Rückzug nach vorne

Der Austritt Venezuelas aus IWF und Weltbank ist eine Folge des Interventionismus der letzten Jahrzehnte

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Seit Jahren ist Venezuelas Präsident Hugo Chávez als scharfer Kritiker nicht nur der USA bekannt. Auch das Regime der Bretton-Woods-Organisationen stand im Visier des Südamerikaners. Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank seien durch ihre konditionierte Vergabe von Krediten für die Deregulierung der lateinamerikanischen Märkte in den letzten zwei Jahrzehnten verantwortlich. Diese Politik wird in der Region für die bestehenden sozialen Probleme mitschuldig gemacht. Nun hat Chávez der spannungsgeladenen Beziehung selber ein Ende gesetzt. Auf einer politischen Veranstaltung zum 1. Mai gab er zu Beginn dieser Woche den Austritt seines Landes aus beiden Institutionen bekannt. Eine irrationale Politik, wie es die Opposition im Land und auf internationaler Ebene behauptet?

Venezuela müsse nun bei niemandem mehr als Bittsteller auftreten, sagte der Politiker bei der Veranstaltung im Theater "Teresa Carreño" im Zentrum von Caracas, "weder beim IWF, noch bei der Weltbank, bei niemandem". Und vor allem: "Wir werden nicht mehr nach Washington gehen müssen." Beim IWF hatte Caracas seine Ausstände schon seit längerem beglichen. Der Weltbank hatte die Regierung Mitte April die Schulden in Höhe von gut drei Milliarden US-Dollar überwiesen. Den Austritt aus beiden Finanzinstitutionen stellte Chávez daher als Befreiungsschlag dar. Sie hätten ohnehin nur den reichen Staaten gedient.

Die Opposition sah das erwartungsgemäß anders. In regierungskritischen Privatmedien wurde die Maßnahme des Präsidenten quasi als Amoklauf dargestellt. Venezuela sei nach wie vor hoch verschuldet, konterten etwa die Tageszeitungen El Nacional und El Universal. Man sei daher weiter auf die "Hilfe" von IWF und Weltbank angewiesen. Diese Argumentation wurde auch in der deutschsprachigen Medienlandschaft weitgehend übernommen. So zitierte die deutsche Tageszeitung Die Welt eine Gruppe mit dem Namen Avila, der zufolge das Land nach wie vor unter einer "gigantischen Verschuldung" leide. Sie beläuft sich dem Bericht zufolge auf umgerechnet 60 Milliarden US-Dollar. Ein Korrespondentenbericht der ?Süddeutschen Zeitung? spitzte diese Kritik weiter zu:

Chavez verpulvert die meisten Einkünfte, statt sie in eine nachhaltige Entwicklung zu stecken. Der Ölbaron von der Karibikküste gibt gewaltige Summen für Propaganda, Militär und Sozialausgaben aus, nur wenig davon dient strukturellen Verbesserungen.

Die Petro-Präsidenten trumpfen auf, Süddeutsche Zeitung, 2. Mai

Der Tenor: Venezuelas Staatsführung handelt irrational und verantwortungslos, indem sie sich vom hohen Ölpreis leiten lässt. Falle der Preis des "schwarzen Goldes", sei auch mit dem Spuk in Venezuela zu Ende.

Beide Kritiken - die andauernde Verschuldung und die Verwendung der Staatseinnahmen - verfehlen dabei den eigentlichen Punkt. Venezuela hat mit dem Austritt aus IWF und Weltbank einen Trend fortgeführt, der in der gesamten Region zu beobachten ist: die Emanzipation vom Bretton-Woods-Regime, das seit den achtziger Jahren eine neoliberale Politik in der Region erzwungen hat und damit maßgeblich dafür Verantwortung trägt, dass die Regierungen in ihrer sozialen Obhutspflicht der Bevölkerung gegenüber eingeschränkt wurden. In Lateinamerika hatte und hat dieser Rückzug angesichts der massiven sozialen Widersprüche zum Teil katastrophale Folgen.

