Das letzte Gefecht der laizistischen Republik?

Wahl der Waffen: In der Türkei spitzt sich die innenpolitische Lage zu

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Massendemonstrationen in den großen Städten, ein gescheiterter Präsidentschaftswahlgang, ein von der Opposition eingeschaltetes Verfassungsgericht und ein bedrohliches Memorandum von Seiten des Militärs, das als Warnung vor einer Wahl des Kandidaten der Regierungspartei, Außenminister Abdullah Güls verstanden wurde. In dem die Rede davon ist, dass das Militär "Partei" in den Debatten zur Präsidentenwahl sei und es notfalls seine Haltung und Vorgehen "deutlich machen" werde. Aus der Zuspitzung der innenpolitischen Lage ist ein Kulturkampf geworden. Steht die Türkei kurz vor einer militärischen Eskalation? Oder ist das alles nur das Zeichen für eine funktionierende Zivilgesellschaft? Was passiert da eigentlich gerade in der Türkei?

Steht die Türkei vor einen Militärputsch? Wer die derzeitigen Wortmeldungen einzelner politischer Kommentatoren und Politiker verfolgt, muss tatsächlich diesen Eindruck haben. Da sich nun sogar die deutsche Grünen-Vorsitzende Claudia Roth zu Wort meldet, die die neuesten Äußerungen türkischer Militärs als "höchst demokratiefeindlich und brandgefährlich" bezeichnete, hat die Lage endgültig die deutschen Wohnzimmer erreicht.

Jenseits solch spontaner Hysterien und manch absichtsvoll gesteuerter Erregungen der europäischen Öffentlichkeit, spricht einiges für Gelassenheit, ja sogar für Optimismus. Denn zuallererst sind Demonstrationen, erst recht welche für Gewaltenteilung, Laizismus, säkulare Werte, ja ein Indiz für eine funktionierende Zivilgesellschaft.

Eine geheime Agenda zur allmählichen Islamisierung der Türkei?

Aber was passiert denn da gerade in der Türkei? Seit Wochen gibt es Demonstrationen vieler Hunderttausender in den großen Städten. Sie richten sich in der Regel gegen die regierende, konservativ-religiöse "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) und begannen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen. Darin geht es um die Nachfolge des seit sieben Jahren amtierenden Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer, der Mitte Mai aus seinem Amt scheidet.

Lange Zeit hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan unverhohlen Ambitionen auf den Posten gezeigt. Dafür war er von der Opposition, aber auch innerhalb der eigenen Partei kritisiert worden. Mit Erdogans Verzicht auf die Kandidatur am vergangenen Dienstag hatten die Demonstrationen eigentlich ihr Ziel erreicht. Doch nun richten sie sich gegen den neuen Kandidaten der AKP, den als liberal geltenden Außenminister Abdullah Gül. Das Ziel ist also grundsätzlicher: Es soll verhindert werden, dass sich beide wichtigsten Ämter des türkischen Staates in den Händen einer Partei befinden, die dessen verfassungsrechtliche Grundlage, die völlige Religionsfreiheit staatlicher Institutionen, ablehnt.

Bereits Mitte April hatte sich auch Armeechef Yasar Büyükanit in die Debatte eingeschaltet. Bei einer Pressekonferenz verkündete er, man wünsche sich einen Präsidenten, der den säkularen Charakter der Republik verteidige. Zugleich verwies er darauf, die Entscheidung liege beim Parlament und nicht bei der Armee. Zuvor hatte sich die Armeeführung auffallend zurückgehalten. Wie viele Gegner der AKP fürchtet die Armee, es gebe eine geheime Agenda zur allmählichen Islamisierung der Türkei.

Rütteln an den Institutionen des Säkularismus

Tatsächlich sind derartige Ängste und die Einwände der Militärs nicht völlig aus der Luft gegriffen: Die seit 2002 regierende Regierung Erdogan hat das Land stark verändert. Zwar ist Erdogan einer der erfolgreichsten Regierungschefs in der Geschichte der Türkei: Seine Wirtschaftsreformen greifen, sie führen zu einer seit langem nicht gekannten ökonomischen Stabilität und steigendem Wohlstand. Zugleich ist es Erdogan gelungen, sein Land auch politisch auf EU-Kurs zu trimmen. Außenpolitisch hielt er die Türkei aus dem Irakkrieg heraus und löste das Land aus der nibelungentreuen Umklammerung der USA.

Sachte aber konsequent rütteln AKP-Vertreter zugleich aber auch an den Institutionen des Säkularismus, fördern die Abkehr vom laizistischen Staatsprinzip. So gewinnt der politische Islam an Boden. Dies zeigt sich an Alltagsfragen, wie dem Versuch eines AKP-Stadtteil-Bürgermeisters in Istanbul, einen streng abgeschlossenen "Frauen-Park" einzurichten, den Männer nur betreten dürfen, wenn sie verheiratet sind und sich in Begleitung ihrer Frauen befinden - vorgeblich aus Schutzgründen. Bereits in den 90er Jahren versuchte Erdogan als Istanbuler Bürgermeister, im öffentlichen Nahverkehr die Geschlechtertrennung einzuführen - allerdings vergeblich. Erfolgreicher ist das Vorgehen zahlreicher AKP-regierter Gemeinden, seit 2005 den Ausschank von Alkohol zu verbieten.

