Nicht der Einzelne ist verrückt, sondern das Ereignis

Trauma und Journalismus

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Trauma ist griechisch und heißt Wunde. Trauma und Journalismus – ein Thema für waidwunde Journalisten also? Für Dünnhäutige, die den Anforderungen der Medienbranche doch nicht so ganz gewachsen sind? Irrtum. Traumatisiert werden kann jeder: Berufsanfänger, aber auch alte Hasen. Der seinem Image nach abgebrühte Kriegsreporter ebenso wie der Lokaljournalist, dessen kleine Welt für heil gehalten wird - und es nicht ist.

„Ich werde verfolgt von Erinnerungen an das Morden, an Leichen, an verhungernde und verwundete Kinder. Der Schmerz des Lebens übersteigt die Freude in einem Maße, dass keine Freude mehr existiert", bekannte der südafrikanische Fotojournalist Kevin Carter 1994 in seinem Abschiedsbrief. Nur wenige Wochen vor seinem Selbstmord erhielt der 33-Jährige für das Foto eines sudanesischen Mädchens, auf dessen Hungertod ein Geier lauert, den begehrten Pulitzer Preis für Feature-Fotografie.

Vom Trauma zur Tragödie? Für Mark Brayne vom Dart Center für Journalismus und Trauma in London ein Fall mehr, der beweist, wie dringend eine emotionale Alphabetisierung Not tut in der Medienbranche. Journalisten, Kameraleute, Cutter und Techniker – sie alle sollten wissen, dass nicht nur Betroffene, sondern auch Beobachter schrecklicher Ereignisse seelisch verwundet werden können.

Übersteigen traumatische Eindrücke ein bestimmtes Maß, wollen Bilder, Töne oder Gerüche nicht mehr weichen, kann es sich um eine posttraumatische Belastungsstörung (PTB) handeln. Grundvertrauen, Selbstwahrnehmung, das gesamte Sinnkonzept eines Menschen können dabei ins Wanken geraten. Solche Erschütterungen lassen sich nicht ignorieren oder in Alkohol ertränken, erläutert Christian Lüdke, Trauma-Psychologe aus Köln. Obwohl es sich um seelische Verwundungen handelt, können die Symptome durchaus auch körperlicher Natur sein.

Blacksburg, Virginia, oder Eschede, Niedersachsen - unverhofft kann er da sein, der Tag des Grauens. Und mit ihm das Rangeln um aktuelle Bilder und Berichte. Immer schnellere Übertragungsmedien verlangen rasche Reaktionen. Mitunter müssen ad hoc ethische Grundsatzentscheidungen getroffen werden. Wie nah darf man ran an die Opfer? Welche Fragen sind zulässig? Wo werden Grenzen überschritten?

Die BBC hat inzwischen ein Trauma-Training in ihre Journalistenausbildung integriert, um solche Entscheidungen vorzubereiten. Zusammen mit dem Londoner Dart Center werden Redakteure und Manager in Rollenspielen auf den emotionalen Ernstfall vorbereitet und über Traumata informiert.

Das Dart Center ist eine international tätige Stiftung, die Ende der 90er Jahre von Therapeuten und Journalisten in den USA gegründet wurde. "Journalist to journalist tips" oder "Best Practice" heißen die Menüpunkte auf der Webseite. Ziel des Projektes ist es, ein Netzwerk aus Therapeuten und Journalisten zu bilden und Informationen auszutauschen.

Auch hier zu Lande formiert sich nun ein solches Netzwerk. Fee Rojas, Journalistin und Trauma-Therapeutin aus Hannover, bietet zusammen mit dem Dart-Center auch für deutsche Medienprofis Trauma-Trainings an. Und die Kölner Journalistin Petra Tabeling arbeitet seit einigen Monaten als deutsche Koordinatorin des Dart-Centers. Im Mai hat – in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Psychotraumatologie – eine Auftaktkonferenz in Hamburg stattgefunden. Im Juli bietet die ARD.ZDF medienakademie, vormals zfp, abermals eine Fortbildung zum Thema an.

Journalismus und Trauma, das Thema ist en vogue. Zu recht: „Ein Fußball-Reporter kennt die Spielregeln. Über seelische Verwundungen hingegen schreiben viele, die sich nie zuvor Gedanken darüber gemacht haben", kritisiert Mark Brayne vom Dart-Center Europa. Nichts zu wissen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns in traumatischen Situationen, für einen Journalisten kann dies ein grobes Versäumnis sein: Weil ein 24-jähriger Journalist, der sich für die englische Tageszeitung Guardian in Shanghai aufhielt, traumatisiert war, hielt er einen prominenten chinesischen Dissidenten vorschnell für tot. Eine folgenschwere Falschmeldung. Der Mann lebte.

