Fitte Babys schauen fern

Studie aus den USA: Immer jüngere Kinder sitzen regelmäßig vor dem Bildschirm; Eltern halten dies für pädagogisch wertvoll

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Man tut sich schwer mit dem Kopf im Fitness-Zeitalter. Obwohl das Gehirn bekanntermaßen kein Muskel ist, soll es trainiert werden: „Fit“ soll er sein, der Kopf, fit bleiben oder fit werden, so lautet der überall ausgegebene Marschbefehl an die graue Masse. Möglichst früh soll mit einem solchen Programm begonnen werden und vorzugsweise mit Trainingsangeboten, die auf die Bühne des Lebens vorbereiten: Immer mehr Kinder im Alter unter zwei Jahren sehen regelmäßig fern, berichtet eine aktuelle Studie aus den USA. Herausgefunden hat die Studie aber auch, dass die Eltern der festen Überzeugung waren, ihrem Kind mit Bildschirmangeboten bei der Entwicklung zu helfen. Die Denkweise, 20 Fernsehstunden in der Woche würden den Kleinsten Extra-Vitamine für den Kopf liefern, scheint unter Eltern ganz verbreitet (vgl. dazu auch Kinder und Kommunikations- Elektronik).

Der Medianwert lag bei neun Monaten: Ab diesem Alter werden Kinder einem regelmäßigen Medienkonsum ausgesetzt. 40 Prozent der drei Monate alten Kleinkinder und 90 Prozent der Zweijährigen sitzen regelmäßig vor den Bildschirm, bzw. werden dort hin gesetzt, um fernzusehen, DVDs anzuschauen oder Videos. Kinder unter einem Jahr schauen durchschnittlich eine Stunde pro Tag, die Zweijährigen anderthalb Stunden.

Diese Ergebnisse stammen aus einer Studie, die von Forschern der University of Washington und demSeattle Children's Hospital Research Institute am Telefon durchgeführt wurde. Die Wissenschaftler befragten („random telephone surveys“) dazu mehr als 1000 Familien in Minnesota und Washington, denen in den vorangegangenen zwei Jahren ein Kind geboren wurde. Veröffentlicht wird die Studie in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Archives of Pediatrics and Adolescent Medicine.

Die Autoren der Studie haben sich schon seit längerem einen Namen auf dem Gebiet der Erforschung von Zusammenhängen zwischen Mediennutzung und Entwicklung von Kindern in sehr jungem Alter gemacht. Vor allem Dimitri Christakis erntete vor drei Jahren größere Aufmerksamkeit in den Vereinigten Staaten, als er das Ergebnis einer damals durchgeführten Studie präsentierte (Fernsehen verändert das Gehirn). Sein griffig formuliertes Forschungsergebnis, wonach jede Stunde Fernschauen die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind Aufmerksamkeitsprobleme bekomme, um 10 Prozent erhöhen würde, verbreitete sich damals schnell.

Zwar machte Christakis in einem Interview geltend, dass dieses Ergebnis nur mit einigen Hinweisen richtig zu verstehen sei - so etwa dass "Aufmerksamkeitsprobleme" nicht mit der klinischen Diagnose AHDS identifiziert werden dürften und dass statistische Korrelationen etwas anderes sind als Kausalitäten -, aber an der wesentlichen Folgerung, die Christakis daraus zog, änderten diese Einschränkungen nichts:

Die American Academy of Pediatrics empfahl im Jahre 1999, dass Kinder unter 2 Jahren überhaupt nicht fernsehen sollten. Diese Empfehlung wurde damals kritisiert, zum Teil weil sie wirklich keine empirische Basis hatte. Unsere Studie ist nun die erste, die Fernsehen in dieser Gruppe von sehr jungen Kindern wissenschaftlich untersucht und tatsächlich unterstellt, dass daraus später schädliche Konsequenzen entstehen könnten. Im Lichte dieser Erkenntnis empfehle ich Eltern, dass sie ihre Kinder in den ersten Jahren ihres Lebens nicht fernsehen lassen sollen.Und dass sie später extrem wachsam gegenüber der Dauer des Fernsehens und den Inhalt der Sendungen sein sollen.

Dieser Empfehlung bleibt auch die aktuelle Studie treu: Auch wenn die Autoren Christakis und Frederick Zimmermann in einem gemeinsamen Buch die Meinung vertreten, dass Fernsehen auch ein wirksames Mittel zur Unterhaltung, Erziehung und Sozialisation der Kinder sein kann - gemeint sind damit ältere Kinder.

Der „explosiv gestiegene“ Medienkonsum der Allerjüngsten sei eines der großen Gesundheitsprobleme, mit denen amerikanischen Kinder konfrontiert sind, sorgt sich Christakis. Grund genug, um sich die Motivation der Eltern genauer anzusehen: Als die wichtigsten Gründe, weshalb sie ihren Kindern Fernsehen, DVD-Sehen oder Video-Sehen erlaubt hatten, gaben 29 Prozent an, „dass diese Medien pädagogischen Wert hätten oder gut für den Kopf der Kinder wären“. 23 Prozent sagten, dass das Zuschauen vergnüglich sei oder entspannend für das Kind und (nur) 21 Prozent gaben an, dass sie diese Medien als elektronischen Babysitter nutzen würden.

Wie die Studie allerdings herausfand, gaben Eltern zwar pädagogische Motive für die TV-Sitzungen an, tatsächlich aber sahen die Kleinen nur in der Hälfte der Zeit Programme, welche die Forscher als „pädagogisch“ klassifizieren würden und nur 32 Prozent der Eltern waren beim Fernsehen zugegen. Einig waren sich die meisten Eltern aber darin, dass Kinder in anderen Haushalten sehr viel mehr vor dem Bildschirm sitzen würden als die eigenen Kinder zuhause. Laut Studie überschätzte man die durchschnittliche Bildschirmzeit bei anderen Familien um 73 Prozent.

Während nun ein eher mißtrauischer Geist aus diesen Ergebnissen folgern könnte, dass die Eltern pädagogische Gründe vorschützen, um über die realen Motive ("Ruhe geben", „elektronisches Babysitting“) hinwegzutäuschen und sich völlig im Klaren über die eher negativen pädagogischen Effekte des Fernschauens sind („die Nachbarskinder schauen ja auch soviel fern“), sehen die amerikanischen Wissenschaftler das völlig anders:

Diese Studie ist sehr wichtig, denn sie bringt uns etwas über den Medienernährungsplan von Kindern bei, die noch zu klein sind, um über sich selbst zu reden. Die meisten Eltern suchen das Beste für ihre Kinder und wir fanden heraus, dass viele Eltern glauben, dass sie ihren Kindern pädagogische Möglichkeiten und solche, welche Entwicklung ihres Gehirns fördern, zur Verfügung stellen, wenn sie ihre Babys zwischen 10 und 20 Stunden in der Woche vor den Bildschirm setzen.

Andrew Meltzoff, Ko-Autor.