Rücktritt vom Rücktritt

Weil seine Arbeit torpediert wird, hat der palästinensische Innenminister Hani al Kawasmi mit Rücktritt gedroht und damit trotzdem nichts erreicht

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Nur etwas mehr als einen Monat nach der Formierung der Einheitsregierung in den Palästinensischen Autonomiegebieten ist die erste große Krise ausgebrochen: Innenminister Hani al Kawasmi, ein parteiloser Technokrat, drohte mit Rücktritt. Der Grund: Die Chefs der Sicherheitsdienste weigerten sich, mit ihm zusammenzuarbeiten, und brächten damit den Reformplan in Gefahr, von dem er hofft, dass er die Zusammenstöße zwischen verfeindeten Milizen im Gazastreifen beendet. Nur mit Mühe gelang es Ministerpräsident Ismail Hanijeh von der Hamas und Präsident Mahmud Abbas von der Fatah am Montagnachmittag, al Kawasmi zum Bleiben zu bewegen, denn das Letzte, was sie im Moment brauchen, ist eine lange andauernde Regierungskrise.

EU-Beobachter am Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen haben einen schwierigen Stand: Sie haben kaum Einflussmöglichkeiten. Ägyptens Regierung hingegen möchte, dass die Grenze künftig weniger durchlässig ist und hat ihren Grenzbeamten schärfere Kontrollen vorgeschrieben. Foto: EU

Die bewaffneten Flügel der beiden Organisationen entgleiten zunehmend der Kontrolle der politischen Führungen; die Milizen fühlen sich an den seit Ende vergangenen Jahres im Gazastreifen geltenden Waffenstillstand nicht mehr gebunden und drohen mit Rache, nachdem die israelische Armee seit dem Wochenende in Westjordanland und Gazastreifen neun Palästinenser getötet hat. Die zunehmende Spaltung der Hamas beeinträchtigt nun auch die Beziehungen der Organisation zu Ägypten: Die dortige Regierung lässt seit einigen Tagen einreisende Funktionäre der Hamas ganz genau unter die Lupe nehmen; die Patrouillen an der Grenze zum Gazastreifen wurden verstärkt.

Ein Monat ist normalerweise nicht viel Zeit. Jedenfalls nicht in einem normalen Land, in einer normalen Welt. Aber die Palästinensischen Autonomiegebiete sind kein normales Land; sie sind nicht mal ein Staat, sondern eine Region, in der der Einfluss von Fremden in jedem Bereich des täglichen Lebens zu spüren ist und in der viele Menschen viele Waffen und noch mehr Bereitschaft haben, sie gegen jeden anzuwenden, der nicht ihrer Meinung hat. Die Einzigen, die dies nicht tun, sind diejenigen, die diese Leute davon abhalten sollen, nämlich die Angehörigen der Sicherheitsdienste.

Mehr als 200 Palästinenser sind den Auseinandersetzungen (Wenig Selbsterziehungspotential) der rivalisierenden palästinensischen Milizen im Gazastreifen seit Ende vergangenen Jahres zum Opfer gefallen. Und so ist ein Monat eine lange Zeit, eine sehr lange Zeit sogar, und sogar noch viel länger, wenn man gerade Innenminister dieses vorstaatlichen Gebildes geworden ist, mit dem Auftrag, dafür zu sorgen, dass sich das alles ändert - und zwar sofort. Hani al Kawasmi, ein studierter Verwaltungswirt, schien der richtige Mann dafür zu sein, als Hamas und Fatah im März ihre Einheitsregierung bildeten: Er ist parteilos, keiner der beiden Parteien offen verbunden; als langjähriger Mitarbeiter kennt er das palästinensische Innenministerium in- und auswendig. Und: Die israelische Regierung sieht ihn als moderaten Technokraten, mit dem man zusammenarbeiten kann.