Weitaus grundlegender sind die Rollback-Versuche der AKP im Bildungsbereich, einer der tragenden Säulen der modernen Türkei: 2004 scheiterte eine umstrittene Hochschulreform nur am Veto des Staatspräsidenten. Erdogan wollte damit den Absolventen religiöser Gymnasien den Hochschulzugang erleichtern. Mehrere Verfassungsänderungen der letzten Jahre zielten auch auf die Beschränkung des Einfluss des Militärs. Die Generäle mussten auf Vertreter in den Aufsichtsräten der Universitäten und des Rundfunks verzichten.

Kritiker sehen in alldem klare Schritte in Richtung einer Islamisierung der Türkei, für sie ist die derzeitige Krise das letzte Gefecht der laizistischen Republik. AKP und Regierung dagegen sprechen von einer "freien Ausübung der Religions- und Gewissensfreiheit" und funktionalisieren nicht zuletzt die EU-Beitrittsverhandlungen in ihrem Sinn. Ähnlich auch die Angst vor der Armee, und das von vielen EU-Politikern vorbehaltlos unterstützte Ziel einer Schwächung der Armee.

Die Armee als Hüter der Verfassung

Gerade dies geht aber an den politischen Realitäten der Türkei vorbei. Hier ist die Rolle des Militärs zentral und keineswegs eindeutig pro- oder antidemokratisch. Im Zentrum steht die grundsätzliche Frage nach Bedeutung und Zukunft des geistigen Erbes von Kemal Atatürks im 21. Jahrhundert. Der Staatsgründer, der in den Jahrzehnten nach 1918 die Ruinen des zusammengebrochenen Osmanischen Reiches übernahm, einen völligen Bruch mit osmanischer Tradition und Geschichte - und damit auch mit der Verbindung von Institutionen und Islam - herbeiführte und das Land nicht zuletzt mit Hilfe einer umfassenden Bildungsreform auf neue, in der politischen Tradition des Westens verankerte Grundlagen stellte, wird bis heute geradezu kultisch verehrt.

Atatürks Name und Erbe sind das Zentrum einer den türkischen Staat durchdringenden Zivilreligion, und die atatürksche Modernisierung ist die "raison d'etre" der Türkei. Sie wird derzeit in ihren Grundlagen auch von Erdogan und der AKP nicht infrage gestellt. Im Gegenteil verkündete Erdogan erst gerade wieder deutlich: "Demokratie und Säkularismus, ein Rechtsstaat, dies sind die Prinzipien der Republik."

Doch wer schützt diese Prinzipien, wenn sie in Gefahr sind? Nach ihrem eigenen Selbstverständnis fungiert die Armee als Hüter der türkischen Verfassung. Auch dieser Eindruck ist nicht völlig aus der Luft gegriffen.

Viermal griff das Militär in den letzten 50 Jahren in die Politik ein. 1960, 1971 und 1980 übernahm das Militär jeweils für kurze Zeit die Macht. 1997 genügte eine öffentliche Drohung, um die amtierende Regierung zu stürzen. Diese Rolle der Armee als einer selbstständig handelnden Kraft im System der Republik ist ein Teil der türkischen politischen Kultur. Auch Gegner dieser Militärputsche räumen ein, dass dem jeweils eine chaotische Situation vorausging und die Unfähigkeit oder der Unwille der politischen Parteien, die Probleme selbst zu lösen. Was ebenfalls Konsens ist: Das Militär hielt sich während seiner Herrschaft an die Grundlagen des Kemalismus und führte das Land jeweils schnell wieder zur Demokratie zurück.

Genau auf diesen letzten Punkt, auf die grundsätzlich demokratische Gesinnung der Armee, würden Verteidiger ihrer Rolle immer verweisen, während Militär-Kritiker das autoritäre Selbstverständnis der Generäle betonen, nachdem die Armee im Zweifelsfall besser weiß als jede demokratische Mehrheit, was für das Land gut ist. Noch gewichtiger ist der Verweis auf die realen Zustände während der letzten Militärdiktatur: Oppositionelle wurden unterdrückt, die Grundrechte massiv eingeschränkt, Hunderttausende wurden ohne richterliche Kontrolle inhaftiert und oft genug gefoltert, über 10.000 verloren die türkische Staatsangehörigkeit, über 200 Menschen wurden zum Tod verurteilt oder starben unter "unklaren" Umständen.

"Nein zur Scharia, nein zum Putsch!"

