ICANN als Zensor?

Von der virtuellen Straßenprostitution zum Online-Rotlichtbezirk?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Wellen um das Pro und Contra einer Internet Top Level Domain (TLD) .xxx für die sogenannte "Adult Industry" schlagen seit mehr als sechs Jahren hoch, haben zu einer Vielzahl von kontroversen Debatten geführt und sind teilweise an Heuchelei nicht zu übertreffen. Aber das Projekt ist ebenso wie das Verfahren eine interessante Fallstudie über das heutige Verständnis von Internet Governance. Bei der letztendlichen Entscheidung um die Einführung von .xxx hatte die zuständige Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) Anfang April bei ihrer 28. Tagung in Lissabon die Wahl zwischen Pest und Cholera. Bei einer Entscheidung gegen .xxx dorhte ihr ein millionenschweres Gerichtsverfahren des Bewerbers ICM Registry. Bei einem Ja für .xxx hätte sich ICANN in einem offenen Konflikt mit den Regierungen begeben. ICANN hat sich für Frieden mit den Regierungen entschieden, riskiert nun aber nicht nur den juristischen Schlagabtausch sondern auch eine neue Debatte über ihr Mandat und die Rolle in der Internet-Weltpolitik.

Als ICANN im Jahr 2000 einen Aufruf veröffentlichte, sich für neue generische Top Level Domains (gTLDs) zu bewerben, formierte sich auch ein Konsortium unter dem Namen ICM Registry und bewarb sich um .xxx. Das Argument des Bewerbers war zunächst simpel und einleuchtend. Das Internet ist voll von Pornographie. Es wäre besser, wenn man die auf viele Top Level Domains verstreuten Anbieter von Schmuddelkram unter einem Dach versammeln könnte und auf diese Weise aus einer Art unkontrollierten virtuellen Straßenprostitution einen mehr kontrollierten Online-Rotlichtbezirk mache. Das würde dem Jugendschutz ebenso dienen wie der Milliardenindustrie, die hinter dem Online-Sexbusiness steht, argumentierte Stuart Lawley, CEO von ICM. Einerseits könnten durch Filter die Sexseiten bei Endnutzern, die das wünschen, besser geblockt werden und die Sexindustrie könnte besser überwacht werden was z.B. den Kampf gegen illegale Kinderpornographie erleichtern würde. Andererseits könnte die Online-Sexindustrie dadurch aus der Schmuddelecke heraustreten, legale Geschäfte würden stärker akzeptiert und man könnte besser gegen schwarze Schafe der Branche vorgehen.

Das damalige ICANN Direktorium betrachtete diesem Vorschlag dennoch zunächst etwas pikiert und wies ihn auch mit dem Argument zurück, das man ja keinen Anbieter von Online-Sex zwingen könnte, sich unter .xxx zu registrieren. Das war im Übrigen das gleiche Argument, mit dem auch der Vorschlag für .kids, eine speziellen Domain für kindergemäße Webseiten, abgelehnt wurde.

ICM Registry ließ sich davon aber nicht beeindrucken, sondern bewarb sich erneut, als ICANN im Jahr 2003 eine zweite TLD-Runde startete. Zunächst schien das kein großes Problem zu sein. ICANN hatte in der Diskussion um Internet Governance im Rahmen des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS) immer wieder betont, dass es ein rein technisches Mandat habe und für die politischen Implikationen des Managements des Internet nicht zuständig ist. Man sei keine "Weltregierung des Internet" und schon gar nicht ein Zensor, der der Community sagt, was gut und böse ist.

Als sich ICANN also mit dem .xxx-Vorschlag beschäftigte, schaute das Direktorium primär darauf, ob ICM Registry die technischen, operationellen und finanziellen Kriterien erfüllt, die man an den Betrieb einer TLD-Registry stellen muss, und hielt sich mit Bemerkungen zum Inhalt des neuen Namens zurück. Man stellte das Projekt neben den anderen Vorschlägen wie .asia, .mobi oder .tel auf der ICANN-Website für acht Wochen zur öffentlichen Diskussion. Und da keine großen Einwände kamen, sahen die ICANN-Direktoren keinen großen Grund, den Vorschlag abzulehnen. Man beschloss, im Frühjahr 2005 Verhandlungen mit ICM Registry über einen Vertrag für .xxx aufzunehmen.