Aber es hat sich nichts geändert, trotz eines Anfang April vorgelegten Planes, mit dem der unübersichtliche Sicherheitsapparat reformiert, schlanker, effektiver, unabhängiger von Einflüssen außerhalb der palästinensischen Regierung gemacht werden sollte. Die Chefs der einzelnen Sicherheitsdienste sagten einfach Nein, denn es drohte der Verlust an Einfluss und in einigen Fällen auch des eigenen Jobs. Und so griff Hani al Kawasmi, jener Mann, von dem vor seiner Ernennung zum Innenminister Mitte März nur ganz wenige Menschen etwas gehört hatten, am Wochenende zum Äußersten, rief Ministerpräsident Ismail Hanijeh in Gaza an und sagte ihm, dass er ab Montag für das Amt nicht mehr zu Verfügung stehe. Während einer Kabinettssitzung am Montag morgen erklärte er dann seinen Rücktritt: Er habe sich darüber beklagt, dass die Chefs der Sicherheitsdienste seine Arbeit torpedierten, wo sie nur könnten, erläuterte Informationsminister Mustafa Barghouti den Schritt; zudem halte al Kawasmi die ihm übertragenen Entscheidungsbefugnisse für unzureichend.

Und so brach in Ramallah und Gaza Hektik aus: In langen Gesprächen versuchten Hanijeh und Abbas, al Kawasmi dazu zu bewegen, wenigstens so lange im Amt zu bleiben, bis man Gelegenheit hatte, sich das alles durch den Kopf gehen zu lassen und nach einer Lösung zu suchen. „Al Kawasmi muss auf jeden Fall bleiben“, erklärte ein Mitarbeiter von Präsident Abbas, „ein Rücktritt wäre eine Katastrophe für uns – die Zusammensetzung des Kabinetts ist das Ergebnis langer Verhandlungen; jede Änderung könnte lezten Endes zum Zusammenbruch der Einheitsregierung führen, und wir brauchen im Moment eine funktionierende Regierung.“

Ein Angehöriger des Islamischen Dschihad, erkennbar an seinem Stirnband mit gelber Schrift auf schwarzem Grund, lieferte sich im Februar eine Auseinandersetzung mit Mitgliedern der Fatah-nahen Al Aksa-Brigaden. Drei Menschen starben. Bild: Newskibbutz

Im Gazastreifen ist gerade wenigstens etwas Ruhe eingekehrt ist, Schießereien zwischen den einzelnen Milizen sind relativ selten geworden, die Gruppen richten nun wieder verstärkt ihr Augenmerk, oder besser Zielfernrohr, auf Israel, was wiederum zu einer Eskalation in um den Gazastreifen herum führen und damit die erst im März auf Druck von US-Außenministerin Condoleeza Rice eingeführten, alle zwei Wochen stattfindenden Treffen zwischen Abbas und Israels Premierminister Ehud Olmert in Gefahr bringen könnten, in denen vor allem über eine Verbesserung der Situation der palästinensischen Bevölkerung und die künftige Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten gesprochen wird: „Auch wenn viele das anders sehen, stehen wir doch am Anfang eines Prozesses, der sich positiv auf das Leben der Palästinenser auswirken könnte“, sagte der Abbas-Mitarbeiter: „Deshalb ist es wichtig, dass der Waffenstillstand im Gazastreifen hält, auch wenn es oft schwer fällt, und die bewaffneten Gruppen dort besser kontrolliert werden.“

Viele, auf der palästinensischen und der israelischen Seite gleichermaßen, zweifeln allerdings am politischen Willen zur wirklichen Veränderung: „Jetzt bleibt al Kawasmi also doch“, sagt der palästinensische Journalist Ahmad Hamad:

Aber was bringt uns das? Rein gar nichts: Die Sicherheitschefs haben gar kein Interesse daran, dass ihre Dienste transparenter und effektiver werden, weil sie und ihre Kumpanen dann nicht mehr in die Kasse greifen können, und Hamas und Fatah haben kein Interesse daran, weil die Sicherheitschefs ja zu ihren Clubs gehören. Also hat man al Kawasmi ein bisschen beruhigt, ihn dazu gebracht zu bleiben, ihm vielleicht auch das Eine oder Andere versprochen und macht jetzt weiter wie bisher. Die Einheitsregierung war ja von Anfang an ohnehin nur dazu da, um den Boykott des Westens zu beenden.

