Folter für die Freiheit

Ein halbes Jahr nach seiner Freilassung berichtet Murat Kurnaz ausführlich über seine Erlebnisse

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Der Name Murat Kurnaz tauchte erstmals 2002 in der deutschen Presse auf, die ihm den Beinamen „Der Bremer Taliban“ andichtete. In den folgenden Jahren gab es immer wieder Berichte, Spekulationen, Schlussfolgerungen, letztendlich wusste man aber nur eines mit Sicherheit: Dass ein junger Deutschtürke kurz nach Beginn des Afghanistanfeldzuges von den USA inhaftiert und im Gefangenenlager Guantanamo festgehalten wurde. In dem soeben erschienenen Buch „Fünf Jahre meines Lebens“ berichtet Murat Kurnaz, was ihm in dieser Zeit geschah.

„Weißt Du, was die Deutschen mit den Juden gemacht haben? Genau das machen wir jetzt mit Euch.“ Mit diesen Worten wird der Deutschtürke Murat Kurnaz im Frühjahr 2002 im US-Gefangenenlager Guantanamo Bay auf Kuba begrüßt. Da hat er bereits mehrere Monate unter unmenschlichen Umständen in einem amerikanischen Lager nahe der afghanischen Stadt Kandahar zugebracht, hatte ansehen müssen, wie Mitgefangene gefoltert und ermordet wurden, bis er schließlich selbst misshandelt wurde – unter anderen von Beamten des deutschen KSK, gegen die heute aufgrund von Kurnaz Aussagen ermittelt wird.

Murat Kurnaz, 1982 in Bremen geboren und dort aufgewachsen, flog im Oktober 2001, kurz nach seiner Hochzeit, nach Pakistan, um am Mansur-Center in Lahore seine Korankenntnisse zu vertiefen. Auf dem Weg zum Flughafen, auf dem Rückweg nach Deutschland, setzten ihn pakistanische Polizisten fest und verkauften ihn für 3000 Dollar an die USA. Eine Militärmaschine brachte ihn und vierzehn weitere Häftlingen nach Afghanistan. Ein fünfjähriges Martyrium begann. Erstmals berichtete die Presse über den „Bremer Taliban“. Er sei als Kämpfer gegen die USA nach Afghanistan in den Krieg gezogen, hieß es, und nahe der Bergfestung Tora Bora aufgegriffen worden.

Als er in Camp X-Ray auf Kuba ankam glaubte er noch immer, dass sich der Irrtum bald aufklären würde. Aber es stellte sich schnell heraus, dass die US-Behörden längst über sein komplettes Leben und somit auch seine Unschuld informiert waren. Es interessierte sie bloß nicht.

Es beginnen endlose Verhöre, in denen man Kurnaz Fotos, Telefonnummern, Lebensläufe seiner Freunde und Verwandten vorlegt, die er als Terroristen denunzieren soll. Er selbst solle eingestehen, Attentate geplant zu haben, Osama Bin Laden getroffen zu haben, etc. Doch Kurnaz weigert sich. Er verliert nicht das Gefühl, man wolle ihm aus jeder seiner Aussagen einen Strick drehen. Schließlich antwortet er gar nicht mehr.

Ruhig und ohne anzuklagen beschreibt Kurnaz das System Guantanamo. Und der Leser fühlt sich auf unangenehme Weise an Berichte über die Konzentrationslager der Nazis erinnert. In einer der schockierendsten Szenen erzählt Kurnaz von einem Mitgefangenen, dem beide Beine amputiert wurden und der ohne jegliche ärztliche Hilfe, mit eiternden Stümpfen, in seinem kaum vier Quadratmeter messenden Käfig vegetiert. Als Toilette dient ein Eimer. Als der Verwundete sich an den Gitterstäben hochzieht, um sein Geschäft verrichten zu können, wird er von einem der ständig präsenten Einsatzteams brutal zusammengeschlagen. Es ist verboten, die Gitter zu berühren.

