Das prekäre Leben

Wird Deutschland zum Billiglohn-Sektor mit befristeten Perspektiven? Junge Akademiker zwischen Praktikum und Prekariat

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Mit dem Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems ist vielfach auch die Hoffnung zerstört worden, dass eine effiziente, nachweislich zielorientierte und qualitativ vermeintlich hochwertige Ausbildung auf geradem Wege zum angestrebten Traumjob führt. Die Realität sieht – trotz sinkender Arbeitslosigkeit und galoppierendem Wirtschaftswachstum – anders aus. Facharbeiter finden oft jahrelang keine adäquate Beschäftigung, Selbstständige stehen immer öfter und schneller vor dem finanziellen Ruin, und Hochschulabsolventen werden mit unschöner Regelmäßigkeit zwischengeparkt, um in Praktika, Volontariaten und befristeten Arbeitsverhältnissen erste Erfahrungen zu sammeln, die den Auftraggebern nicht selten und ganz nebenbei Spitzenleistungen zu Dumpinglöhnen sichern.

Ein willkürliches Beispiel: Allein das kleine Bundesland Bremen verzeichnet nach Angaben der örtlichen Arbeitnehmerkammer 69.500 Mini-Jobber, 20.000 Vollzeitbeschäftigte mit Niedriglöhnen, rund 30.000 Arbeitnehmer mit befristeten Verträgen und fast 6.000 Leiharbeiter, 3.000 Ein-Euro-Jobber, etwa 4.500 Vollzeiterwerbstätige, die zusätzlich Alg II beantragen - und obendrein noch „eine nicht unerhebliche Zahl“ von Scheinselbstständigen und Ich-Ags. Zwischen 1999 und 2006 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse hier von 280.000 auf 271.800 zurückgegangen.

Vor kurzem erschienen zwei Untersuchungen, die diese Phänomene nun aus der Sicht junger Akademiker beleuchten – obwohl sie keineswegs allein davon betroffen sind - und zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die Hochschulinformations-System GmbH (HIS) ist nach einer Umfrage unter mehr als 10.000 Hochschulabsolventinnen und -absolventen des Jahrgangs 2005 zu der Ansicht gelangt, dass die vieldiskutierte „Generation Praktikum“, die seit nunmehr fünf Jahren eine wichtige Rolle in der öffentlichen Diskussion spielt, kein Massenphänomen darstellt und somit schon der Begriff der Grundlage entbehrt. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ist dagegen der Meinung, dass Entwicklungen, die bislang vorwiegend im Niedriglohnbereich für gering Qualifizierte zu beobachten waren, auf den gesamten Bildungssektor übergreifen. Die Gewerkschaft moniert, dass sich die Vergütung für hochwertige Leistungen - wenn denn überhaupt eine solche gezahlt wird – mitunter auf der Höhe des Stundenlohns ungelernter Arbeiter bewegt.

Ist der Berufseinstieg über Praktika doch kein Regelfall?

Die Befragung einzelner Absolventengänge in verschiedenen Städten hatte bislang die Vermutung nahegelegt, dass etwa 37 Prozent der Absolventinnen und Absolventen nach ihrem Studium ein Praktikum von durchschnittlich sechs Monaten Dauer absolvieren, welches nicht selten voll in den Unternehmensablauf eingeplant ist und keineswegs zwingend zur erhofften Festanstellung führt.

Nach einer Untersuchung an der Freien Universität Berlin und der Universität Köln wurde lediglich jedem dritten Praktikanten ein entsprechendes Angebot unterbreitet – 34 Prozent gingen auch dreieinhalb Jahre nach dem Abschluss ihres Studiums noch befristeten Beschäftigungen nach, 16 Prozent arbeiteten freiberuflich oder selbständig, vier Prozent waren mittlerweile arbeitslos.

Das HIS kommt zu deutlich erfreulicheren Ergebnissen. Demnach absolviert nur jeder achte (Fachhochschule) respektive jeder siebte (Universität) Absolvent nach dem Studium tatsächlich ein Praktikum. Gestaffelt nach Fachrichtungen bewerben sich Biologen und Wirtschaftswissenschaftler, aber auch Sprach- und Kulturwissenschaftler sowie Psychologen besonders häufig um eine entsprechende Anstellung. Von einer weiten Verbreitung der sogenannten „Kettenpraktika“ oder „Praktikumskarrieren“ kann nach Einschätzung des HIS allerdings keine Rede sein. Nur jeder zehnte Fachhochschul- und jeder fünfte Universitätsabsolvent durchläuft gleich zwei oder noch mehr Praktika. Auch das Niveau der geleisteten Arbeit bewerteten rund zwei Drittel mit „gut“ oder „sehr gut“, allein bei der Bezahlung fielen die Zufriedenheitswerte „deutlich ab“.