Trotzdem waren die Militärs in der Türkei niemals unbeliebt oder gar gefürchtet. Auch Kritiker früherer Putsche halten den Anspruch der Generalität auf politische Einflussnahme und Garantie der kemalistischen Verfassungs- und Politikprinzipien für richtig. Keine Frage ist allerdings auch, dass ein Militärputsch derzeit von einer großen Mehrheit der Türken, auch unter den Gegnern Erdogans abgelehnt wird: "Nein zur Scharia, nein zum Putsch" war einer der vielzitiertesten Slogans bei den Demonstrationen der letzten Tage. "So etwas können wir nicht akzeptieren!" kommentierte die Zeitung Milliyet das jüngste Memorandum der Armee, die Tendenz anderer Medien war nicht minder deutlich.

Ähnlich wie die Armee sieht man auch die Rolle eines künftigen Staatspräsidenten. Auch von ihm erwartet man in erster Linie den Schutz der staatlichen Grundlagen gegen die Exzesse aktueller politischer Entscheidungen. Das genau war der Vorzug des überaus populären scheidenden Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer. Obwohl bekennender Muslim ist er auch ein strenger Laizist, der sogar Ministergattinnen, die das Kopftuch trugen, den Zugang zu offiziellen Veranstaltungen verweigerte. Seine letzte wichtige Rolle wird Sezer nun bei der Lösung der aktuellen Krise um seine Nachfolge spielen.

Die größte Oppositionspartei, die zwischen linkem Sozialdemokratismus und autoritärem Nationalismus schwankende, nur dem Prinzipien nach noch streng kemalistische, aber von Atatürk gegründete "Republikanische Volkspartei" (CHP), hat jetzt vor dem Verfassungsgericht gegen den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen geklagt, nachdem Gül im ersten Wahlgang die Zwei-Drittel-Mehrheit von 367 Stimmen knapp verfehlt hatte. Die AKP stellt derzeit 363 der 550 Abgeordneten.

Die Stärke der Zivilgesellschaft

Wie also wird es weitergehen? Das Bild ist paradox: Das Militär erscheint demokratisch, obwohl es gar nicht gewählt wurde, ein Ministerpräsident gilt als undemokratisch, obwohl er sich Wahlen stellt und den Mehrheitswillen der Bürger vertritt. Keine Frage: Die Türkei macht derzeit eine schwierige Phase durch. Eine Rolle spielt dabei zweifellos auch das unklare Verhalten der EU, deren Reformforderungen und Eingriffe in die Innenpolitik das Klima belasten, ohne dass die EU jene Streitfragen, in denen sie selbst eine politische Bringschuld hat - etwa die skandalöse EU-Politik in der Zypernfrage - einer Lösung näher bringen würde. Die EU provoziert durch ihr Verhalten auch die nationalistischen Kräfte links wie rechts, ebenso wie die Islamisten.

Doch in erster Linie liegt es jetzt an den Türken ihre innenpolitischen Probleme anzugehen und zu beweisen, dass sie eine derartige Krise mit den Mitteln einer westlichen Demokratie zu lösen vermögen.

Wer in den vergangenen Wochen die türkische Hauptstadt Ankara oder die Metropole Istanbul besucht hat, der konnte die Nervosität mit Händen greifen: Es brodelt in der türkischen Innenpolitik. Die Atmosphäre wirkt pessimistischer als in den Jahren zuvor, die Menschen, denen man begegnet sind niedergeschlagen und skeptisch, gerade was die Politik der Regierung Erdogan angeht. Aber die Intellektuellen, Journalisten und Wissenschaftler in Istanbul stehen nicht allein. Gerade die urbane bürgerliche Mittelschicht und die neuen Aufsteiger der Türkei sind von heimlicher Unsicherheit geplagt. Sie zielt auf die Unterschichten aus der Provinz, die fundamentalistisch wählen und immer deutlicher ihren Teil am Wirtschafts-Aufschwung einfordern. Boshaft spricht man in den Istanbuler Cafés auch von "weißen" und "schwarzen" Türken. Dieser Konflikt wird ungeachtet vom Ausgang der augenblicklichen Krise in den nächsten Jahren zunehmen.

Umgekehrt gilt aber zugleich: Man kann auch etwas herbeireden. Gerade die Demonstrationen der letzten Tage und das Verhalten der Medien zeigen, was sich schon in den Wochen nach der Ermordung des Journalisten Hrant Dink vor wenigen Monaten beobachten ließ: Ob mit oder gegen die AKP - in der Türkei gibt es längst eine funktionierende Zivilgesellschaft westlichen Zuschnitts. Die derzeitigen Auseinandersetzungen sind Auseinandersetzungen im Übergang zu einer reifen Demokratie, einem Übergang von Gleichheit, verstanden als "Gleichartigkeit" hin zu Gleichheit, die als "Gleichwertigkeit in Unterschiedlichkeit" verstanden werden kann. Bei dieser Entwicklung gibt es aber natürlich keinerlei Automatismus. Die türkische Zivilgesellschaft ist noch vergleichsweise schwach, aber sie wird jeden Tag stärker. Wie stark, wird man sehr bald sehen.