Universitäre Lehre als Tragödie

Schlechte Lehre ist keine Frage des Charakters, wie die Klage von den "faulen Professoren" oder den "ungenügend vorbereiteten Studierenden" suggeriert

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Kürzlich machte ein Buch von sich reden, das in der Hauptsache die Faulheit deutscher Professoren verantwortlich machte für die Mängel der universitären Lehre (Professoren für Bildungsmissstand an Hochschulen verantwortlich?). Komplementär dazu sehen manche die Wurzel allen Übels in der mangelnden Studierfähigkeit und Faulheit der Studierenden. Beide Vorwürfe sind sicher nicht aus der Luft gegriffen, Belege lassen sich finden. Wirkliche Aufklärung leisten sie aber nicht, denn sie reduzieren die Frage nach den Ursachen der schlechten Lehre auf die charakterlichen Defizite von einzelnen Menschen oder Menschengruppen. Dahinter steckt die Hoffnung, dass verantwortlichere Personen die Schwierigkeiten allein durch guten Willen lösen können. Aber eine solche Moralisierung verdeckt die tiefer liegenden strukturellen Probleme, die auch Gutwillige und Engagierte nicht ohne weiteres überwinden können. Im Gegenteil: der Gutwillige scheitert als tragischer Held, weil er die Bedingungen seines Handelns nicht kontrolliert. Diejenigen, die zuvor darauf hofften, dass die charakterlichen Vorzüge des Helden die Misere beenden werden, wenden sich nun enttäuscht von ihm ab. Hoffnung und Enttäuschung folgen einander in mehreren Zyklen, die „Diagnose“ charakterlicher Mängel stabilisiert diese Abfolge und ist ein Grund dafür, dass alles bleibt, wie es ist. Allein der Gescheiterte quält sich fortan mit dem Makel des Versagens.

Im Folgenden soll es daher darum gehen, die Probleme universitärer Lehre auf ihre strukturellen Ursachen zurückzuführen. Dazu konzentriere ich mich auf meine Erfahrungen mit den Formen universitärer Lehre, wie sie in den Sozialwissenschaften üblich sind. Der akademische Betrieb, so wie er derzeit organisiert ist, erzeugt Zeitknappheit. An dieser Zeitknappheit scheitert der Anspruch guter Lehre regelmäßig. Die Gründe dieser Knappheit können durch guten Willen nur bedingt beeinflusst werden.

1. Die paradoxen Effekte eines hohen Pensums

Die akademische Lehrkultur, wie ich sie kennen gelernt habe, folgt einem idealen Modell linearen Lernfortschritts. Dieses Modell geht davon aus, dass der Lernfortschritt proportional zur aufgewendeten Zeit anwächst. Es kennt keine Rückschläge und Umwege. Diese Vorstellung erzeugt Zeitknappheit, welche in paradoxer Weise die Ziele der Lehre verunmöglicht. In Verbindung mit dem durch die BA/MA-Ordnung verbindlich vorgegebenen Kanon an Lehrveranstaltungen verschärft sich dieses Problem. Sie zementiert dieses lineare Modell.

Das typische sozialwissenschaftliche Seminar, wie ich es durchlaufen und auch selber praktiziert habe, behandelt in 15 Wochen des Semesters 14 Texte. Die Textauswahl folgt einer Sachlogik, die erzwingt, dass alle Texte gelesen werden müssen, damit man z.B. eine bestimmte Theoriedebatte oder den Forschungsstand zu einem Thema wirklich kennt.

Wegen dieser Sachlogik haben die Studierenden pro Text nur einen Versuch frei, um ihn zu verstehen. Außerdem besteht im Semester nur einmal pro Text die Chance, die Kompetenz des Lehrenden für das Beheben von Verständnisschwierigkeiten in Anspruch zu nehmen.

