Vom Wissensfortschritt mit stummem h

Die wundersame Wanderung einer Biographie im Netz

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Der Medienbruch von der Print- zur Online-Galaxis hat mitunter kuriose Auswirkungen auf die Text- und Referenzkultur. Im folgenden Beispiel wird ein Text im Netz zunächst seiner Autorschaft beraubt, um dann wieder in eine wissenschaftliche Textsorte zurückzukehren: mit einer neuen Autorin.

Über die Biographie Ernst von Glasersfelds, des Begründers des philosophischen Konstruktivismus, wurde viel geschrieben. Etwa auch folgender Satz:

Der lebendige Umgang mit vielen Sprachen lassen in früh den Umstand entdecken, dass der Zugang zur Welt in jeder Sprache ein anderer ist (vgl. die Sapir/Whorf-Hypothese: die Struktur der Welt wird durch die Muttersprache festgelegt/geprägt).

Abgesehen von kleinen Schönheits- bzw. Flüchtigkeitsfehlern ("lassen", "in") hat diesen Satz wohl jemand verfasst, der von der Materie durchaus eine Ahnung hatte, sonst hätte er/sie nicht auf die Sapir-Whorf-Hypothese verwiesen. Die Passage stammt offenbar in ihrer ursprünglichen Netzfassung aus dem Jahr 1998. Ein gewisser Daniel Stoller-Schai von der Fachstelle für Weiterbildung der Universität Zürich hat sie in einer Biographie Ernst von Glasersfelds geschrieben.

Hier gilt der Einfachheit halber die Unschuldsvermutung: Wir unterstellen also, dass dieser Text nicht seinerseits aus einer anderen Quelle stammt, etwa aus einem nicht zitierten Buch. Ursprünglich war der Text über den Server der Universität Zürich verfügbar, dort ist er mittlerweile aber verschwunden. Erneut ins Netz gestellt wurde die Biographie Glasersfelds von Werner Stangl von der Johannes-Kepler-Universität Linz im Rahmen eines Projekts zur "internetunterstützten Lehre". Dort findet man den Text bis heute – mit Angabe von Stoller-Schai.

Die Reise beginnt...

Fortan wurde der von Herrn Stoller-Schai (wie wir hoffen) verfasste und von Herrn Stangl online publizierte Text seiner Autorschaft sukzessive beraubt. Im Netz flottieren mitunter die Text-Partikel frei. Wissenschaftliche Texte, bei denen ein Autor angegeben ist, sind davon nicht verschont. Teile des Texts, inklusive des Sapir-Whorf-Satzes (und inklusive der alten Grammatikfehler: "lassen in"), sind hier unbelegt nachzulesen.

Der neue "Autor" von hyperkommunikation.ch (vielleicht ist es ja sogar Herr Stoller-Schai selbst?) stellte "seine" Texte jedenfalls gleich mal indirekt unter die GNU General Public License und verwies auf ein neues "Copy & Paste-Gesetz" in Deutschland, das das Kopieren von Texten für Lehrzwecke erlauben würde.

Mit (wissenschaftlich völlig unzureichendem bzw. eigentlich falschem) Verweis auf die Website www.hyperkommunikation.ch findet sich die Glasersfeld-Biographie erneut in einer Seminararbeit an der Universität Regensburg vom Wintersemester 2003/04 (siehe S. 5 f.). Und immer noch "lassen" Glasersfelds stetiger Umgang mit vielen Sprachen etwas erkennen: Die paraphrasierende Übernahme des Webtexts wird wohl schwer zu bestreiten sein. Auch in dieser Arbeit wird einem übrigens durchgängig schwindelig, was die "Zitierkultur" von Webquellen anbelangt.