Mit dieser Neubewertung steht das HIS nicht allein. Auch das Bayerische Staatsinstitut für Hochschulforschung und Hochschulplanung und Wissenschaftsminister Thomas Goppel (CSU) halten die „Generation Praktikum“ bestenfalls für ein „Übergangsphänomen“. Nach der Auswertung eines Absolventenpanels mit 13.200 Teilnehmern ist man hier fest davon überzeugt, dass der Berufseinstieg über Praktika kein Regelfall ist und überdies weit besser funktioniert als gemeinhin angenommen wird.

Während in Bayern unermüdlich die Sonne scheint, sehen die Wissenschaftler des HIS trotzdem Problem auf studierte Arbeitssuchende zukommen. Sie liegen ihrer Meinung nach jedoch eher im Bereich der befristeten Beschäftigungsverhältnisse, der unterwertigen Beschäftigung sowie der schlechten Bezahlung. Im Sommer soll zu diesem Thema eine weitere Studie erscheinen.

Billiglohn im Bildungssektor

Dass die Formen des befristeten, unterbezahlten Arbeitens allerdings oft kaum voneinander zu trennen sind und immer häufiger zu Anstellungen führen, auf die der Begriff Ausbeutung allemal zutrifft, zeigt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in ihrem Themenschwerpunkt Prekariat. Dabei sind sich die Autoren durchaus darüber im Klaren, dass „die Erosion traditioneller, sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse“ schon in den 70er Jahren begonnen hat. Allerdings betraf sie zunächst vorwiegend niedrigqualifizierte und ungelernte Arbeitskräfte. Mittlerweile hat sich an dieser Situation Entscheidendes geändert. Junge Menschen mit Abitur, Hochschulausbildung und auch solche mit abgeschlossener Promotion oder Habilitation übernehmen zunehmend Tätigkeiten, die nicht nur befristet sind und weit unter Tarif bezahlt werden, sondern obendrein keinerlei Perspektive auf eine dauerhafte Anstellung bieten.

So verweisen die Autoren auf die von der Berliner Senatsverwaltung initiierte Anwerbung von Lehrern, die sich Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) als energisches Vorgehen gegen Unterrichtsausfall anrechnen lässt. Doch hinter der zeitgeisttauglichen, chic inszenierten Idee einer pädagogischen Feuerwehr, die schnell wieder ausgemustert werden kann, häufen sich menschliche und fachliche Probleme. Eine fundierte, auf langfristige Lernziele angelegte Unterrichtsplanung ist für die Lehrer auf Zeit ebenso unmöglich wie die Entwicklung einer persönlichen Lebensperspektive.

Die GEW nennt das Beispiel einer jungen Lehrerin, die nach ihrem „Casting“ einen Vertrag unterschreiben wollte, dann aber von der Nachricht überrascht wurde, dass die kranke Kollegin, für die sie hätte einspringen können, schon wieder gesund sei. Als sie sich gerade von der Absage erholt hatte, bekam sie die Nachricht, dass ein anderer Lehrer einen Hörsturz erlitten habe und sie nun doch Mitglied des Kollegiums sei – bis der Erkrankte seinen angestammten Platz wieder einnehmen könne.

Aus Nordrhein-Westfalen werden Fälle studierter Pädagogen berichtet, die in einer der neuen „offenen Ganztagsschulen“ täglich vier Stunden lang Kinder betreuen. Ihnen bleiben am Monatsende knapp 900 Euro, so dass sich viele einen Zweitjob organisieren müssen und noch froh sein können, wenn ihnen wenigstens ein unbefristeter Arbeitsvertrag angeboten wird. Mit weniger privilegierten Kollegen werden nämlich auch Vereinbarungen für zehneinhalb Monate abgeschlossen – in den Ferien können die Mitarbeiter dann sehen, wo sie bleiben.

In den Einrichtungen werden allerdings nicht nur pädagogische Fachkräfte, sondern auch Eltern und Familienangehörige und überdies Studenten, Ein-Euro- und 400-Euro-Jobber beschäftigt. Hier gilt also nach wie vor die Beschreibung, welche die Friedrich Ebert-Stiftung in ihrer wegweisenden Untersuchung Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse vorgeschlagen hat:

Die Nachfrage nach gemeinnütziger Arbeit in Ein- und Zwei-Euro-Jobs, wie wir sie in vielen Regionen erleben, liefert ein anschauliches Beispiel für die widersprüchliche Wirkung solcher Beschäftigungsverhältnisse. Faktisch handelt es sich bei diesen Jobs um eine moderne Variante von Scheinarbeit. Scheinarbeit deshalb, weil die ökonomische (Existenzsicherung) und die gesellschaftliche Funktion (Anerkennung gesellschaftlicher Nützlichkeit) von Erwerbsarbeit bei dieser Beschäftigungsform entkoppelt sind. Und doch ist vielen Langzeitarbeitslosen selbst eine solche Form der Scheinarbeit lieber als ein andauerndes passives Verharren in der „Zone der Entkoppelung“.