Seminare dieser Art unterliegen der Vorstellung, dass man Lernfortschritte linear ansteigend im Wochenrhythmus realisieren kann. Verständnisschwierigkeiten sind nicht vorgesehen, daher ist für solche „Zwischenfälle“ auch keine Pufferzeit eingeplant. Daher verlangt die Einhaltung des Zeitplans von den Studierenden, Verständnisschwierigkeiten durch häusliche Arbeit zu kompensieren. Das allein ist noch keine besondere Zumutung, denn häusliche Arbeit von Studierenden ist grundsätzlich gewollt. Das Problem beginnt jedoch dort, wo die prinzipiell nur begrenzt verfügbare häusliche Arbeitszeit einem Übermaß an geforderter Arbeit gegenübersteht.

Das klingt zunächst etwas plakativ kritisch und wohlmeinend. Es geht mir jedoch um eine strukturelle Logik, die jenseits jeder moralischen Empörung oder Zuneigung existiert.

Um den Lernerfolg eines Seminars zu sichern, ist ein gewisses Mindestmaß an häuslicher studentischer Arbeit erforderlich. Damit man einen wissenschaftlichen Text in den Grundzügen versteht, sollte man ihn wenigstens zweimal lesen. Bei einem Text von 15 Seiten muss ich also ca. 3 Stunden investieren (ich nehme mein Lesetempo als Maßstab). Möchte ich die Argumente dieses Textes auf Herz und Nieren prüfen, muss ich weitere Zeit aufbringen. Handelt es sich um einen schwer verständlichen Text, etwa von Luhmann oder Habermas, kostet es noch mehr Aufwand. (Hier sei angemerkt, dass ein Text von 15 Seiten eher die untere Grenze des Textvolumens darstellt, durchaus üblich ist die wöchentliche Lektüre von 20 – 30 Seiten.) Wird diese Arbeitsleistung nicht erbracht, macht das Seminar im Grunde keinen Sinn. Stimmt diese Überlegung, kann man bestimmen, für wie viele Lehrveranstaltungen pro Semester die häusliche Arbeitszeit hinreicht. Umgekehrt kann man folgern: Je mehr Wochenstunden das Curriculum verlangt, je umfangreicher bzw. je schwieriger die Lehrtexte sind, desto mehr werden die Studierenden zur Selektion gezwungen. Sie müssen sich entscheiden, wofür sie ihre knapp gewordene Zeit einsetzen und was sie vernachlässigen können.

Dieser Zwang zur Selektion führt nun dazu, dass viele Curricula ihre Ziele durch ein zu hohes Pensum konterkarieren. Einerseits schreibt die Studienordnung im Zeitalter von Bologna einen verbindlichen Kanon an Lehrveranstaltungen vor. Dieser Kanon entspricht dem Umfang an Wissen, das man haben muss, um den Abschluss zuerkannt zu bekommen. Auf der anderen Seite wird dieses Mindestmaß an Wissen, weil es zu umfangreich ist, ständig unterschritten. Aus dem Pflichtprogramm schält sich also im günstigsten (!) Fall ein Restcurriculum heraus, in dem der Student dank seiner Selektionsentscheidung auch fit ist. Das bedeutet aber, dass der Student dort, wo er sich nicht angemessen vorbereiten kann, Schlupflöcher suchen muss, um die gestellten Anforderungen zu umgehen. Er beobachtet also seine Dozenten strategisch daraufhin, ob sie es irgendwie zulassen, um Abgabetermine oder um das Niveau von Leistungen zu feilschen. Oder er riskiert schlechte Noten durch „Schnellschüsse“ und hofft auf die relative Milde der Lehrenden, ihn nicht durchfallen zu lassen, obwohl er es verdient hätte.

Der andere, schlimmere wie auch sehr wahrscheinliche Fall ist, dass der Studierende gar nichts weiß, weil er sich um alles bemüht hat, aber für nichts wirklich Zeit hatte. Seine Leistungen zeichnen sich folgerichtig durch Oberflächlichkeit aus, während immerhin der Schein gewahrt bleibt, dass man sein Pensum pflichtgemäß vollständig abgehakt hat.