Heuchelei auf allen Ebenen?

Dabei hatte das ICANN-Direktorium nun aber die Rechnung ohne den vermeintlichen Wirt gemacht. Der bis dato schlafende "Beratende Regierungsausschuss" (Governmental Advisory Commtitee - GAC) wachte bei seiner Sitzung in Luxemburg im Sommer 2005 plötzlich auf und fragte, was denn ICANN dazu berechtige, einen virtuellen Rotlichtbezirk zu schaffen? Die Regierungsvertreter von Saudi-Arabien und Iran im GAC läuteten die Alarmglocke und geißelten die von ICANN vertretene Unmoral. ICANNs CEO Paul Twomey wies die Vorwürfe zurück. Erstens gäbe es weiß Gott auch ohne .xxx schon genug Pornographie im Netz. Und zweitens hätten Regierungen ja acht Wochen Zeit gehabt, sich zum Thema zu äußern. ICANN sei für inhaltliche Fragen nicht zuständig, und wenn sich das GAC nicht meldet, würde man nun eben nach den festgelegten Verfahren vorgehen und Vertragsverhandlungen aufnehmen. Selber schuld

Das rief das GAC nun erst recht auf den Plan, weil plötzlich die Frage im Raum stand, wer hier eigentlich was bestimmt. Die xxx-Frage sei eine Angelegenheit der öffentlichen Politik und falle daher primär in die Zuständigkeit der Regierungen, argumentierten einige GAC-Mitglieder. Andere sagten, die Regierungen seien zwar für einige generelle Prinzipien zuständig, aber beim Weltgipfel in Tunis (WSIS) hätte man sich darauf geeinigt, die technische Koordinierung des Internet der privaten ICANN zu überlassen und eine neue TLD sei nun mal primär ein technisches Problem. Überdies sei die Rechtslage in Bezug auf die Bewertung von spezifischen Informationsinhalten von Land zu Land sehr unterschiedlich.

Das GAC konnte sich nicht ohne weiteres auf eine einheitliche Position einigen, schickte aber nach der ICANN-Tagung in Wellington im Frühjahr 2006 einen zehnseitigen Brief an den ICANN-Vorstand mit einer langen Liste von Bedenken. Die ganz Sache spitzte sich weiter zu, als konservative religiöse Gruppen der USA plötzlich über diese Frage stolperten und in Brandbriefen an den US-Kongress das Verbot einer .xxx-Domain durch die US Regierung forderten. "Triple X" sei mit den Werten und Gefühlen der Amerikaner nicht vereinbar, war die Botschaft aus dem Mittleren Westen, die die Erzkonservativen in der Bush-Administration, die gestern noch gegen jedwede Regierungskontrolle das Internet und ICANN auf dem WSIS-Gipfel zu Felde gezogen waren, nur allzu gern aufgriffen.

Es war insofern weniger der Brief des GAC-Vorsitzenden Sharil Tarmizi als der des US-Handelsministeriums an den ICANN-Vorstand, der einige ICANN-Direktoren plötzlich zurückzucken ließ.

Dabei gab es nicht wenige Regierungen, die auf das Recht auf freie Meinungsäußerung verwiesen und obendrein auch die Möglichkeit sahen, den etwas zwielichtigen Bereich über eine TLD besser kontrollieren und so die Strafverfolgung von illegalen Inhalten wie Kinderpornographie effektiver gestalten zu können. Eine ganze TLD lässt sich überdies leichter ausfiltern als Tausende von einzelnen Websites. Aber Befürworter für .xxx fanden sich naturgemäß unter den Regierungen keine. Welcher Ministerpräsident will schon von der Boulevardpresse zitiert werden, dass er "Pornographie im Netz" unterstützt?

