercedes Bunz, Chefredakteurin bei Tagesspiegel Online, arbeitete mit Ausnahme eines einjährigen Intermezzos als Chefredakteurin des Berliner Stadtmagazin Zitty fast ausschließlich bei Online-Medien. Johnny Häusler, Mitorganisator des Kongresses und Betreiber des bekannten Spreeblick-Blogs, und Tim Pritlove, langjähriger ccc-Aktivist und bekannt bis nach Indien, leben fast ausschließlich für das elektronische Medium. Dass Printmedien hier nicht so toll wegkommen, verwundert nicht wirklich. Aber auch die Online-Geschwister tun es teilweise nicht wirklich. Noch nicht.

Stärken sortieren und nutzen

Printmedien hätten immerhin zwei Vorteile: Haptik und Übersichtlichkeit. Aber bemäkelt wurde an den klassischen Tageszeitungen, dass das Format furchtbar unpraktisch sei - “Elefantenposter”, brummelte Pritlove - und dass der Platz für journalistische Artikel verdrängt werde zugunsten wiedergekäuter, massenhafter Agenturmeldungen. Thomas Knüwer kommentiert kritisch:

In Redaktionen herrscht der Reflex: "Das müssen wir haben!" Die Zeitungen glauben, eine Vollständigkeit der Nachrichten bieten zu müssen, was man aber eigentlich nicht mehr braucht.

Also schnelle Nachrichten im Internet und 'richtige' Artikel auf Papier? Das ist ein Trugschluss, weiß Knüwer: Kürzlich erst widerlegte eine amerikanische Studie die Annahme, dass online nur kurze Artikel gelesen würden – im Gegenteil, die Aufmerksamkeitsspanne ist für Artikel im Internet sogar größer. Ist die Furcht also berechtigt, dass Online-Formate den Tageszeitungen den Rang ablaufen (vgl. Haben Zeitungen in Konkurrenz mit Onlinemedien noch eine Zukunft?)?

Die Trennung beider Medienformate sei durchaus berechtigt: “Es ist beides Schrift, aber es ist ein anderes Produzieren in der Zeit”, versuchte Mercedes Bunz zu differenzieren. Das ist auch der Grund, warum es immer zwei Redaktionen gibt. Allerdings schließen sich diese unterschiedlichen Eigenschaften nicht aus. Ein komplementäres Verhältnis lasse etwa beim Stadtmagazin Zitty schmerzlich missen. Die Möglichkeit, schnell und gezielt Kino-Filmvorführungen in nächster Nähe zu finden, etwa durch Suche nach Postleitzahl, sei in diesem Beispiel sehr schlecht erschlossen, genauso wie ein ansprechendes Design bei Tagesspiegel Online. In diesen Beispielen werden die Stärken des Online-Mediums nicht genutzt.

Auch müsse die Zusammenarbeit zwischen den Redaktionen verbessert werden, wofür es zur Zeit schlicht an einem effizienten elektronischen Redaktionssystem mangelt – darin waren sich alle einig. Sonst könnte man reibungslos zum Beispiel ein Interview in voller Länge ins Netz stellen, während nur ein Teil den Weg in die Druckversion findet. Das Internetmedium bietet sich hier als Verlängerung an – es hat ja auch mehr Platzkapazität. Und was eine gute Zeitung ausmacht, sei eben genau dieses Filtern von Nachrichten.

Die Unterteilung nach Medienformaten ist aber eigentlich gar nicht der Knackpunkt. Stattdessen scheint es zukunftsträchtiger, jedes Medium an sich als Angebot einer eigenen Zielgruppe zu begreifen, egal ob gedruckt oder online. Bunz kleidet das in den Begriff der Marke:

In Zukunft wird man nicht mehr von Medien wie Tageszeitung reden, sondern von Marken. Marken binden jeweils ihre Leser. Deswegen wird ein Konflikt der verschiedenen Medien nicht stattfinden.

In diesem Medienmarken-Konzept bindet also nicht die stoffliche Beschaffenheit die Leser, sondern die Charakteristik, die eine jeweils eigene Zielgruppe bedient. Die Medien entwickeln sich weiter – aber deswegen müssen sie einander nicht zwangsläufig ablösen. Sie sollten lieber anfangen, ihr Potential auszuschöpfen.

Blogger ergänzen Themenspektrum

Die Sache mit der Charakteristik kann vielleicht auch den angeblichen Konflikt zwischen Bloggern und Journalisten auflösen. Die "fünfte Gewalt", der sogenannte Bürgerjournalismus, ist genau dieses 'r', was die Medienevolution paradoxerweise gleichzeitig eine Medienrevolution sein lässt. Das Revolutionäre daran ist nämlich – das hörte man an mehreren Stellen auf dem Kongress – die “Demokratisierung der Produktionsmittel”: Jeder, der über einen Internetanschluss verfügt, kann jetzt öffentlich Themen setzen.