Der zur Selektion gezwungene Studierende muss also entweder einige Dozenten durch schlechte oder alle durch oberflächliche Leistungen enttäuschen. Gegenwärtig neigt man dazu, solche Probleme wieder mit Autorität zu bekämpfen. Man erhöht den Druck, erzwingt die ausgebliebene Leistung durch Sanktionen oder durch Erhöhung des Pensums. Die Möglichkeit dazu bietet die BA/MA-Ordnung, die jede Lehrveranstaltung in eine Prüfungsleistung münden lässt. Mehr Protokolle, mehr Referate werden verlangt und zum Kriterium des Bestehens der „Prüfung“ gemacht. Doch dieser Druck verschärft nur das Zeitproblem, die Selektion wird noch zwingender, weil die häusliche Zeit knapper wird. Es wird also noch intensiver nach den Schlupflöchern gesucht.

Dem einzelnen Lehrenden stehen in einer solchen Situation keine vernünftigen Optionen offen, um dieses Unterschreiten des Mindestmaßes abzufedern. Alles, was er tut, verkehrt seine Absichten ins Gegenteil:

  1. Erhöht er den Druck, kommt es zum Tauziehen mit den Kollegen, denn je mehr Dozent A verlangt, desto stärker geht dies zu Lasten der Veranstaltung des Kollegen B. Dozent B muss daher ebenfalls den Druck erhöhen, damit sich die Studierenden auch in seinen Veranstaltungen weiterhin engagieren und nicht alle Kräfte der Veranstaltung des strengen Kollegen A widmen.
  2. Der Dozent B senkt den Druck bzw. das Pensum, damit die Studierenden ihre knappe Zeit intensiver für die Vorbereitung seiner Lehrveranstaltung nutzen können. Doch dieses Ziel wird wahrscheinlich verfehlt, denn Dozent B bietet den Studierenden allenfalls das nötige Schlupfloch, um ihre Zeit für die Veranstaltungen des Kollegen A aufzuwenden, wo der Druck sehr hoch ist, also auch die Gefahr besteht, durch schlechte Noten abgestraft zu werden. Die dank des abgemilderten Pensums gewonnene Zeit geht nun zusätzlich in die Vorbereitung der Veranstaltung von Dozent A.
  3. Innerhalb des Kollegenkreises könnte man sich einigen, die Gesamtstundenzahl zu reduzieren. Aber dieser Weg dürfte aus rechtlichen Gründen verschlossen sein, weil Studienordnungen einen Kanon an Lehrveranstaltungen verbindlich vorschreiben. Damit markiert die Studienordnung zugleich den Anspruch der Studierenden auf diese Lehrveranstaltungen. Legal kann das Curriculum nicht unterlaufen werden, weil man sich in Gefahr begibt, sowohl von seitens des Dienstherrn als auch von den Studierenden juristisch zur Rechenschaft gezogen zu werden. Somit bleibt nur die Variante, dass das Curriculum informell durch die Selektionen der Studierenden unterlaufen wird.

Fazit ist, dass jeder Lehrende, der eine gute Lehre anstrebt und der dafür ein gewisses Maß an Wissen und Leistung für maßgeblich hält, permanent Enttäuschungen erleben wird, denen er ohne Absenken seiner Ansprüche nicht entgegenwirken kann.