Pornoindustrie gespalten

Die Situation wurde noch komplexer, da auch die Pornoindustrie gespalten war. Viele Anbieter haben mittlerweile einen Brandname in der Szene und insofern nur wenig Interesse, z.B. von sex.com zu sex.xxx zu wandern. Überdies befürchten große Teile dieser "Industrie", dass .xxx durch Auflagen von Regierungen oder Regelungen, wonach Kreditkartenunternehmen nur noch Geschäfte in diesem Sektor über .xxx abwickeln dürfen, ihre bisherigen Freiheitsräume einschränken könnten

In der Tat geisterte in Lissabon das Argument durch die Konferenzräume, dass im Falle einer Genehmigung von .xxx der US-Kongress ein Gesetz erlassen würde, das es den "Adult Content Providern" zur Pflicht machen würde, sich unter .xxx registrieren zu lassen. Sinn aber gäbe das ja auch nur, wenn dem alle Länder folgen würden. Ansonsten taucht alles unter .nu, .cc oder .tk wieder auf.

Im Übrigen ist die ganze, mit moralischer Emphase geführte Diskussion insofern heuchlerisch, da niemand sich um weiß Gott ehr- und anstandsverletzende Domain Namen auf der zweiten Ebene kümmert. Man braucht nur einmal zu SEDO, dem weltweiten Domainnamehändler, zu gehen und nachzuschauen, welche "Secondary Domain Level" (SDL) Namen unter der Rubrik "Erotik" im Angebot sind, um die ganze Bigotterie zu erkennen. Und "www.lickmypussy.com - noch ein harmloses SEDO-Angebot - sind dann auch in Saudi-Arabien und dem Iran abrufbar. Mit .xxx könnte man in Teheran oder Riad gleich Tausende von Websites blockieren, wenn man denn verstehen würde, wie das Internet technisch funktioniert.

Regierungskontrolle durch die Hintertür?

Wie dem auch sei, am Schluss votierte das Direktorium in Lissabon nach stundenlanger hitziger Debatte mit neun gegen fünf Stimmen bei einer Enthaltung gegen .xxx. Richtigen Beifall erhielt ICANN dafür von keiner Seite Im Gegenteil: ICANN hat nun zwei neue Probleme.

Erstens wird sich ICM Registry mit juristischen Mitteln gegen den Entscheid wehren. ICM Registry, die bislang ein paar Millionen US-Dollar in das Projekt investiert hat, argumentiert, dass ICANN sich von den Kriterien der Ausschreibung, unter denen man sich beworben hat, rechtswidrig entfernt hat. Als ersten Schritt hat sich ICM Registry erst einmal das Recht erklagt, in den diesbezüglichen Schriftverkehr zwischen ICANN und dem US-Handelministerium einsehen zu können. Das ermöglicht als Seiteneffekt vielleicht auch interessante Einblicke in das wirkliche Beziehungsverhältnis zwischen ICANN und dem Handelsministerium.

Komplizierter als der Rechstreit aber könnte zweitens für ICANN ein anderer Nebeneffekt werden. ICANN hat sich mit dieser Entscheidung unvermeidlich in die Rolle eines Zensors gebracht. Es hat nicht nach technischen, sondern nach politisch-inhaltlichen Kriterien entschieden. Das verändert ICANNs Rolle im kompliziert ausbalancierten Kräfteparallelogramm von Akteuren im Bereich von Internet Governance. Was also wird passieren, wenn andere kontroverse Buchstabefolgen als TLD konstituiert werden sollen? Wen befragt ICANN dann? Oder gründet es ein Komitee, das Listen mit erlaubten und nicht erlaubten, guten und schlechten Worten führt? Eine globale Sprachaufsichtsbehörde? Einige ICANN-Direktoren wie Susan Crawford, Rechtsprofessorin an der New Yorker Cardozo Law School, haben schon auf die Konsequenzen einer solchen Herangehensweise hingewiesen. Und auf den einschlägigen Listen tobt momentan eine neue Diskussionsschlacht über die Zukunft von ICANN, die Notwendigkeit einer neuen Reform und die Schwachstellen des vorhandenen Internet Governance Mechanismus.