Allgemeiner Trend gegen IWF und Weltbank

Gezeigt hat sich die allgemeine Ablehnung des Bretton-Woods-Regimes zuletzt noch nicht einmal in Caracas, sondern in Ecuador. Dessen Regierung wies Ende April den Vertreter der Weltbank, Eduardo Somensatto, aus dem Land aus. Staatschef Rafael Correa warf der Weltbank Erpressung vor, weil sie einen bereits zugesagten Kredit in Höhe von umgerechnet 100 Millionen US-Dollar ohne weitere Begründung zurückgehalten habe.

Auf dem Gipfel der Bolivarischen Alternative für Amerika (Lula oder Chávez?) drängte der bolivianische Präsident Evo Morales darauf, gemeinsam das Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten von 1965 aufzukündigen. Das Schlichtungszentrum ICSID, das auf der Basis des Abkommens bei der Weltbank geschaffen worden war, habe sich zum Instrument transnationaler Unternehmen entwickelt, kritisierte der sozialistische Politiker. Gemeinsam mit den übrigen drei ALBA-Mitgliedsstaaten Venezuela, Kuba und Nicaragua erklärte Bolivien, die Arbeit mit dem ICSID baldmöglichst zu beenden, um einen eigenen Mechanismus zu schaffen, von der Streitigkeiten zwischen Staaten und privaten Investoren geschlichtet würden.

Der Widerstand gegen IWF und Weltbank kommt demnach nicht nur aus Venezuela. Tatsächlich werden spätestens seit der Finanzkrise in Argentinien) (1998-2002) die so genannten Strukturanpassungsmaßnahmen von IWF und Weltbank in Lateinamerika als Ursache für die heute bestehenden sozialen Probleme gesehen (Freikauf vom IWF). Der wirtschaftspolitische Interventionismus der Organisationen steht dabei in einem zunehmenden Widerspruch zu der Politik des starken Staates, wie sie von der neuen Linken in Lateinamerika wieder forciert wird. Diese Linie widerspricht trotz der Rhetorik (noch) nicht kapitalistischen Markgesetzen. Sie stärkt vielmehr den Handlungsspielraum der nationalen Bourgeoisien gegenüber transnationalen Akteuren.

Widerstand gegen politischen Interventionismus

Das zeigt gerade der Konflikt mit dem ICSID. Der Bruch mit dem Schlichtungszentrum der Weltbank müsse laut Morales erfolgen, "um das souveräne Recht der Staaten zu garantieren, ausländische Investitionen auf dem eigenen Territorium zu regulieren". Dass dieses Recht von dem Weltbank-Gremium seit den neunziger Jahren zunehmend eingeschränkt wurde, meint nicht nur der bolivianische Präsident. Auch der Jurist Jorge Barraguirre, der Argentinien im vergangenen August in einem Schiedsverfahren vor dem ICSID vertrat, hält die Entscheidungen des Gremiums für eine "Pervertierung und unzulässige Ausdehnung" des ursprünglichen Begriffes von Investitionsschutz. In den vergangenen Jahren seien immer weniger Schlichtungen nach ursprünglichem Muster erfolgt, jedoch seien den Staaten in den Verfahren immer häufiger politische Auflagen erteilt worden, von der Nicht-Einmischung in ökonomische Abläufe bis hin zu der Vermeidung eines "aggressiven Klimas" gegen Investoren. Auch der argentinische Finanzpolitiker Osvaldo Guglielmino ist daher der Ansicht, dass das ICSID mit der Unterstützung der Weltbank "neue Rechtsstandards" geschaffen hat.

In wessen Interesse diese Entwicklung steht, zeigt ein Blick auf die Statistik. Nach einem Bericht der regierungsnahen bolivianischen Nachrichtenagentur Bolpress waren 1994 weltweit fünf Schiedsverfahren zwischen Staaten und Konzernen anhängig. Sie lagen nicht ausschließlich beim ICSID, sondern fanden zum Teil auf der Basis bilateraler Investitionsschutzabkommen statt. Zehn Jahre später, 2004, liefen international bereits 160 solcher Verfahren, 106 alleine beim Schlichtungszentrum der Weltbank. In dem Bolpress-Bericht schlüsselt Autor Miguel Lora Fuentes die Verfahren nach Regionen auf. Von den 50 involvierten Ländern seien 31 Entwicklungsstaaten, elf Industriestaaten und acht Schwellenländer. Von insgesamt 37 Verfahren, die gegen Argentinien angestrengt wurden, hätten 34 in direkter Verbindung mit der Finanzkrise gestanden, die von der Politik des IWF und der Weltbank mit provoziert worden war.