Den Zürcher Traumapsychologen Andreas Maercker überrascht so etwas nicht. "Menschen, die traumatisiert sind, haben oft Wahrnehmungsstörungen", erklärt er. „Es ist eine biologische Schutzreaktion, dass das menschliche Gehirn Eindrücke abblockt oder verstärkt."

Dissoziieren erfordert Übung

Gibt es einen Masterplan, um posttraumatischen Belastungsstörungen vorzubeugen? „An schöne Dinge denken, sich Bewegung verschaffen, sich auch da noch wehren, wo es aussichtslos erscheint", dies sei seine Strategie, über traumatische Eindrücke hinweg zu kommen, verrät der ehemalige Balkan-Korrespondent Pit Schnitzler. Schnitzler war während des Jugoslawien-Krieges mehrere Wochen inhaftiert. „Nicht unter rechtsstaatlichen Bedingungen", sagt er heute lakonisch.

„Öffentlichkeit herstellen, mit Leuten reden, den Job machen." Arnim Staudt, ehemals Afghanistan-Korrespondent des WDR, erinnert, wiederholt und verarbeitet Traumatisches am Schneidetisch.

"Narrativa erzeugen", schreckliche Ereignisse in Worte fassen und sich mit anderen auszutauschen, empfiehlt Trauma-Therapeutin Fee Rojas. Übertriebene Mitleidsbekundungen von Kollegen wirken allerdings floskelhaft und sind kontraproduktiv, hat sie beobachtet.

Wie hoch das Risiko ist, an einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erkranken, hängt von der privaten und beruflichen Zufriedenheit ab, sagen Trauma-Experten. Grundsätzlich gilt, dass ungewöhnliche Ereignisse ungewöhnliche Reaktionen nach sich ziehen dürfen. "Nicht der Einzelne ist verrückt, sondern das Ereignis." So formuliert es der Zürcher Trauma-Spezialist Maercker. Nach einem schrecklichen Ereignis ist also erst einmal jede Emotion "normal".

Journalisten, die häufig mit traumatischen Situationen zu tun haben, sollten versuchen, negativ traumatische Eindrücke nicht ins Privatleben zu übertragen, erklärt der Berliner Psychologieprofessor Norbert Gurris. Das professionelle Aufspalten traumatischer Erfahrung – Experten nennen es dissoziieren – erfordert aber Übung. Und eine geeignete Umgebung: Unter Umständen muss eine Redaktion ihre Gesprächskultur verändern, ein Bewusstsein dafür schaffen, dass traumatische Gefühle Raum brauchen.

Neuerliche Konfrontationen mit einem Trauma können übrigens auch Re-Traumatisierungen auslösen. Damit solche Emotionen nicht aus dem Ruder laufen, empfehlen Trauma-Experten, die Bedingungen für Interviews mit Betroffenen genau abzusprechen. Wird dem Interviewpartner signalisiert, dass er das Gespräch jederzeit unterbrechen darf, kann eine Befragung für den Betroffenen sogar heilsam sein. Immerhin verhelfen Journalisten traumatisierten Personen dazu, ihre Geschichte zu erzählen. Aber Vorsicht: Nicht nach Gefühlen bohren oder dem Gegenüber nassforsch Stimmungen unterstellen. "Ich weiß, wie Sie sich fühlen", solche distanzlosen Bemerkungen entmündigen.

Last but not least bleibt noch zu sagen, dass überstandene seelische Verwundungen sogar einen Zuwachs an Lebenserfahrung bedeuten können. Post-Traumatik-Growth nennen Trauma-Psychologen eine solche Persönlichkeitsentwicklung. Doch besser ist es, für den Ernstfall vorzubauen, bevor es brenzlig wird. Who's at risk?, fragt Marc Brayne. Es lohnt sich darüber nachzudenken.

Mark Brayne

Journalisten sind Teil des Ereignisses

Mark Brayne arbeitete 30 Jahre lang als Reporter und Korrespondent bei Reuters und der BBC. Dann wurde er Psychotherapeut. Heute leitet er das europäische Büro des Dart-Centers für Journalismus und Trauma in London.

Wie sind Sie zum Thema "Trauma" gekommen?

Mark Brayne: Über meine Tätigkeit als Auslandskorrespondent. Ich war 1989 in Peking und habe gesehen, wie auf dem Tian'anmen-Platz friedliche Demonstranten vom chinesischen Militär getötet wurden. Das hat mich sehr aufgewühlt. Als ich kurz darauf in eine Midlife Crisis geriet, habe ich eine Therapie angefangen. Dabei habe ich bemerkt, dass es mich nicht nur menschlich weiterbingt, sondern auch einen besseren Journalisten aus mir macht, wenn ich mich mit meinen Emotionen befasse. Es waren übrigens ganz einfache Botschaften, die ich damals neu kennen gelernt habe.

