Träume ohne Grenzen

Weil unklar ist, welche geografischen und moral-religiösen Grenzen Israel und Palästina haben, ist ein Ausgleich zwischen beiden Seiten schwierig

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Ein Staat, zwei Staaten – was am Ende des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern das Ergebnis sein wird, ist völlig offen. Sicher ist, dass es bis dahin noch ein sehr weiter Weg sein wird, denn „einfach mit der Gewalt aufzuhören“, das ist gar nicht so einfach: In Israel gibt es eine Minderheit, die die Palästinensischen Gebiete für immer behalten will; im Westjordanland und im Gazastreifen leben derweil Menschen, die das israelische Staatsgebiet zum Teil des zu gründenden palästinensischen Staates machen wollen. Auch wenn diese Forderungen nicht Teil des jeweiligen Konsens innerhalb der beiden Gesellschaften sind, wurde dennoch akzeptiert, dass sich Gruppen bildeten, die ihre groß-nationalistischen Ziele religiös legitimierten.

Durch diese religiöse Legitimierung werden Kompromisse für die Anhänger dieser Zielsetzungen ausgeschlossen, und deshalb bewegen sich mit jedem Zugeständnis, das die etablierten Parteien und Organisationen machen, jene Ultra-Radikalen, die diese Gruppierungen selbst erzeugt haben, von ihnen weg. Ihre Zahl ist zwar vergleichsweise klein, aber sie haben Waffen, und den Willen, sie benutzen, falls jemand ihre heiligen Missionen stören sollte. So ist eine Situation entstanden, in der jeder Politiker, ganz gleich auf welcher Seite, im Fall einer Übereinkunft mit der anderen Seite und der damit notwendigerweise einhergehenden Kompromisse mit möglicherweise gewaltsamen Konflikten mit Teilen seiner eigenen Bevölkerung rechnen muss. Und nein, eine Einstaatenlösung würde das Problem ebenfalls nicht lösen, glauben Experten – denn die Extremisten wollen ja nicht nur überall in ihrem Israel, in ihrem Palästina leben, sondern dort auch das alleinige Sagen haben.

In der Stadt

Sie kommen zwischen dem dritten und dem vierten Bier, vielleicht 50 von ihnen, die meisten mit schwarzen Hüten auf dem Kopf und brüllen die Gäste an, die in einem Straßenlokal in der Jerusalemer Innenstadt die erste Frühjahrssonne genießen. Es ist Sonntag, der vorletzte Tag von Pesach, an dem religiöse Juden nichts zu sich nehmen, in dem Gesäuertes enthalten ist. Und Bier gehört nun mal dazu.

Nun könnte man sagen, dass sich in einer doch recht großen Stadt Säkular und Religiös ganz gut aus dem Weg gehen könnten, zumal es mehrere Stadtteile gibt, die traditionell den Ultra-Orthodoxen vorbehalten sind. Aber das hier ist Jerusalem, die Heilige Stadt. Und damit ist Bier trinken und Brot essen während der sieben Pesach-Tage aus Sicht der Religiösen eine noch schwerere Sünde, als es das ohnehin schon ist.

Der Mob ist mächtig sauer. Die Gäste sind es auch. Nur mit Mühe kann die Polizei die beiden Gruppen davon abhalten, aufeinander los zu gehen. „Dient in der Armee“, brüllt einer von ihnen, „dann dürft Ihr mitreden.“ Eine der Kellnerinnen reicht ein paar sehr unschickliche Bemerkungen hinzu. „Am nächsten Bombenanschlag seid Ihr schuld, Ihr Chametz- [Gesäuertes, d.A.] Fresser“, ruft ein junger Mann zurück, den seine gehäkelte, weiß-blaue Kippa als Anhänger der nationalreligiösen Ideologie identifiziert. Es ist Jonathan, ein alter Bekannter. Sozusagen.

Auf dem Hügel

Mitte März, nördliches Westjordanland. Leise rieselt der Schnee. Die Jungs haben sich in dicke Wolldecken gehüllt, halten mühsam ein Lagerfeuer am Leben. Denn da, wo sie sind, ist nicht viel: Zwei Wohnwagen, von denen einer als Synagoge dient, ein paar Zelte, ein provisorischer kleiner Wasserturm, der gleichzeitig als Dusche dient, all' dies umgeben von einem wackligen Zaun auf der Spitze eines kleinen Hügels irgendwo im Westjordanland – so muss man sich das Reich dieser zwölf jungen Männer vorstellen, auf deren Köpfen Kippas ruhen, unter deren verschlissener Kleidung kleine weiße Bänder, die Enden ihrer Gebetsschals, hervorschauen, und um deren Schultern lässig Gewehre baumeln.