... und endet (vorläufig) auf hausarbeiten.de

Den bislang letzten und dreistesten Fall von Textklau leistete sich eine Studierende an der Universität Paderborn. Sie kopierte nahezu die gesamte Biographie samt Fußnoten in ihre Hausarbeit hinein, belegte keine einzige der üppigen Übernahmen und publizierte ihr wissenschaftliches Werk auch noch auf hausarbeiten.de. Das Herunterladen kostet 4,99 Euro, so dass die "Autorin" am Textbetrug theoretisch auch noch etwas verdienen kann.

In dieser Arbeit finden die an Glasersfelds Biographie interessierten Leser den Satz:

Der lebendige Umgang mit vielen Sprachen lassen ihn früh den Umstand entdecken, dass der Zugang zur Welt in jeder Sprache ein anderer ist (vgl. die Sapir/Whorf-Hypothese: die Struktur der Welt wird durch die Muttersprache festgelegt/geprägt).

Die Arbeit wurde an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn im Sommersemester 2006 mit 1,7 beurteilt (laut Information auf hausarbeiten.de). Der wissenschaftliche Fortschritt gegenüber 1998 liegt in der Einfügung des stummen "h" bei "ihn" ("lassen" blieb hingegen erhalten) sowie in der Behauptung einer neuen Autorschaft.

Google, Copy und Paste statt Recherchieren, Lesen und Schreiben

Früher galt das Diktum, die Suche wäre wichtiger als das eigentliche Informiert-Sein: Man müsse letztlich nicht über eine Sache großartig Bescheid wissen, man müsse nur wissen, wo man im Ernstfall suchen muss. Das hat sich mit Google ebenfalls erledigt. In der Ära des Google-Copy-Paste-Syndroms wird auch die Kulturtechnik des Recherchierens als genuine Leistung obsolet. Wer "Ernst von Glasersfeld" mit Google sucht, findet auf Platz 3 das Textfragment auf hyperkommunikation.ch und auf Platz 4 bereits das Dokument von Stoller-Schai. Seminararbeiten lassen sich so im Idealfall in wenigen Minuten basteln: Begriff googeln, Copy/Paste, kurzes Redigieren (oder auch nicht) und fertig.

All diese Funde betreffen natürlich nur online verfügbare Dokumente. Wie viele Hausarbeitenschreiber in den vergangenen Jahren Webtexte über Ernst von Glasersfeld geplündert haben, ohne dann das Plagiat etwa "stolz" auf hausarbeiten.de zu publizieren, wissen wir nicht.

Kybernetische Textzirkulation

In diesem Beispiel wurde jedenfalls ein Text ins wissenschaftliche System zurückgespeist, ein kybernetischer Kreislauf, an dem wohl selbst Ernst von Glasersfeld seine Freude hätte. Wenn sich dahinter nicht ein ernstes Problem verstecken würde: Derartige (nicht hinreichend wahrgenommene oder gar geduldete) Copy/Paste-Praxen führen dazu, dass Studenten unter Umgehung der elementaren Kulturtechniken Lesen und Schreiben mit geschickter Schummelei einen akademischen Abschluss erhalten können.

Sind solche Fälle nur Zwischenspiele in der Geschichte oder aber Vorboten einer Textkultur ohne Hirn, auf die wir zusteuern? Steven Johnson schrieb im Kapitel über die digitale Textproduktion in seinem Buch "Interface Culture"1 in den neunziger Jahren:

Neue Maschinen neigen in der Anfangsphase dazu, Schattenversionen von sich zu werfen, falsche Fährten zu legen und Ablenkungsmanöver zu inszenieren. [...] Wie sich zeigt, sind Computer für diese fehlgeleiteten Interpretationen besonders anfällig.

Das Google-Copy-Paste-Syndrom als lästiger Bypass einer grundsätzlich positiven Digitalisierung des Schreibprozesses? Oder als Anfang vom Ende von Wissen und kritischem Verstand in unseren Hirnen? Erstaunlich ist: Nahezu alle Autoren, die sich aktuell mit den kulturellen Auswirkungen des neuen Mediums Internet beschäftigen, klammern das Google-Copy-Paste-Syndrom nahezu vollständig aus.