Defizite im Journalismus (vgl. Die Amateure kommen) hatten die Angst aufkommen lassen, dass der Bürger dann eben seinen eigenen Journalismus macht (vgl. Die Entdeckung der Bürger). Katharina Borchert, trotz jungen Alters langjährige Netzbürgerin und seit 2006 Online-Chefredakteurin der WAZ Mediengruppe, hält diese Diskussion für eine “künstlich verkomplizierte”, die lediglich von Journalisten und Medienwissenschaftlern geführt wird.

Die Diskussionsrunde zum Citizen Journalism wartete denn auch mit dem Blogger Jens Matheuszik auf, der in seinem Pottblog unter anderem über regionalpolitische Themen schreibt. Deswegen wurde er eingeladen. Er hatte wichtige Anliegen in der Presse nicht thematisiert gefunden und sich dann selbst der Sparkassenfrage in Nordrhein-Westfalen angenommen. Er wusste aber nicht so recht, warum er jetzt eigentlich auf dem Podium sitzt:

Ich würde mich nie als Journalisten sehen und würde auch nicht als Bürgerjournalist zu irgendwelchen Zeitungen in Konkurrenz treten.

Woher kommt die Angst der Journalisten? Der Informatiker und ehemalige Kabarettist Jörg Kantel, der einen der ältesten Blogs Deutschlands betreibt, den Schockwellenreiter, bestätigte das Defizit an lokaler Berichterstattung. Demnach kann Bürgerjournalismus auftreten, wo wichtige Themen aus Gründen der Quote in der Presse nicht auftauchen. Der Berliner Bezirk Neukölln zum Beispiel habe 320.000 Einwohner, er tauche aber höchstens in den Polizeimeldungen auf – nicht aber im Lokalteil von Zeitungen. So werden Blogger zum Komplement der Massenmedien: Das ist eine neue Teilöffentlichkeit, die zum Beispiel auch durch bloggende Wissenschaftler oder bloggende Journalisten mit den Medien interagiert, eigene Kanäle hat, die man nutzen kann, aber nicht muss. Ist das schlimm?

“Es geht ganz massiv um Meinung”

Auch wenn ein Blogger recherchiert oder mit seinem Blog Geld verdient, gab Katharina Borchert zu bedenken, ist er noch kein Journalist und will vielleicht auch gar keiner sein. Das Bedürfnis sowohl bei Blogschreibern als auch bei Bloglesern liegt darin, Themen Relevanz zu verschaffen, die ansonsten nicht präsent wären – und sei es ihr eigenes Leben und Erleben. Dabei geht es um Meinung, und über die Kommentarfunktion von Blogs geht es vor allem um den Austausch von Meinung.

Eine Blogstudie der Universität Leipzig kommt zu Ergebnissen, die aufgrund der Zahl und Art der Befragten zwar nicht repräsentativ genannt werden können, aber Aufschlüsse zulassen für den Teil der “Heavy-User”, die in der Blogosphäre “zu Hause” sind. Hiernach lesen zwei Drittel der rund 600 befragten Personen Blogs, weil sie etwas lesen wollen, das sie nicht aus den Medien erfahren. Die Hälfte gab an, Empfehlungen und Tricks erfahren zu wollen, sowie Hintergrundinformationen zu aktuellen Themen. Vielleicht ist die Furcht der klassischen Medien, die Meinungshoheit zu verlieren, ein Irrtum: Man hat sie gar nicht gehabt, die anderen haben nur bisher geschwiegen.

Das Bedürfnis ist offenbar da, sich zu äußern, und mit Blogs hat jeder die Möglichkeit dazu. Es gibt dabei eher themenzentrierte Blogs und eher personenzentrierte Blogs. Sachzentrierte Blogs werden oft von Autorenkollektiven geführt, aber auch von Einzelpersonen kann ein bestimmtes Thema in den Vordergrund gerückt werden. Solche Themenblogs können Informationen anhäufen und dadurch eine (Gegen-)Öffentlichkeit schaffen. Im Bildblog steht die Sache im Vordergrund, indem der gleichnamigen Boulevardzeitung seit fast drei Jahren akribisch jeder Fehltritt nachgewiesen wird. Diese spezielle Leistung könnten Journalisten gar nicht erbringen, denn davon lässt sich nicht leben.