Sie könnten jetzt in einem warmen Zimmer irgendwo in den religiösen Vierteln von Jerusalem sitzen, aber das wollen sie nicht. „Wir sind gerne hier“, sagt der 19jährige Jonathan, der jetzt eigentlich seinen Militärdienst ableisten sollte, aber nicht dazu angetreten ist, weil er die israelische Armee seit der Räumung der Siedlungen im Gaza-Streifen für einen „Haufen von Verrätern“ hält:

Wenn nicht wir den zionistischen Traum verwirklichen, wer denn dann? Die Meisten, allen voran die Politiker, haben doch schon längst vergessen, was Israel ist: Das ist unser Land, der Herr hat uns dieses Land gegeben und wir werden niemandem erlauben, es uns noch einmal zu stehlen.

Er zieht eine verdreckte Landkarte hervor, auf der das Westjordanland sowie die Golanhöhen als Israel zu erkennen sind:

Hier schauen Sie: Hebron – da haben Juden gelebt, bis sie 1929 ermordet oder aus ihren Häusern vertrieben wurden; Schechem [der hebräische Name für Nablus, d.A.] - Hunderte von Juden vertrieben oder ermordet...

Er deutet auf immer mehr Flecke auf der Karte, auch auf solche, wo es noch nie Ortschaften gegeben hat, erwähnt nicht, dass die Nachkommen der Juden von Hebron zum größten Teil für einen Ausgleich mit den Palästinensern eintreten. „Das sind Verräter“, sagt Jonathan, darauf angesprochen, wütend: „Die haben vergessen, wofür die Leute damals gestorben sind.“ Die Anderen nicken zustimmend: Ihr Leben ist Religion, ist Politik, ist Mission. „Besser als den ganzen Tag lang MTV zu schauen“, sagt Jonathan und schiebt seine Waffe in Richtung Rücken. Wofür er die braucht? „Zu unserem Schutz natürlich“, sagt er schnippisch, „das Militär will uns doch nicht schützen.“

Was kein Wunder ist: Die mehr als 150 Mini-Siedlungen der so genannten Hügel-Jugendlichen, die es im Westjordanland gibt, sind nicht genehmigt; ihre schätzungsweise rund 800 Bewohner (Frauen sind übrigens so gut wie keine dabei) sind ausgesprochen radikal, sorgen immer wieder für nicht selten gewalttätige Reibereien mit der palästinensischen Bevölkerung. Kurz: Am Liebsten wäre die israelische Regierung die Jugendlichen und ihre Zeltlager los.

Im Tal

Die Menschen im benachbarten palästinensischen Dorfes stimmen dem, ausnahmsweise einmal, mit voller Überzeugung zu - und das nicht nur, weil die Jugendlichen ihr Camp auf Land aufgeschlagen haben, das einem der ihren gehört, und die jungen Männer gerne mal in ihrem Ort um die Häuser ziehen und sich dabei aufführen wie Hooligans.

Am Minarett der örtlichen Moschee weht die grüne Fahne der Hamas; im Café daneben sitzen junge Männer, auch hier mit Waffen, und schlagen die Zeit tot, von der sie hier, wo kaum jemand Arbeit hat, viel haben. An der Wand hängt eine Landkarte; sie sieht aus wie jene, die Jonathan hervor geholt hat. Nur das die Städtenamen arabische sind: Tel Aviv heißt Jaffa; Jeruschalajim Al Kuds – so, zwischen Jordan und Mittelmeer, stellt man sich hier den künftigen Staat Palästina vor. „Das ist unser Recht“, sagt der 21jährige Mohammad:

Die Juden haben unser Land gestohlen, und wir werden es uns zurückholen.

Er spricht von der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge nach Haifa, nach Jerusalem, davon, dass Palästina, das nach seiner Lesart aus den Palästinensischen Gebieten und Israel besteht, Wakf sei, also Allgemeinbesitz der muslimischen Gemeinschaft, über das niemals ein Nicht-Muslim herrschen dürfe: „Es ist die heilige Pflicht eines jeden Moslems, für die Freiheit Jerusalems zu kämpfen“, sagt Mohammad im Brustton der Überzeugung und holt zu einer Tirade gegen die Hamas aus, deren Parole er gerade rezitiert hat:

Die Hamas ist zu einer Marionette Israels und des Westens geworden. Mit der Einheitsregierung hat sie das palästinensische Volk und den Islam verraten.