Als die Regierung in Buenos Aires auf dem Höhepunkt der Finanzkrise etwa dem Erdgaskonzern CMS Gas Transmission untersagte, die Gaspreise auf dem hohen US-Standard festzulegen, klagte das Unternehmen und setzte sich damit durch. Die Argumentation des Beklagten, man habe die Bevölkerung auf dem Klimax der Krise schützen müssen, fand kein Gehör. Beispiel Nummer zwei: Mexiko. Hier strafte das Gremium das Vorgehen eines Verwaltungsbezirks ab, der dem US-Unternehmen Metalclad untersagt hatte, giftige Abwässer ungefiltert abzuleiten, weil sie das Trinkwasser der Region verseuchten. Die Maßnahme wurde von dem Konzern auf der Basis des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens als Beschneidung der Unternehmensrechte kritisiert. Das Verbot der Regionalverwaltung, Abwässer abzuleiten, stehe im Widerspruch mit dem Artikel 1110 des Freihandelsabkommens, befand auch das ICSID Darin heißt es unter der Überschrift "Enteignung und Entschädigung":

Kein Vertragspartner kann eine Investition eines anderen Vertragspartners auf seinem Territorium direkt oder indirekt verstaatlichen oder enteignen, noch jedwede Mittel ergreifen, die einer Enteignung oder Verstaatlichung dieser Investition nahe kommen.

Artikel 1110 des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens

Umweltschutz als Enteignung - der Fall wird in internationalen Juristenkreisen und von Gegnern Freihandels als besonders krasses Beispiel der Ausweitung von Konzernrechten angesehen.

Votum für eigene Institutionen

Nach solchen Erfahrungen der vergangenen Jahre treten vor allem die links regierten Staaten Lateinamerikas nun erstmals gegen die Bretton-Woods-Institutionen auf. Sie berufen sich dabei auf die These der Schuldenfalle: In den siebziger Jahren haben private Banken den Diktaturen der Region großzügige Kredite gewährt. Dies geschah im Wissen, dass diese Gelder für Waffenkäufe oder Prestigeobjekte ausgegeben werden. In Argentinien etwa stieg die Verschuldung unter der Militärjunta von 1976 bis 1983 von acht auf 43 Milliarden US-Dollar an. Nach dem Verfall der Exportpreise und dem Anstieg der Zinssätze nach 1990 gerieten die nun wieder demokratischen Staaten in einen Quasi-Bankrott, der nur durch Milliardenkredite von IWF und Weltbank vermieden werden konnte. Beide Institutionen knüpften ihre Geldgaben jedoch an strikte politische Kriterien.

Mit der Emanzipation vom Bretton-Woods-Regime versuchen die Staaten Lateinamerikas nun, diese Abhängigkeit zu mildern. Venezuelas Regierung tritt inzwischen offen für die Gründung eigener Kreditinstitutionen ein. Eine Bank des Südens soll die Rolle der internationalen Kreditinstitutionen künftig übernehmen. Die Gründung des regionalen Kreditinstitutes wurde im Februar zwischen Hugo Chávez und seinem argentinischen Amtskollegen Néstor Kirchner vereinbart - eine Idee, die in der Region auch über die in der ALBA organisierten Staaten auf eine positive Resonanz gestoßen ist. Jeder künftige Mitgliedsstaat soll demnach einen Teil seiner Devisenreserven in der neuen Entwicklungsbank anlegen. Umgerechnet sieben Milliarden US-Dollar Startkapital sind bislang zugesagt worden.

Geht der Plan auf wird in Lateinamerika bis Mitte des Jahres eine von IWF und Weltbank unabhängige Entwicklungsbank entstehen. Klar ist schon jetzt: Auch ein solches Regionalinstitut wird nicht mit den kapitalistischen Mechanismen brechen, sondern ansässige Unternehmen und Wirtschaftsstrukturen fördern. Machen Kommentatoren in den Industriestaaten scheint aber schon das zu weit zu gehen.