2. Kommunikationsprobleme in großen Seminaren

Volle Hörsäle sind nicht grundsätzlich ein Problem. Für Vorlesungen und Vorträge mag die Teilnehmerzahl unerheblich sein, da diese ohnehin eine passive Rolle haben. Anders sieht es aber bei Seminaren aus. In einem Seminar wird von den Studierenden eine aktive Teilnahme erwartet. Das fußt auf der Überlegung, dass Lernen vor allem durch eigene geistige Operationen erfolgt.1 Untersuchungen zeigen, dass nur passiv aufgenommene Informationen zum größten Teil dem Vergessen anheim fallen.2 Deshalb muss der Stoff verinnerlicht werden, indem die Studierenden den Inhalt von Lehrtexten in eigenen Worten wiedergeben, eigene Überlegungen dazu entwickeln oder die gelesenen Inhalte kritisch prüfen. Es genügt dabei nicht, etwas im stillen Kämmerlein zu denken. Dieses Denken muss vielmehr mündlich wie schriftlich zur Sprache kommen, damit es zu Lerneffekten führt. Dies zu gewährleisten, ist die Aufgabe eines Seminars. Entsprechend besteht die Herausforderung darin, ein Seminar so zu organisieren, dass alle Teilnehmer auf diese Weise zum Denken angehalten werden.

Ein Seminar kommt daher nicht ohne den Seminarleiter aus. Dieser muss die Studierenden zur Arbeit anhalten, indem er ihnen Aufträge gibt. Nur wenn der Student in Aktion ist, können eigene geistige Operationen möglich werden. In einem vollen Seminar mit vielleicht 40 bis 50 Studierenden wird es aber schwer, einen Modus zu finden, der jeden mit einbezieht und von jedem geistige Operationen verlangt. Hinzu kommt ein Kontrollproblem: Wie kann man gewährleisten, dass auch bei unübersichtlichen Verhältnissen alle arbeiten? Jeder kennt das Trittbrettfahrerproblem: von 40 Studierenden haben nur die wenigsten den Text gelesen und jeder hofft, dass die, die ihn lasen, die Sitzung bestreiten werden.

Die gegenwärtig favorisierte Lösung dieses Kontrollproblems besteht darin, dass man studentische Arbeitsergebnisse qua Autorität des Dozenten erzwingt. Die BA/MA-Ordnungen haben jede Lehrveranstaltung mit einer Prüfungsleistung verknüpft. Mangelndes Studienengagement kann über diesen Prüfungscharakter empfindlicher bestraft werden. Wer zu viele Belegpunkte verbraucht, weil er Lehrveranstaltungen fernbleibt oder die „Prüfung“ nicht besteht, sieht sich schnell dem vorzeitigen Ende seines Studiums gegenüber. Auch in den „weichen“ Fächern zieht damit eine gewisse Härte ein. Heute wird (zumindest an meiner Universität) an das enge Korsett der BA/MA-Ordnungen auch ein höheres Pensum studentischer Leistungen geknüpft: Die Studierenden müssen erheblich mehr Referate, Protokolle, Essays und Hausarbeiten abliefern als noch in den 90ern. Der Dozent hat dank Bologna mehr Macht als früher, während sich die Studierenden einem höheren Maß an Verbindlichkeit gegenüber sehen.

Die schiere Dozentenmacht allein ist aber nicht hinreichend für den Lernerfolg, sie kann höchstens die Bereitschaft der Studierenden steigern, sich zu engagieren. Aber Engagement, ob erzwungen oder intrinsisch motiviert, stellt nicht sicher, dass die neuen Konzepte erfolgreich verinnerlicht werden. Fleiß und Ausdauer bewahren nicht davor, in die Irre zu laufen. Es genügt also nicht, verpasste Abgabetermine mit schlechten Noten zu sanktionieren. Über die Sanktion hinaus muss es auch Anleitung geben, wie man das geforderte Pensum bewältigen kann. Der Lehrende muss Mittel und Methoden für die Aneignung und das Verständnis des Stoffes bereitstellen und er muss die Aktionen der Studierenden permanent korrigieren, damit Irrwege vermieden werden.

