Warum die Kinderstube unwichtig ist

These: Kinder bilden ihre Persönlichkeit draußen, nicht zuhause

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Wie werden wir zu denen, die wir sind? Die amerikanische Psychologin Judith Rich Harris liefert dazu seit einigen Jahren Antworten, die viele Eltern nicht so gerne hören. Der Titel ihres Buches, das schon im Jahr 2000 in Deutschland erschienen ist, zeigt deutlich, welche Stoßrichtung sich aus ihren Argumenten ergibt: "Ist Erziehung sinnlos?". Jetzt hat sie in einem Essay für das Prospect Magazine noch einmal nachgelegt: „Warum die Erziehung zuhause nicht so wichtig ist“.

Dass Gene die Entwicklung der Kinder maßgeblich beeinflussen, ist im 21.Jahrhundert wissenschaftlich gut untermauert. Nach dem Stand der Forschung, auf den Judith Rich Harris rekurriert, sollen Gene für etwa die Hälfte der charakterlichen Unterschiede von Personen verantwortlich sein.

Since the 1970s, behavioural geneticists have measured many different human characteristics in many ways. They've looked at personality traits such as extroversion, conscientiousness and aggressiveness. They've looked at mental disorders, intelligence and aspects of people's life histories (such as careers). In virtually every case, the results were the same. About half the variation in the measured characteristic—the differences from one person to another—could be attributed to differences in their genes.

Bei der anderen Hälfte, dem Einfluss der Umwelt auf die charakterliche Entwicklung, beginnt das Rätselraten. Bislang, so Judith Rich Harris, hätten es die Forscher nicht geschafft, genau zu bestimmen, welche Aspekte der Umwelt wichtig seien. Herausgefunden habe man nur, was nicht wichtig sei – genau das, worüber sich Eltern im Gespräch mit anderen so gerne wichtig machen: Wie gut es für das Kind ist, wenn sich die Eltern verstehen und nicht ständig streiten, dass Mutter und Vater zusammen bleiben, wie schwer es Trennungskinder und Kinder von Alleinerziehenden haben. Wie gut es für den späteren Erfolg ist, wenn man das Kind in der Entwicklung etwas anschiebt oder es möglichst frei gewähren lässt, damit es seine Interessen selbst entdecken kann. Ob es besser ist, auf einem Bauernhof aufzuwachsen oder in einer Stadtwohnung, mit vielen Büchern und Bildern, mit viel Spielzeug oder doch etwas spärlich, um es nicht mit Reizen zu überstrapazieren, usw.

Nichts davon, so zeige die Forschung „gegen unsere Intuition“, spiele eine große Rolle. So sei ein Kind, das in einem ordentlichen Zuhause aufwachse, im Durchschnitt nicht gewissenhafter als eines, das in einer unordentlichen Umgebung zuhause ist. Eher wahrscheinlich ist, dass das Kind gewissenhafter ist, weil dieses Charaktermerkmal vererbt wurde. Der Schluss, den die Psychologin daraus zieht, hat sie bekannt gemacht: Die für die kindliche Entwicklung wichtige Umgebung ist nicht zuhause zu suchen, sondern außerhalb. Zwar hätten Erfahrungen, die zuhause gemacht werden, durchaus eine Wirkung auf das Kind, aber Rich Harris schert dort aus, wo für viele der folgerichtige nächste Schritt ist. Sie ist nicht der Meinung, dass solche Erfahrungen in andere Situationen und Umgebungen einfach nur mitgenommen werden. Ein Kind, das sich zuhause gegenüber den Eltern als trotzig und schwer zu bändigen zeigt, kann sich im Kindergarten oder in der Schule ganz anders verhalten, angepasst, ruhig, freundlich, umgänglich.

Babys und Kleinkinder würden nicht so schlicht funktionieren, wie es landläufige Erkenntnisse und Glaubenssätze postulieren. Von früh auf wüssten wir, dass es unterschiedliche Personen gebe. Nur weil die Mutter depressiv sei, müssten nicht alle anderen auch depressiv sein, eine babyleichte Erkenntnis:

A baby is wise enough to understand, almost from birth, that people differ. The fact that his mother treats him well doesn't lead him to expect that his sister or the babysitter will also do so. How other people will act towards him is something he will have to find out for himself, person by person.

Researchers have discovered that the babies of mothers suffering from postnatal depression tend to act in a sombre, subdued fashion in the presence of their mothers. But around other familiar caregivers, these babies act quite normally—much more lively and cheerful. Just because Mummy is depressed doesn't mean everyone is depressed. Just because Mummy lets me get away with murder doesn't mean I can act that way in school.

