Schutzlücke

Müsste Wolfgang Schäuble vom Verfassungsschutz beobachtet werden?

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Bundesinnenminister Wolfgäng Schäuble verkündet seit einiger Zeit in kurzen Abständen immer neue Pläne, die nicht nur von Telepolis-Lesern, sondern mittlerweile auch von Traditionsmedien als sehr ernste Gefahr für das Grundgesetz gesehen werden. Für solche Gefahren gibt es die Verfassungsschutzbehörden der Länder und des Bundes. Aber sind sie auch mit den entsprechenden Rechtsgrundlagen ausgestattet, um sich mit dem Fall Schäuble auseinandersetzen zu können?

Zuständigkeit und Rechtsgrundlagen im Berliner Verfassungsschutzgesetz

Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist offenbar nicht an besonders strenge Vorgaben gebunden: Sie trifft auch schon mal einen Professor der weniger Änderungsbedarf für die Verfassung sieht als die FDP oder eine Regierungspartei. Da sollte man sich denken, dass einer Beobachtung Schäubles nicht viel im Wege stünde. Doch wer ist zuständig? Potentiell kämen das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz und das Bundesamt für Verfassungsschutz in Frage.

Eine Kontrolle des Innenministers durch eine ihm untergeordnete Bundesbehörde scheint uns etwas problematisch, also prüfen wir zunächst einmal die Rechtsgrundlagen der Berliner Landesbehörde.

§ 6 Abs. 1 des Berliner Verfassungsschutzgesetzes nennt als Voraussetzung für ein Tätigwerden "politisch motivierte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen oder Betätigungen [...] gegen die in § 5 Abs. 2 bezeichneten Schutzgüter", also gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung, und in Abs. 2 heißt es erklärend: "Bestrebungen im Sinne dieses Gesetzes, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, sind solche, die auf die Beseitigung oder Außerkraftsetzung wesentlicher Verfassungsgrundsätze abzielen."

Auch § 5 Abs. 3 käme als Rechtsgrundlage für eine Beobachtung Schäubles in Frage: Nach dieser Vorschrift wirkt die Verfassungsschutzbehörde "auf Ersuchen der zuständigen öffentlichen Stellen [...] bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebens- oder verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind" mit. Ist "Innenminister" eine sicherheitsempfindliche Position? Wahrscheinlich schon. Beobachten die Berliner Schäuble also längst, ohne es der Öffentlichkeit gegenüber groß herauszuposaunen? Aber wer sind die "zuständigen öffentlichen Stellen"?

Nach § 8 Abs. 2 Nr. 10 und 11 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Berlin (VSG Bln) dürfte die Berliner Behörde unter anderem den Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs überwachen. Das "sonstige Eindringen in technische Kommunikationsbeziehungen" bedarf allerdings der Vorabzustimmung durch den Ausschuss für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin. Wer dort wohl sitzt? Bedenkt man die Mehrheitsverhältnisse im Land, sicherlich Leute wie Ströbele oder Neskovic – da scheitert eine Beobachtung Schäubles vielleicht einfach daran, dass sie sich quer stellen, die Gefahr nicht erkennen wollen und zu formaljuristisch auf rechtsstaatlichen Prinzipien beharren?

Da hilft nur nachfragen. Doch beim Berliner Verfassungsschutz will die offenbar schwer überlastete Pressesprecherin Frau Kalbitzer weder einen Gesprächspartner vermitteln, noch eine Stellungnahme abgeben oder Fragen beantworten. Sie verweist lediglich auf einen "§ 51" im Berliner Verfassungsschutzgesetz, der Abgeordnete von Beobachtungen freistelle – und Schäuble ist ja auch Bundestagsabgeordneter. Die angegebene Vorschrift gibt es zwar nicht, aber vielleicht steht sie ja in einem geheimen Zusatzprotokoll zum Berliner Verfassungsschutzgesetz, und so lassen wir die offenbar vielbeschäftigte Frau Kalbitzer in Ruhe und wenden uns der Bundesbehörde zu.

Zuständigkeit und Rechtsgrundlagen im Bundesverfassungsschutzgesetz

Das Bundesgesetz ist in manchen Formulierungen wortgleich, in manchen aber auch deutlicher als das Berliner Landesgesetz: § 3 Abs. 1 des Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz entspricht ungefähr dem bereits behandelten § 5 Abs. 2 des Berliner Landesgesetzes und § 3 Abs. 2 der Regelung für den Bundesverfassungsschutz den Regelungen zur Sicherheitsüberprüfung in § 5 Abs. 3 der Berliner Vorschrift. Zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Sinne des Bundesgesetzes zählen nach § 4 Abs. 2 b des Bundesgesetzes "die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht."

Aber ist die Bundesbehörde auch zuständig? Nach § 5 Abs. 2 darf das Bundesamt für Verfassungsschutz "im Benehmen mit der Landesbehörde für Verfassungsschutz" beobachten, unter der Voraussetzung dass sich die Bestrebungen und Tätigkeiten ganz oder teilweise gegen den Bund richten. Rechtfertigt diese Vorschrift ein Tätigwerden im Fall Schäuble?

Wir müssen wieder nachfragen. Frau Habets, die Pressesprecherin des Bundesamtes für Verfassungsschutz, kennt, anders als Kalbitzer, keine Vorschrift, die die Beobachtung eines Abgeordneten verhindern würde, verweist aber auf unterschiedliche gesetzliche Grundlagen der Bundes- und Länderbehörden. Da ihre Behörde nur einen "Strukturbeobachtungsauftrag" hat, werden laut Habets nicht einzelne Abgeordnete beobachtet, sondern nur ganze Parteien. Bei einer Einzelperson müsste ihrer Auskunft nach eine Gewaltorientierung hinzukommen – und die müsste sich in Taten ausdrücken. Das Reden alleine, die Befürwortung von Gewalt (wie etwa zum Einsatz der Bundeswehr im Innern), reicht ihr zufolge nicht aus.

Wir lesen nach – und tatsächlich: Schäuble ist – soweit bekannt - in keiner entsprechenden "Organisation", deshalb müssten seine Bestrebungen nach § 4 Abs. 1 Satz 4 auf Anwendung von Gewalt gerichtet sein, um eine Beobachtung zu rechtfertigen. Und dann stellen wir fest, dass Frau Habets einen Halbsatz vergessen hat: Es reicht auch, wenn die Bestrebungen "aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, ein Schutzgut dieses Gesetzes erheblich zu beschädigen".

Greift diese Vorschrift also, und wird Schäuble von Verfassungsschutz beobachtet? Man stößt auf eine Mauer des Schweigens – und die erschreckende Erkenntnis: Vielleicht gehen die Befugnisse des Verfassungsschutzes wirklich nicht weit genug, und es bedarf erst einer – wie Hegel es nannte – "List der Vernunft", also eines Wolfgang Schäuble als Innenminister, damit die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden, mit denen auch eine Gefahr wie er überwacht werden kann.