Israels Regierung erklärte derweil, man beobachte die Entwicklungen mit Sorge: „Wir müssen feststellen, dass der politischen Führung der Hamas der Einfluss auf Teile ihres bewaffneten Flügels entglitten ist und zur Zeit sehr wenig unternimmt, um das zu ändern“, sagte ein Mitarbeiter von Regierungschef Olmert. Man befürchte, dass sich der Waffenstillstand im Gazastreifen auf mittelfristige Sicht nicht halten lasse: „Die Regierung wird mit voller Härte auf jeden Versuch reagieren, Israelis anzugreifen.“

Hamas unter Druck

Schon am Wochenende gab es erste Anzeichen für eine neue Eskalation: Bei Auseinandersetzungen zwischen israelischem Militär und bewaffneten Palästinensern in Gazastreifen und Westjordanland kamen acht Palästinenser ums Leben. Begonnen hatte alles, als am Samstag morgen Mitglieder der Hamas-nahen Essedin al Kassam-Brigaden und des Islamischen Dschihad vier Raketen auf die Stadt Sderot in der Nachbarschaft des Gazastreifen abfeuerten; eine davon landete in einem Wohngebiet. Das Militär feuerte daraufhin Artilleriegranaten auf eine Gruppe Palästinenser im Grenzland des Gazastreifens ab und tötete einen Mann.

Während die Führung der Hamas die Raketenabschüsse verurteilte, drohten lokale Anführer der Kassam-Brigaden mit weiterem Beschuss und Bombenanschlägen – ein Hinweis darauf, dass die Hamas sich zunehmend spaltet: „Politisch muss die Hamas als Regierungspartei eine einigermaßen pragmatische Haltung einnehmen und Kompromisse eingehen, und das ist für viele der Kämpfer unverständlich, die vor allem auf die religiös erklärte Ideologie der Organisation schauen“, erläutert Journalist Hamad:

Nach außen hin gehören die zwar immer noch zur Hamas, aber innen drin sind die längst beim Islamischen Dschihad oder nirgendwo gelandet. Und jedesmal, wenn die israelische Armee eine Razzia unternimmt oder Palästinenser tötet, und die Hamas nichts unternimmt, werden es ein paar mehr. Es wird interessant sein zu sehen, wie die Führung der Organisation darauf reagiert.

Eine Artillerie-Batterie der israelischen Armee an der Grenze zum Gazastreifen. Bild: Newskibbutz

Für den Moment beschränkt sich die politische Führung der Hamas jedoch darauf, die israelischen Razzien als „Massaker“ zu verurteilen: „Diese Verbrechen sind ein neuer Beweis der Brutalität der israelischen Besatzung. Die Politik der Liquidierungen sind ein vergeblicher Versuch, den Willen des palästinensischen Volkes zu brechen, und es zum Aufgeben zu zwingen“, erklärte Hanijeh in einer Stellungnahme, bevor er die arabische Welt dazu aufforderte, auf eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel zu verzichten und stattdessen dabei zu helfen, das internationale Embargo zu durchbrechen.

Doch danach sieht es im Moment nicht aus – im Gegenteil: So wirft Ägypten der Hamas vor, gemeinsame Sache mit der islamistischen Opposition, der Moslembruderschaft, zu machen, und hat deshalb die Kontrollen an der Grenze zum Gazastreifen massiv verstärkt. Damit wolle man den Schmuggel, vor allem von Waffen, in und aus dem Gazastreifen unterbinden, erklärte ein Sprecher des Außenministeriums in Kairo: „An dieser Grenze hat sich eine Situation gebildet, die für uns nicht länger tolerierbar ist.“ Zudem hat die ägyptische Regierung der Hamas mitgeteilt, dass ihre Funktionäre sich künftig weder in Ägypten mit Mitgliedern der Moslembruderschaft treffen noch politische Veranstaltungen oder Pressekonferenzen abhalten dürften. Außerdem wurden die Grenzbeamten angewiesen, sich Funktionäre der Organisation bei der Ein- und Ausreise ganz genau anzusehen; die Zahl der zugelassenen Bodyguards wurde stark eingeschränkt. „Die Lage im Gazastreifen ist auch aus Sicht unserer Regierung inakzeptabel geworden“, erläutert ein ägyptischer Diplomat:

Kairo will Ruhe vor seiner Haustür, und diese Schritte sind dazu gedacht, dafür zu sorgen. Es herrscht ganz klar die Befürchtung, dass die Moslembruderschaft den Gazastreifen als sicheren Hafen benutzt, um gegen die Stabilität Ägyptens zu arbeiten. Die Hamas hat immer wieder Versprechen gemacht, die nicht eingehalten wurden, und deshalb ist jetzt Schluss – jeder Tag mehr steigert die Gefahr.