Noch hat ja ICANN keine eigene endgültige Politik für die Zulassung neuer gTLDs verabschiedet. Das wird für den Herbst 2007 erwartet. Aber in Lissabon geisterten schon Szenarien durch die Landschaft, wonach ICANN den Regierungen ein Veto-Recht bei der Vergabe von TLDs einräumen will. Wenn denn das so käme, da hätte man im WSIS-Prozess ICANN gleich den Vereinten Nationen unterstellen können, wenn die von den USA einmal bekämpfte Regierungskontrolle mit Unterstützung der US-Regierung durch die Hintertür der Kontrolle über gTLDs wieder hereinkommt.

Für ICANN kann das an die Substanz gehen. Das Kerngeschäft - Root Server, Domain Namen und IP-Adressen - droht ICANN aus den Händen zu gleiten. Bei der Adressvergabe ist das nicht so dramatisch. Die ist schon lange in den Händen der regionalen Internetregistries (RIRs), die über ihre Number Resource Organisation (NRO) ihre eigene Politik machen. Die NRO ist zwar als "Address Supporting Organisation" (ASO) mit ICANN eng verbunden und hat auch zwei Direktoren im Board, aber ihre Entscheidungen trifft sie ziemlich unabhängig von ICANN, sieht man mal davon ab, dass die RIRs ihre Nummernblöcke nach wie vor von der Internet Assigned Numbers Authority (IANA) beziehen. Beim Root Server-System ist es schon kritischer. Da hat noch immer die US-Regierung die Hand darüber. Die Länderdomains (ccTLDs) lassen sich in ihre durch nationale Gesetzgebung determinierten lokale Politik von ICANN nicht reinreden. Und wenn nun auch noch die finale Kompetenz für den Kern des Kerngeschäfts, die gTLDs, an das GAC abwandern sollte, dann stellen sich für ICANNs Zukunft ganz andere Fragen..

Immerhin konnte ICANN auf der Lissaboner Tagung auf einem anderen Gebiet, das jahrelang vernachlässigt wurde, einen Erfolg vermelden. Mit der Gründung vdr europäischen At Large Organisation (EURALO) haben sich jetzt vier regionale Internet Nutzer Organisationen konstituiert. Formell haben die Nutzer zwar kein Stimmrecht im ICANN Direktorium, ihre Argumente werden aber zunehmend zur Kenntnis genommen und ICANN tut auch gut daran -. Angesichts des Debakel des vom ihr akkreditierten Registrars RegistryFly sich stärker um den Konsumenten- und Verbraucherschutz bei Domainnamen und IP Adressen zu kümmern. .

Bedauert wird übrigens die negative Entscheidung zu .xxx auch von einigen kritischen Beobachtern die gerne einen Showdown zwischen ICANN und der US Regierung gesehen hätten. Es wäre ein interessanter Testfall gewesen, wenn ein TLD Root Zone File von IANA an das US-Handelsministerium zur Autorisierung der Publikation im Hidden Server geschickt worden wäre. Da die US-Regierung sich einerseits ausdrücklich gegen .xxx ausgesprochen hatte und anderseits im WSIS-Prozess immer behauptete, dass es seine Kontrolle über den Root nicht für einseitige politische Zwecke missbraucht, wäre das der Moment der Wahrheit gewesen. Vielleicht war der Druck auf das ICANN-Direktorium im Vorfeld daher so stark, um diesen Showdown zu vermeiden.

Es wird aber nicht die letzte Kraftprobe gewesen sein. Unlängst hat das US-Heimatschutzministerium (DHS), das sich bislang nur wenig um ICANN gekümmert hat, Ansprüche angemeldet, Alleinverwalter des Masterschlüssels für die neue Sicherheitssoftware DNSSec für den Internet Root zu werden. Um die "Sicherheit und Stabilität einer für US Wirtschaft und Politik kritischen Infrastruktur" zu gewährleisten, sei das notwendig. Was solche Ansprüche für politische Konsequenzen für die eben erst zu Ruhe gekommene Debatte über "Internet Governance" haben, ist noch nicht einmal andiskutiert. Immerhin hat der kanadische GAC-Vertreter die Frage in Lissabon aufgeworfen. Und da er auch Mitglied der Beratergruppe des "Internet Governance Forums" ist, wird dieses Thema bald für neue Wellen sorgen.