Es ist ein Unterschied, ob man mit der Schreiberei seinen Lebensunterhalt verdient oder ob man ausschließlich seinen eigenen Interessen folgen kann. Auch wenn explizit politischer Einfluss ausgeübt werden will (vgl. Eine Stadt, in der sich gut leben läßt), ist der Antrieb hier Leidenschaft für ein bestimmtes Thema, ein "Steckenpferd", das gerade durch seine subjektive, authentische Vertretung glaubwürdig wirkt.

Beispiel: Stadtblogs

Dass dieses subjektive Interesse an bestimmten Themen eine Verbindung mit journalistischem Arbeiten eingeht, wie Berichten oder Rezensieren, demonstrieren die Stadtblogs. Sie zeigen auch die Grenzen des Bürgerjournalismus, und dass diese Bürgerjournalisten genau das wollen, was sie tun: Themen eine Öffentlichkeit geben, die ganz speziell sie interessieren und die sie in den etablierten Medien unterrepräsentiert finden. Wie öffentlichkeitswirksam der Blog dann ist, hängt vom Zuspruch der Leser ab, und wie journalistisch die Beiträge sind, hängt vom Aufwand des Bloggers ab: von seiner Lust und Zeit, möglichst gute Texte zu schreiben. Die Autoren des Berliner Hauptstadtblogs beobachten an sich, dass der Anspruch steigt, je mehr Leser man hat. Auch das Gefühl der Verantwortlichkeit steigt: Jeder muss schließlich seine Abmahnung selbst bezahlen, wenn er eine bekommt.

Dennoch üben Blogger einen anderen Beruf aus, als Journalist zu sein. Der Initiator des Hauptstadtblogs, Matthias Schlecker, ist Doktorand an der Europäischen Wirtschaftshochschule Berlin. Er betrachtet sein Projekt, das 1.200 Zugriffe am Tag verzeichnet, als “Hobby, bei dem er seinen kreativen Überschuss abladen kann”. Sein Autorenteam umfasst rund 30 Leute, von denen aber ca. 10 aktiv sind, wovon jeder wiederum mal mehr, mal weniger schreibt. Einer ist Student, eine ist Lektorin, ein anderer ist vielleicht arbeitslos. Sie leben alle in verschiedenen Teilen Berlins. Das Ziel des Hauptstadtblogs ist klar: Sie wollen ihre individuelle Sicht auf die Stadt beschreiben, bei der jeder “seine eigene Brille auf” hat.

Es gibt eine Presseschau der Lokalberichterstattung, Berichte, manchmal sogar Reportagen, und regelmäßig Veranstaltungsempfehlungen. Im Vordergrund steht die persönliche Empfehlung und nicht der Anspruch auf Vollständigkeit. Ein Mitautor, der seit drei Monaten dabei ist, findet toll, dass er “ein ganz waches Auge für ganz andere Themen” entwickelt hat. Aber auch private Einträge können eingestellt werden, solange sie irgendeinen Bezug zu Berlin haben. Das ist Bedingung. Sonst ist alles frei. Mit Dilettantismus haben die Autoren kein Problem: Er erzeugt Authentizität.

Diese Art Lokalberichterstattung gibt es auch ohne die neuen Medien, zum Beispiel in Form von Stadtteilzeitungen oder ganz kleinen Lokalblättern. Nur bietet das 'soziale Netz' die Möglichkeit, durch Verlinkung der Lokalität eine größere Öffentlichkeit zu geben. Barnim ist eine kleine Region nordöstlich von Berlin. Hier gibt es auch seit 1997 die "Barnimer Bürgerpost" – ein 16-seitiges, monatlich erscheinendes Lokalblättchen mit einer Auflage von 450 Stück, das ehrenamtlich geschrieben und herausgegeben wird. Das ist auf dem Barnim-Blog verlinkt: Das nennt sich BAR-Blog, und hier wird ebenfalls über Angelegenheiten der Region geschrieben.

Weitere Stadtblogs wie die Kassel-Zeitung und die Dresdner Umgebungsgedanken bieten manchem Reisenden eine erste Anlaufstelle, wenn sie nach Informationen über die Gegend suchen. Eine Besucherin des Workshops „Hauptstadtblog“ erzählte, dass sie sie sich nach genau solchen Internetseiten umschaut, wenn sie in eine Region reist. Der Informationsgehalt (validity) und die Glaubwürdigkeit (credibility) machen den Unterschied.

In Sachen Lebenswirklichkeit und Meinungsaustausch – übrigens auch in Sachen entspannender Albernheit - haben Blogger jetzt schon die Nase vorn. Und manchmal wissen sie auch mehr und meinen auch noch ganz viel: Hallo, Pluralismus!