Idealiter hieße dies, mit jedem Studierenden in Dialog zu treten. Selten sind Seminare so klein, dass dies auch nur denkbar ist. Also kann der Lehrende zu einer pragmatischen Lösung greifen und bestimmte typische Irrwege exemplarisch vor dem ganzen Seminar behandeln. Wer es mit dem Qualitätsanspruch der Lehre weiterhin ernst meint, hat das Zeitproblem damit aber nur verschoben. Denn um ein angemessenes Feedback geben zu können, muss der Lehrende die Lernprobleme und Fehler der Studierenden ermitteln. Dazu muss er die abgeforderten Arbeitsergebnisse gründlich zur Kenntnis nehmen und im Seminar auswerten.

Dies bedeutet einen erheblichen Korrekturaufwand, der proportional zur Teilnehmerzahl und zur geforderten Menge an einzureichenden schriftlichen Arbeiten ansteigt. Sinnvoll wäre es zudem, wenn an das gegebene Feedback die Forderung einer Überarbeitung geknüpft ist – was unmittelbar neuen Korrekturaufwand nach sich zieht. Es ist offenkundig, dass ab einer gewissen Teilnehmerzahl bzw. ab einem gewissen Pensum die Korrekturen nicht mehr sinnvoll zu leisten sind. Daher bleibt nur die Möglichkeit, das Pensum zu senken, was zugleich einen Verzicht an Intervention durch den Lehrenden bedeutet.

Offensichtlich wird mit steigender Zahl der Studierenden pro Seminar sowohl jeder Dialog zwischen einzelnen Personen als auch ein fundiertes exemplarisches Feedback immer unwahrscheinlicher. Je mehr Teilnehmer es sind, desto weniger kann der Lehrende seine Rolle als solcher ausfüllen: Sein Beitrag reduziert sich darauf, einem zumeist passivem Publikum die Lehrtexte zu erklären. Somit kann der Lehrende lediglich hoffen, dass die Lehrziele erreicht werden, aber er kann es nicht durch methodisches Handeln absichern.

Der Erfolg seines beruflichen Tuns ist damit nicht kontrollierbar, sein Treiben bekommt einen schicksalshaften Zug. Das macht die Tragik der Lehre aus: Je stärker der Wille des Dozenten ist, gute Lehre zu machen, desto stärker spürt er seine Ohnmacht, wirklich etwas zu erreichen. Sein seelisches Gleichgewicht kann er nur aufrechterhalten, indem er a) die guten Absichten fallen lässt oder wenigstens seine Ansprüche an sich selbst mindert oder b) sein Scheitern schlüssig erklärt durch eine Externalisierung der Probleme. An diesem Punkt hat sich die Klage über die mangelnde Studierfähigkeit der Studierenden als erfolgreich erwiesen. Das Scheitern der Ansprüche an die universitäre Lehre wird zurückgeführt auf die Defizite der Studierenden. Diese Sichtweise schützt davor, sich der eigenen Tragik bewusst zu werden. Allerdings rumort letztere im Dunkeln weiter und sorgt zuverlässig für Frustrationen, gegen die kein Kraut gewachsen zu sein scheint.

3. Die Karrierezwänge der Wissenschaftsökonomie

Die vorherrschende Wissenschaftsökonomie verschärft die Zeitprobleme und erzwingt absurder Weise, dass die Lehre als Zeitdiebstahl wahrgenommen wird. Dies hängt zusammen mit den Bedingungen, denen die Lehrenden als abhängig Beschäftigte unterworfen sind. Die übliche Befristung der Arbeitsverhältnisse der akademischen Mittelbauer sorgt dafür, dass Karriere nicht mehr allein dem Aufstiegswillen entspringt, sondern zur Pflicht wird. Sie ist die Voraussetzung dafür, weiter universitär arbeiten zu können. So fordert das Hochschulrahmengesetz die Abgabe von Doktorarbeiten und Habilitationen innerhalb einer bestimmten Frist und macht dies zur Bedingung der Weiterbeschäftigung (Offenbar können die Unis aber seit einiger Zeit davon Ausnahmen machen). Neben den Qualifikationsarbeiten gibt vor allem die Zahl der Veröffentlichungen den Ausschlag.