Die Anpassung an andere soziale Umgebungen geschehe instinktiv, verantwortlich dafür sei ein eingebauter Überlebensmechanismus. Fähigkeiten und Verhaltensmuster, die zuhause entwickelt wurden, werden schon von den kleinsten Kindern im Leben draussen „vorsichtig getestet“, modifiziert und sogar aufgegeben, falls die Reaktion von den anderen in der Krippe negativ ausfällt. Der Einfluss gleichaltriger „Peers“ werde nicht erst im Teenager-Alter sichtbar, sondern schon im Alter von drei Jahren, so die Psychologin.

Als illustrierndes Musterbeispiel für den zentralen Einfluss der Peers-Umgebung führt sie den Sprachgebrauch von Einwandererkindern an, deren Englisch zuhause den Akzent der Eltern widerspiegelt, draussen aber akzentfrei, bzw. mit dem Akzent gesprochen wird, den sie ihrer Umgebung gelernt haben. Mit ihrer These, dass der Einfluss der Peers auf die Entwicklung des sozialen Verhaltens größer sei als innerfamiliäre Faktoren, wischt Judith Rich Harris mit leichter Hand vom Tisch, was viele Eltern stark beschäftigt. So etwa der Einfluss der Stellung innerhalb der Geschwister.

Ob jemand Erst-oder Zweitgeborener sei, von den Eltern bevorzugt oder benachteiligt wurde, habe sich als unwichtig erwiesen. Erstgeborene hätten keine größere Neigung, sich als Führungspersönlichkeiten darzustellen als Spätergeborene und diese seien auch nicht dazu verdammt, in der Schule weniger gut zu sein. Zum einen hätten Persönlichkeits-Standardtests oft genug bewiesen, dass Erst-und Spätergeborene in ihren Antworten pauschal nicht zu unterscheiden wären, zum anderen würden genügend Alltagserfahrungen bestätigen, dass sich die Kinder in verschiedenen Umgebungen anders benehmen. Ein Spätergeborener, der zuhause vom älteren Bruder herumngeschubst wird, sei vollkommen dazu in der Lage, in einer Gruppe von Gleichaltrigen eine dominante Rolle zu übernehmen. Sollte sich zeigen, dass der Ältere viel aggressiver ist als der jüngere Bruder, so könne das sehr wohl auch an den Erbanlagen liegen.

Diese Erbanlagen werden nach Ansicht der Psychologin aber auch überschätzt. Um ihr Argument der Anpassungsfähigkeit der Kinder und dem dafür wichtigen Milieu der Peers zu unterstützen, greift sie auf Ergebnisse der Forschung mit Zwillingen sowie mit Halbbrüdern und Adoptivkindern zurück. Keine der bislang vorliegenden Theorien könne adäquate Erklärungen dafür liefern, warum sich etwa eineiige Zwillinge mit identischem Genmaterial und gleicher Erziehung in ihrer Persönlichkeit stark unterscheiden. Harris sucht die Erklärung zum einen darin, dass jedes Gehirn Informationen individuell unterschiedlich auswertet und zum anderen darin, dass es „drei Module“ gebe, die für die Verarbeitung von Informationen zuständig seien, die aus der sozialen Umgebung kommen: das Sozialisations-System, das Statussystem und das Beziehungssystem.

Während das Statussystem demzufolge dafür verantwortlich ist, welche Identität und soziale Rolle sich das Kind bewußt aufgrund seiner Selbsteinschätzung aussucht, agiert das Sozialisationssystem weitgehend unbewußt. So wie man den Akzent unbewußt erwerbe, so würden auch andere Persönlichkeits-Charakteristika erworben, ohne dass man darüber genauer Bescheid wisse.

Dass man den Eltern eine zentrale Rolle in der sozialen Entwicklung einräume, liege am Beziehungsmodul, das für die Wahl unserer Freunde und unserer Liebespartner verantwortlich sein soll. Das „Relationship system“ nach Harris agiert bewußt und archiviert auch unsere Erinnerungen an vergangene Erlebnisse mit den Eltern. Da viele mit starken Gefühlen verbunden sind, würde den Eltern so eine größere Rolle zugewiesen als angemessen. Weswegen man, wenn man Personen danach frage, wie sie zu dem Charakter geworden sind, der sie sind, zwar interessante Antworten bekomme, aber kaum welche, denen man „größeres Gewicht“ beimessen müsste:

Asking their parents is even less likely to be profitable, because parents see only one part of their children's lives. Though relationships with parents greatly affect the day-to-day happiness of children, just as marital relationships greatly affect the day-to-day happiness of adults, neither leaves deep marks on the personality. In the long run, it is what happens to them outside the parental home that makes children turn out the way they do. After all, outside the parental home is where they are destined to spend their adult lives.

Welches Gewicht, außer einer angenehmen Frischluftzufuhr in zähen Elterndebatten über die richtige Erziehung, die Erkenntnisse von Harris haben, dürfte freilich nicht nur bei klassischen Freudianern umstritten sein.