Isolationshaft (teils über Monate), Kälte oder Hitze, Wasserfolter, Elektroschocks, Schläge, Essensentzug, Amputationen, Willkür, null Kontakt zur Außenwelt, und dabei wieder und wieder zermürbende Verhöre. „Ich weiß nicht, was meine Mitgefangenen getan haben, aber kein Mensch verdient eine solche Behandlung“, schreibt Kurnaz, der gerade beobachtet, wie die Wachmannschaften jedem Gefangenen ins Essen spucken. Dieser Satz ist bezeichnend. Es fällt auf, wie unkritisch die Mithäftlinge beschrieben werden. Keiner der auftauchenden Charaktere, abgesehen von den amerikanischen Wachen und Geheimdienstlern, trägt unangenehme oder gar verbrecherische Züge.

Das kann man Kurnaz nicht vorwerfen, man muss es aber anmerken. Denn letztendlich hat man kaum eine andere Wahl, als ihm Recht zu geben. Folter und Misshandlungen sind Methoden totalitärer Staaten. Eine Demokratie, die so handelt, verspielt ihre Glaubwürdigkeit. Man kann davon ausgehen, dass nicht jeder Gefangene auf Guantanamo so unschuldig ist, wie hier präsentiert. Aber rechtfertigten Verbrechen eine Behandlung, die ebenfalls auf der Ebene schwerster Verbrechen gegen die Menschenwürde, gegen die Genfer Konventionen, verortet werden müssen? Das seit Ende 2001 bestehende Lager auf Kuba gilt als rechtsfreier Raum. Häftlinge verschiedenster Nationalitäten werden dort über Jahre ohne formelle Anklage festgehalten. Durch ihre Einstufung als „feindliche Kämpfer“ gelten für sie die Bestimmungen der Genfer Konventionen nicht. So zumindest argumentiert die US-Regierung und verwehrt sich seit Jahren jeglicher Kritik durch Regierungen und Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International.

Kurnaz vor dem UNtersuchungsausschuss

In ihrem Nachwort stellen die Stern-Autoren Uli Rauss und Oliver Schröm die Frage, ob man Kurnaz glauben kann, und sie kommen zu einer positiven Antwort. Es ist eine wichtige Frage, die einem aber in Anbetracht der Grausamkeiten in seinem Bericht auch unverschämt erscheint. Es lässt sich nicht nachprüfen, ob jedes Detail vollständig korrekt ist. Ob es nun stimmt, dass Kurnaz, der immer wieder seine Rolle als durchtrainierter Sportler herausstellt, tatsächlich einen Wachmann verprügelt hat, der ihn zuvor verhöhnt hatte, um nur ein Beispiel zu nennen. Darum geht es aber auch nicht. Tatsache ist, dass sich Kurnaz' Aussagen mit jenen anderer ehemaliger Guantanamo-Häftlinge decken, die sich in anderen Publikationen1 zum Thema geäußert und beschrieben haben, wie versucht wird, den menschlichen Willen systematisch zu brechen. Dadurch wird auch die Glaubwürdigkeit der wenigen bisher von der US-Regierung freigegebenen Vernehmungsprotokolle massiv in Frage gestellt. Wie viel ist wahr und wie viel besteht aus unter Folter erzwungenen Falschaussagen?

Das Buch zwingt den Leser, nicht die Augen vor den massiven Menschenrechtsverletzungen zu verschließen, die im Zuge des „War on Terror“ begangen werden. Es stellt indirekt die Frage, welche Lehren die Menschheit aus dem Grauen des Zweiten Weltkrieges gezogen hat. Und es stellt auch die Frage nach der Mitschuld der Bundesregierung, die, wie heute zweifelsfrei belegt ist, bereits 2002 in vollem Umfang über die Sachlage im Bilde war, Kurnaz aber weiterhin als potentielle Gefahr einstufte und sich dem amerikanischen Angebot, ihn freizulassen, verweigerte.

Murat Kurnaz: Fünf Jahre meines Lebens - Ein Bericht aus Guantanamo. Rowohlt Berlin, 2006. 288 Seiten, 16,90 Euro