Friedrich Ebert-Stiftung: Prekäre Arbeit

Prekäre Arbeitsverhältnisse in Weiterbildung und Wissenschaft

„Prekär“ gestalten sich auch viele Arbeits- und Lebensverhältnisse in den Bereichen Weiterbildung sowie Wissenschaft und Forschung. Eine Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung kam bereits 2005 zu dem Schluss, dass in den deutschen Weiterbildungseinrichtungen 1.350.000 Beschäftigungs- und Tätigkeitsverhältnisse registriert sind, aber nur 185.000 auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse entfallen. Die rund 150.000 Honorarlehrkräfte, die in diesen Einrichtungen tätig sind, sammeln ihr Einkommen im Durchschnitt bei fünf Auftraggebern und können so mit einigem Recht als „pädagogische Wanderarbeiter“ bezeichnet werden. Ihr monatliches Haushaltsnettoeinkommen variiert von durchaus beruhigenden 2.500 Euro und mehr (44%) über 1.500 bis 2.500 Euro (30%) bis zur Spannbreite 750 bis 1.500 Euro (22%). 6% haben weniger als 750 € zur Verfügung.

Viele Lehrbeauftragte an deutschen Universitäten und Fachhochschulen können selbst davon nur träumen. Nach einer Untersuchung der Soziologin Irmtraud Schlosser, die im vergangenen November veröffentlicht wurde, empfinden 72% der Berliner Lehrbeauftragten ihre Situation als „prekär“. Dabei stört die befristeten Lehrkräfte nicht nur das finanzielle Ungleichgewicht zwischen der Bezahlung der eigenen und der Vergütung der vom hauptamtlichen Personal erbrachten Leistungen. Sie klagen außerdem über die fehlende berufliche und gesellschaftliche Integration, mangelnde Planungssicherheit und einen erheblichen Motivationsverlust, der durch die fortgesetzte Abkopplung von den wichtigen Netzwerken der wissenschaftlichen Kommunikation verursacht wird.

So entsteht ein seltsam trauriges, weil offenbar aussichtsloses Szenario – nicht nur, aber eben auch in der renommiersüchtigen Bundeshauptstadt:

In den aktuellen hochschulpolitischen Diskussionen spielen sie keine Rolle. Sie haben kein Arbeitsverhältnis mit den Hochschulen und auch kein anderes Vertragsverhältnis. Die Hochschule erteilt ihnen einseitig einen Lehrauftrag, jeweils für ein Semester. Für die Lehrveranstaltungsstunde erhalten sie überwiegend zwischen 21,40 € und 30 €. Vor- und Nachbereitungszeiten werden nicht bezahlt. Dabei stellen die ca. 4.000 Lehrbeauftragten zahlenmäßig die drittgrößte Gruppe innerhalb des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals der Berliner Hochschulen. An den Universitäten erbringen sie im Schnitt 10 % der Regellehre, an den künstlerischen Hochschulen und den Fachhochschulen zwischen 22 und 50 %. (...)

Insgesamt ist die Einkommenssituation schlecht. 60 % verfügt über ein persönliches monatliches Nettoeinkommen von lediglich bis zu 1.000 Euro, 23 % von sogar nur unter 600 €. Die Bezahlung pro Lehrveranstaltungsstunde beträgt bei 80 % aller Befragten maximal 30 Euro. (...)

Bei der Frage nach der sozialen Absicherung (also Kranken- und Rentenversicherung) gaben nur 9 % an, dass sie sich ausreichend sozial abgesichert fühlen, fast 60 % verneinten diese Frage.

Irmtraud Schlosser

Potenzielle Nachwuchswissenschaftler verdingen sich dank Hartz IV aber mittlerweile auch als Ein-Euro-Jobber und sind im ungünstigsten Fall gezwungen, ihre Dienste ganz ohne Bezahlung anzubieten. Wer auf eine qualifizierende Maßnahme, eine Mitarbeiterstelle oder eine Professur wartet, muss in der Regel vor Ort präsent sein und Lehrerfahrungen vorweisen. Der Hochschule kann´s recht sein.

Ob das auch für die Gesellschaft als Ganzes gilt, darf allerdings bezweifelt werden. Wenn der Trend zu prekären Lebens- und Beschäftigungsverhältnissen anhält, bedeutet das nicht nur einschneidende Folgen für den Arbeitmarkt, die sozialen Sicherungssysteme und die Volkswirtschaft insgesamt. Auch die Qualität des (Aus)Bildungssystem ist massiv von dieser Entwicklung betroffen, und die Familienpolitik könnte hier an faktische Grenzen stoßen, wenn sie gerade junge Akademiker dazu bewegen will, die negative Geburtenentwicklung der vergangen Jahre umzukehren. Wer für sich selbst keine verlässliche Perspektive sieht, hat schließlich kaum eine Chance und Motivation, weit über die eigenen, aktuellen Lebensumstände hinauszuplanen.