Was waren das für Botschaften?

Mark Brayne: Die Grundbotschaft lautet: Auch Journalisten sind in erster Linie Menschen und erst dann Journalisten. Ein Journalist, der über ein Attentat oder einen Amoklauf berichtet, teilt uns etwas über die Betroffenen mit, so die landläufige Meinung. Dass der Reporter sich selbst und anderen eingesteht, dass die Umstände, über die er berichtet, auch ihn seelisch verletzen, ist relativ neu. Es gibt das Klischee, dass der Journalist nicht dazu da ist, Mitleid oder gar Selbstmitleid zu haben. Es geht aber gar nicht um Selbstmitleid. Es geht darum, für sich selbst zu sorgen. Wer für sich selbst sorgt, kann auch aufmerksamer für seine Umwelt sein.

Was heißt das, für sich selbst sorgen?

Mark Brayne: Wir tun oft so, als wären wir durch eine Scheibe vom Geschehen getrennt. Journalisten sind aber beteiligt. Sie müssen wissen, dass sie nicht alles unter Kontrolle haben, sondern Teil des Ereignisses sind, über das sie berichten. Ein Bosnien-Korrespondent hat mir einmal gesagt: Wenn man ein guter Journalist sein will, darf man nicht vor dem Gegenstand stehen bleiben wie vor einer Vitrine im Museum. Man muss einsteigen in das Geschehen. Aber man muss auch wieder aussteigen können - bevor es zu ernsthaften seelischen Verwundungen kommt.

Mark Brayne 1989 auf dem Tian'anmen-Platz. Foto: Ian Richardson

Wie zeigen sich seelische Verwundungen?

Mark Brayne: Viele Leute verhalten sich lange durchhaltestark. Aber dann kommt der Zusammenbruch. Dieser kann sich – wie bei einem Kollegen, der im Libanon arbeitete – dadurch ankündigen, dass keine Gefühle mehr da sind. Der Kollege empfand nicht einmal mehr Mitleid. Es war eine Sicherung durchgebrannt. Die Sicherung wieder einzubauen, ist mit professioneller Hilfe kein Problem. Besser ist es aber, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Dazu ist Aufmerksamkeit für sich selbst notwendig.

In 60 bis 70 Prozent der Tagesnachrichten geht es um Traumatisches

Kann man sagen, dass Journalisten heute häufiger mit traumatischen Ereignissen konfrontiert sind als früher?

Mark Brayne: In Zeiten des Kalten Krieges war die Blockbildung klar. Jetzt müssen die Machtverhältnisse neu austariert werden. Das löst Konflikte aus. Außerdem kommen viele Journalisten heute näher in Kontakt mit dem Geschehen, weil es kleinere Übertragungsgeräte gibt. Damit wagen sich Einzelne weiter vor und näher ran. Und ganz allgemein kann man sagen, dass es in 60 bis 70 Prozent der Tagesnachrichten um Traumatisches geht. Das ist einfach Alltag. Journalisten sollten sich daher mit Traumata auskennen - wie ein Wirtschaftsreporter die Börse verstehen muss.

Was ist mit der Trauma auslösenden Wirkung schrecklicher Bilder und Berichte?

Mark Brayne: Der amerikanische Liedermacher Tom Lehrer bringt das in seinem Song über den Raketentechniker Wernher von Braun treffend zum Ausdruck. Braun arbeitete zuerst für Hitler, später für die Amerikaner. Und Lehrer lässt Braun sagen: Meine Aufgabe ist es, Raketen in die Luft zu bringen. Ich bin nicht dafür verantwortlich, wo sie herunter kommen." So sollte man sich nicht verhalten als Journalist.1

Was können Journalisten beachten, die schwierige Einsätze vor sich haben?

Mark Brayne: "At least do no harm", sage ich. Oft vergleiche ich Journalisten und Ärzte. Beide sind schnell am Unfallort. Beide verfügen mitunter über Informationen, die sie sensibel handhaben müssen. Die Ärzte haben den Hippokratischen Eid. Der besagt, dass selbst, wenn der Arzt nicht heilen kann, er die Krankheit wenigstens nicht verschlimmern soll. Dieser Grundsatz sollte auch bei Journalisten gelten. Wir können es oft nicht besser machen. Wir sollten es aber auch nicht verschlechtern.

Immer wieder wird gesagt, dass auch die Branche ihre Leute traumatisiert.

Mark Brayne: Ich wehre mich immer ein bisschen gegen den inflationären Gebrauch des Wortes Trauma. Richtig ist aber, dass die Redaktionen klar haben sollten, dass es kein Zeichen von Schwäche ist, wenn ein Kollege nach einem traumatischen Einsatz eine seelisch schwierige Zeit hat.