Das Problem

Besonders viele sind sie nicht auf beiden Seiten, die sich von allen verraten und verkauft fühlen, und die deshalb dem mäßigenden oder zumindest kontrollierenden Einfluss von Organisationen wie der Hamas, dem Islamischen Dschihad, der National-Religiösen Partei Israels oder der Siedler-Lobby-Organisation Jescha entzogen sind. Einst wurden ihnen Waffen gegeben, um Siedlungen zu bewachen oder gegen die israelische Besatzung zu kämpfen. Deshalb sind es Leute wie Jonathan und Mohammad sowie ihre Ansichten, die eine Übereinkunft im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern so unglaublich schwierig machen: Sie sind religiös, sehen sich als letzte Verteidigungslinie von Religion und Ideologie, die im Nahen Osten auf beiden Seiten oft miteinander verschwimmen. Ihre Mission: das Maximum. Das Maximum an Land, an Lebensart. Und sie sind bereit, für ihre Welt ohne Kompromisse zu kämpfen.

So ist heute eine Situation entstanden, in der Verhandler auf beiden Seiten nach jedem Gedanken an einen Kompromiss auch immer daran denken, dass dieser zu einem offenen Ausbruch der sowohl in der israelischen als auch der palästinensischen Gesellschaft längst offensichtlichen Konflikte führen könnte. Doch neu ist das Problem nicht. Mohammad und Jonathan sind die Kinder einer Entwicklung, die vor mehr als hundert Jahren in der zionistischen Bewegung ihren Anfang nahm.

Das zionistische Maximum

In den Gründerjahren des Nahostkonflikts Anfang des 20. Jahrhunderts bildete sich innerhalb der Zionistischen Bewegung eine Vielzahl von Richtungen heraus, deren ideologische und religiöse Vorstellungen oft widersprüchlich waren. Um sie unter einen Hut bringen zu können, wurde Zionismus auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, die Gründung eines Staates, reduziert. Gleichzeitig kristallisierte sich langsam heraus, dass vor allem die religiösen Gesellschaftsgruppen nur ohne Einschränkungen in diesem Staat würden leben können, wenn dessen Struktur auf dem Maximum an religiösen Vorstellungen aufgebaut sein würde. So wurde Israel zu einem Land, in dem Samstag so gut wie alles zum Erliegen kommt und wo schon mal die Cafeteria der Knesset geräumt wird, weil jemand in dem Fleisch-Restaurant Milch in seinen Kaffee gegossen hat.

Ungeklärt blieb indes die Frage, wo Israel eigentlich ist. In den Grenzen des Gelobten Landes, die sich sehr stark von den Grenzen des heutigen Israel unterschieden, und große Teile des Westjordanlandes beinhalteten? Oder in den Grenzen, die die Zionistische Bewegung im Ersten Weltkrieg aus wirtschaftlichen Erwägungen von der späteren Mandatsmacht forderte und die ungefähr die Hälfte von Jordanien, das Westjordanland, die Golanhöhen und einen Teil von Syrien beinhalteten?

Im vorstaatlichen Israel waren jene in der Überzahl, die der Ansicht waren, man solle erstmal so viel Land aufkaufen, es besiedeln und, falls es Krieg geben sollte, das Ergebnis als Grenze des israelischen Staates akzeptieren. Als es 1948 so weit war, konnte die Mehrzahl der Israelis einigermaßen gut damit leben, wenn man vom ständigen Beschuss des an manchen Stellen sehr schmalen Kernlandes von den Anhöhen des Westjordanlandes und den Golanhöhen aus einmal absah. Doch am rechten Rand des politischen Spektrums träumten manche weiter von Groß-Israel oder vom Gelobten Land. Langsam fanden die politischen und die religiösen Ideologen zueinander, die Israel vor allem als Erfüllung eines höheren Auftrages ansahen. Ihre Stunde schlug, als sich Israel nach dem Sechs-Tage-Krieg im Oktober 1967 relativ überrascht im Besitz von Westjordanland und Gazastreifen wieder fand. Bisher vom Rest der Gesellschaft eher belächelt, waren sie plötzlich die Hüter des Status Quo: Sicherheit, spirituelle Wohlfahrt, mehr Platz – sie hatten die Antwort und jene, die zunehmend mit den endlosen Debatten innerhalb der seit anno dazumal regierenden Arbeiterpartei unzufrieden wurden, neigten dazu, den Rechten zu glauben.

Die ersten Siedlungen wurden aus strategischen Erwägungen heraus gebaut, und waren von ihren Planern nie dazu gedacht, auf ewig zu bleiben. Aber viele derjenigen, die in die Häuser einzogen, waren anderer Ansicht: Ihrer Meinung nach war das ihre Heimat – entweder von der Bibel oder von Herzls Nachfolgern verheißen. Die israelische Bevölkerung akzeptierte auch das – schließlich war es ja, so glaubte man, im Interesse aller. An die Ausmaße, die die Siedlungsbewegung annehmen würde, und die Auswirkungen, die dies auf die Chancen haben würde, einen Ausgleich mit der anderen Seite zu erreichen, dachte kaum jemand.