Die Lehre hat hingegen kaum oder gar kein Gewicht für eine Bewerbung auf eine Uni-Stelle. Deshalb müssen Lehrende, zumindest Mittelbauer, schon aus existenziellen Gründen ihre Priorität weg von der Lehre verlagern, um ihre Qualifikationsarbeiten in absehbarer Zeit fertig zu bekommen und um sich durch einen hohen Ausstoß an Publikationen gute Startchancen für künftige Bewerbungen zu verschaffen. Diese Vorkehrungen für die eigene Zukunft absorbieren viel Zeit, angesichts der erzwungenen Vielschreiberei ganz sicher mehr Zeit, als es vom Wissensstand tatsächlich erforderlich wäre.

In Konkurrenz dazu steht der Zeitaufwand, ohne den gute Lehre nicht zu machen ist. Dies schon deswegen, weil ein Wissenschaftler selten auch ein ausgebildeter Didaktiker ist, der souverän und routinemäßig bewährte Unterrichtsmethoden einsetzen kann. Er muss also einige Zeit damit verbringen, sich didaktische Methoden anzueignen oder solche zu entwickeln. Institutionelle Angebote, die dabei helfen, sind selten, was via Versuch und Irrtum den Zeitaufwand erhöht. Zudem gelingt die Aufbereitung der eigenen Forschung nicht en passant. Und will man Ansprechpartner für Studierende auch über die regulären Seminarzeiten hinaus sein, bedeutet das ebenfalls eine Zeitinvestition. Diese mag bei „normalen“ Studierenden noch vermeidbar sein, im Falle der Betreuung von Abschluss- und Qualifikationsarbeiten ist sie aber unumgänglich.

In der Wissenschaftsökonomie können diese Zeitaufwände nicht in Kapital umgemünzt werden. Im Gegenteil: Sie erscheinen als vertane Zeit oder schlimmer noch, sie verschwinden einfach in der Unsichtbarkeit. Niemand registriert, dass für die Lehre Arbeit aufgewendet wurde, denn sie schlägt sich nicht in relevanten Ergebnissen nieder. Zum einem deshalb, weil gute Lehre nicht messbar ist, zum anderen, weil es nicht interessiert. Daher scheint es so, als hätte es diese Zeit nie gegeben. Derart unsichtbare Arbeit wird nicht anerkannt, sie hat aus der Sicht der Wissenschaftsökonomie nie stattgefunden. Umso schwerer wiegt es dann, wenn jemand aufgrund seines Engagements in der Lehre die geforderten Veröffentlichungen oder Forschungsleistungen nicht in genügendem Umfang vorweisen kann. Wegen der systematischen Blindheit gegenüber den strukturellen Bedingungen der akademischen Arbeit erscheint dies nun als individuelles Versagen, das bestraft wird mit dem Abbruch der akademischen Karriere und dem Stigma des Gescheiterten.

Dies sorgt für ein Dilemma, in das jeder Lehrende, der an guter Lehre interessiert ist, gerät: Er muss sich entscheiden, wie er seine Zeit einsetzt. Es gibt jedoch keine vernünftige Entscheidung, denn sie mündet im Paradox. Entscheidet er sich für die Lehre, sägt er langfristig an dem Ast, auf dem er sitzt: er verliert seinen Uni-Job. Verliert er seinen Job, kann er als guter Lehrer nicht mehr nützlich sein. Also ist die Investition in die eigenen Lehrqualitäten nur dann sinnvoll, wenn man sie in der Uni zum Einsatz bringt. Folglich muss der gute Lehrer darum bemüht sein, seinen Uni-Job zu behalten. Das wiederum bedeutet, dass er tendenziell kein guter Lehrer sein kann, weil er seine Zeit in Publikationen und Forschungsarbeiten investieren muss.