Der große Aderlass

Nach unterschiedlichen Schätzungen haben seit dem EU-Beitritt zwischen 600.000 und vier Millionen Polen ihr Land auf Arbeitssuche verlassen

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Mit den Niederlanden hat kürzlich das neunte Land der „alten EU“ seinen Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte aus Polen geöffnet und eine entsprechende Migrationswelle östlich von Oder und Neiße ausgelöst. Eine jüngst vom polnischen Wirtschaftsministerium veröffentlichte Studie widmet sich diesem gesellschaftlichen Prozess, der seit dem EU-Beitritt Polens zu einem Massenphänomen avancierte: Die Autoren der Studie bemühten sich, die Arbeitsemigration aus Polen ins EU-Ausland genauer zu quantifizieren, sowie deren Auswirkungen auf die polnische Ökonomie und Gesellschaft zu ergründen.

Allein schon eine zuverlässige Quantifizierung der Emigration polnischer Arbeitskräfte erwies sich als überaus problematisch, da viele Auswanderer sich nicht offiziell in Polen abmelden, oftmals noch als arbeitssuchend in der polnischen Arbeitsmarktstatistik geführt werden oder nur saisonabhängig das Land verlassen. Die von den Verfassern der Untersuchung zitierten Angaben diverser stattlicher und wissenschaftlicher Quellen schwanken stark zwischen 660.000 und nahezu vier Millionen polnischer Arbeitsmigranten, die seit dem 1. Mai 2004 Polen verlassen haben sollen. Das polnische Arbeitsministerium spricht z.B. von zwei Millionen Auswanderern.

Als besonders realitätsnah sieht der Emigrationsreport die Zahlen der Nichtregierungsorganisation European Citizen Action Service (ECAS) an, die in ihren Schätzungen das entsprechende statistische Material der die Arbeitsmigranten aufnehmenden Länder berücksichtigt. Laut ECAS erfasste die jüngste Emigrationswelle 1,12 Millionen polnischer polnischer Bürger, die entweder saisonal oder dauerhaft im Ausland ihr Auskommen suchen. Über 500.000 Polen arbeiteten demnach in der BRD, die überwiegende Mehrheit von ihnen als Saisonkräfte in der Landwirtschaft - laut dem Emigrationsreport sind nur „einige Zehntausend“ polnischer Staatsbürger dauerhaft in Deutschland beschäftigt. Es folgen Großbritannien mit 264.000, und Irland mit 100.000 polnischen Auswanderern, die sich dort zumeist dauerhaft niederließen. Über eine bedeutende Anzahl polnischer Arbeitsmigranten verfügt noch Frankreich mit 90.000 und Italien mit 72.000.

Polnische Medien sind bei ihren Schätzungen um einiges großzügiger. Die renommierte Wochenzeitung „Polityka“ schätzte schon im Juni 2006, dass eine Million Polen allein in England und 300 000 in Irland arbeiteten. Somit verdienen mindestens drei Prozent der polnischen Gesamtbevölkerung ihren Lebensunterhalt im Ausland, wobei die Migrationsströme einem raschen Wandel unterworfen sind.

Druck auf Löhne in Polen, aber auch in Deutschland

Besonders schwierig gestaltet sich der Studie zufolge die genaue Bestimmung der Anzahl der polnischen Saisonkräfte, die alljährlich über mehrere Monate hinweg einen großen Teil der Erntearbeit in Deutschland leisten. Hier halten die Autoren der Untersuchung des Wirtschaftsministeriums die Zahlen des ECAS inzwischen als zu hoch gegriffen, da ein Teil der in 2004 auf deutschen Feldern ackernden Polen im folgenden Jahr einfach mitgezählt wurde – dieses entspreche aber inzwischen nicht mehr der Realität, so die Studie.

Aufgrund des stagnierenden Lohnniveaus in Deutschland und der niedrigen Entlohnung in der Landwirtschaft bevorzugen inzwischen viele polnische Saisonarbeiter die Britischen Inseln oder den skandinavischen Raum. Bereits Anfang April schlugen deutsche Bauernverbände aufgrund eines befürchteten Arbeitskräftemangels Alarm. „Viele Polen sind nicht mehr bereit, zum Spargelstechen nach Deutschland zu kommen“, da sie in „anderen Ländern länger befristete und besser bezahlte Arbeit bekommen“, sagte der Vorsitzender des Niedersächsischen Spargelverbandes, Dietrich Paul. Zudem müssen nach dem EU-Beitritt ihres Landes die Saisonarbeiter auch noch in Polen Sozialabgaben für ihren mageren Stundenlohn von durchschnittlich 5,5 Euro entrichteten. Andere Länder sind bei der Abführung dieser Sozialabgaben nicht so restriktiv wie Deutschland, so dass in diesem Jahr an die 14 000 polnische Erntehelfer den deutschen Äckern fernblieben

Natürlich ist nicht nur der deutsche Hungerlohnsektor von der wachsenden Mobilität polnischer Spargelstecher betroffen. Die Massenauswanderung bringt auch gravierende Auswirkungen auf die polnische Ökonomie mit sich. Zum einen fällt es vielen Unternehmen immer schwerer, Arbeitskräfte zu finden, die für die in vielen Branchen üblichen, polnischen Hungerlöhne arbeiten wollen. McDonalds Polska startete unlängst eine Werbekampagne, mit der rüstige Rentner als Arbeitskräfte geworben werden sollten, um sich „zur Rente etwas dazu zu verdienen“. Vor allem im Dienstleistungsgewerbe häufen sich die Klagen von Unternehmen, die Niemanden finden, der bereit wäre, für umgerechnet 250 oder 300 Euro als Kellner oder Putzfrau zu arbeiten. Über einen ernsthaften Arbeitskräftemangel berichtet ebenfalls das polnische Baugewerbe.

Die Arbeitslosigkeit in Polen ist von nahezu 20 Prozent beim EU-Beitritt auf 14 Prozent im März 2007 gefallen. Sollte keine ernsthafte Erschütterung der globalen Konjunktur alle Prognosen zur Makulatur wandeln, so wird es bis Ende 2009 weniger als zehn Prozent offiziell registrierter Arbeitsloser in Polen geben Aufgrund des Fachkräftemangels steigen ebenfalls die Löhne: Der statistische Durchschnittslohn im privaten Sektor betrug im Februar 2007 umgerechnet 677 Euro, bis 2010 soll er Prognosen zufolge auf über 900 Euro steigen

Jeder zweite junge Pole spielt mit der Auswanderung

Ein weiterer positiver Aspekt der jüngsten Emigrationswelle besteht aus den Geldtransfers, die die Arbeitsmigranten in ihr Heimatland überweisen und die belebend auf das polnische Wirtschaftswachstum wirken, das in diesem Jahr über sechs Prozent betragen soll. Die privaten Geldtransfers nach Polen sind der Studie zufolge von 1,9 Milliarden $ in 2001 auf 3,5 in 2005 gestiegen. Zum Vergleich: Spanien ist mit knappen acht Milliarden $ immer noch Spitzenreiter in dieser Statistik, Portugal befindet sich aber mit drei Milliarden $ an privaten Überweisungen inzwischen schon hinter Polen auf Platz drei.

Es gibt nicht nur positive Auswirkungen der aktuellen Migrationswelle: Als ein schwerwiegendes Problem machen die Autoren der Migrationsstudie den so genannten „Brain Drain“ aus, den Verlust hochqualifizierter Arbeitskräfte, die unter erheblichem, auch finanziellem Aufwand in Polen ausgebildet wurden und nun größtenteils gen Westen abwandern. Das von der Volksrepublik Polen geerbte Bildungssystem überstand die Wirren der Systemtransformation einigermaßen intakt und verschafft immer noch vielen Polen die Chance, eine gute, gebührenfreie und steuerfinanzierte Ausbildung zu erhalten.

In einer Anfang April veröffentlichten Umfrage gaben aber z.B. nur 20 Prozent aller befragten Medizinstudenten an, nach Studienabschluss überhaupt in Polen verbleiben zu wollen. Zukünftige Informatiker oder Ingenieure wollen ebenfalls mehrheitlich ihr Glück eher in London oder Dublin, als in Warschau oder Poznan suchen. Generell trägt sich laut einer Umfrage der polnische Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ jeder zweite Polen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren mit dem Gedanken, ins Ausland zu gehen.

Parallel zu der Auswanderung polnischer Arbeitskräfte nach Westen verstärkt sich ein Migrationsstom aus Osteuropa auf den polnischen Arbeitsmarkt. Neueste Schätzungen gehen davon aus, dass inzwischen an die 300.000 Schwarzarbeiter aus der Ukraine in Polen arbeiten – auf dem Bau, als Erntehelfer oder als Hauhaltshilfen. Im Vorfeld der von Polen und der Ukraine gemeinsam auszutragenden Europameisterschaft 2012 sollen sogar massenhaft Arbeitsvisa an ukrainische Bauarbeiter vergeben werden, um die geplanten Stadien und die entsprechende Infrastruktur überhaupt rechtzeitig errichten zu können.