Der Krieg, der nirgendwo hinführt

Afghanistan: Der deutsche Militäreinsatz lässt sich immer weniger rechtfertigen

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Lange Zeit blieb die Bundeswehr verschont. Doch das hat sich nach dem gestrigem Selbstmordanschlag geändert. Drei Tote, sieben Verletzte, davon zwei schwer, forderte die Explosion auf dem Marktplatz von Kundus: der schlimmste Angriff auf deutsche Truppen in Afghanistan seit Jahren. Solche Akte treffen, wie beabsichtigt, den Nerv der Öffentlichkeit. Nur folgerichtig also, dass in den deutschen Medien umgehend die Rede davon war, dass die Diskussion über den Einsatz der deutschen Soldaten in Afghanistan neu entfacht ist, zumal das Afghanistan-Mandat im Herbst ausläuft, wie in vielen Berichten betont wird.

Doch auch wenn jetzt etwa aus Reihen der SPD „gesellschaftliche Diskussionen“ zum Afghanistan-Einsatz gefordert werden und ein mögliches „Nein“ bei der Abstimmung im Herbst angedeutet wird: Das dient wahrscheinlich eher der rhetorischen Profilierung gegenüber dem Koalitionspartner. An ernsthafte Konsequenzen will man nicht glauben: Die tatsächliche Entscheidung der Mehrheit des Parlaments gegen die Fortsetzung des Mandats ist eher unwahrscheinlich.

Zu groß sind die Verpflichtungen, die man mit dem Einsatz am Hindukusch eingegangen ist, gegenüber der Regierung Karsai und besonders gegenüber den westlichen Verbündeten, als dass man solche Staatsräson leichterdings zur Seite legen könnte. Auch wenn die Gründe für den Verbleib der deutschen Soldaten, der Nato-Streitkräfte und der amerikanischen Armee in Afghanistan immer diffuser werden. Besonders wenn man sie den Ansprüchen gegenüberstellt, die mit der Befreiung und Demokratisierung Afghanistans verbunden wurden.

Wie sieht die Realität zum berühmten Satz des ehemaligen Verteidigungsministers Struck aus dem Jahre 2002, wonach „unsere Freiheit auch am Hindukusch verteidigt“ werde, heute aus? Ist die „abstrakte Gefahr“ eines Terroranschlages auf deutschem Boden seit Beginn des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan geringer geworden?

So wie niemand daran glauben durfte, dass die Bundeswehrsoldaten im relativ sicheren Norden vor Selbstmordattentaten geschützt wären, so unplausibel ist die These, dass Deutschland durch den Einsatz am Hindukusch vor Terror-Anschlägen im eigenen Land sicherer geworden ist. Der Gedanke, dass man den Kampf gegen die Feinde der Freiheit in jenen Ländern ausfechten solle, die dem Terrorismus erst den Boden bereitet haben, um das „Homeland“ sicherer zu machen, stand ja am Anfang der Operation Enduring Freedom. Er initiierte die Kriege in Afghanistan und später im Irak, der von Präsident Bush zum Hauptschlachtfeld im Kampf gegen den Terrorismus erklärt wurde.

Auch der NATO-Einsatz in Afghanistan ist von diesem Gedanken geprägt, dass die Schaffung von Frieden und Demokratie in der Krisenregion, letztendlich auch die Sicherheit in den westlichen Ländern besser garantiere. Folgt man allerdings etwa in Deutschland Worten und Plänen des Innenministers, so kann von einer entsprechenden Entspannung hierzulande keine Rede sein. Nach Schäubles Einschätzung ist Deutschland gefährdeter denn je.

Und Afghanistan selbst? Es sieht nicht so aus, als ob sich die westlichen Freiheits-und Demokratiewerte fünfeinhalb Jahre nach Beginn der Operation Enduring Freedom größerer Beliebtheit oder Wirksamkeit erfreuen. In den letzten Wochen dominierten die Klagen über das harte Vorgehen der westlichen Truppen, die eine sehr hohe Opferzahl unter afghanischen Zivilisten forderten. Das Oberhaus des afghanischen Parlaments forderte gar, dass sich die westlichen Einheiten für jeden Einsatz erst eine eigene Erlaubnis einholen müssten. Präsident Karsai sah sich mehrmals gezwungen, Taktik und Vorgehen der Befreier zu kritisieren.

Dass die westlichen Soldaten bei der Bevölkerung immer unbeliebter würden, kann man beinahe in jedem Artikel der großen amerikanischen Zeitungen über Afghanistan nachlesen, seit mehreren Wochen schon. Die Versprechungen, die man dem Land und der Bevölkerung gemacht hat, sind nicht eingelöst worden. Statt Fortschritten beim Wiederaufbau beherrschen wirtschaftliche Nöte und der Krieg gegen die Taliban die Berichte über das Land.

Die Rückkehr der Taliban in die Politik

Und genau in diesem Krieg gegen die Taliban, so fürchtet ein Beobachter der Asia Times, bahne sich zudem eine Änderung an, die fatale Auswirkungen für die westlichen Alliierten haben könnte. Die afghanischen Führer haben laut den Ausführungen M. K. Bhadrakumars längst instinktsicher erkannt, dass der Krieg nirgendwohin führe und die Möglichkeiten und Chancen eines Sieges der USA, die ohnehin nie besonders groß waren, noch mehr geschwunden sind. Weswegen sich unter den Führern neue Allianzen bilden würden, die gegen Karsai gerichtet sind und eine Rückkehr der gemäßigten Taliban „in den Mainstream der afghanischen Politik“ vorbereiten. Der Frage, wer denn nun eigentlich der Feind der westlichen Verbündeten sei, würde damit neu gestellt werden.

Auslöser der „größeren politischen Welle“ soll das Amnestiegesetz vom Jahresbeginn sein:

...when the lower chamber of the Afghan Parliament passed a bill that would grant amnesty to all Afghans. The resolution said, "In order to bring reconciliation among various strata in the society, all those political and belligerent sides that were involved one way or the other during the two and a half decades of war will not be prosecuted legally and judicially.

Mit einem einzigen Streich, so Bhadrakumar, habe man damit die USA der schärfsten, politischen Waffe gegen Warlords beraubt: Bislang konnte man mit der Drohung eines Kriegsverbrecher-Tribunals „Warlords sowie mächtige Führer der Nordallianz und kleine Gängsterhauptmänner“ zur Unterwerfung erpressen:

The prospect of a war-crime tribunal was held like a Damocles' sword over any recalcitrant Afghan political personality - be it Burhanuddin Rabbani, Yunous Qanooni, Rashid Dostum or Rasool Sayyaf. In the able hands of former US ambassador Zalmay Khalilzad, it did wonders while ensuring Hamid Karzai's election as president and in consolidating US dominance in Afghanistan.

Sogar der Taliban-Führer Mullah Omar und der berüchtigte Hisb-e Islami Führer Gulbuddin Hekmatyar sollen unter die Amnestie-Regelung fallen. Für Bhadrakumar ein deutliches Zeichen dafür, dass eine afghanische Revolte gegen die von den USA auferlegte Ordnung am Laufen ist. Der Kriegsgrund sei damit in Frage gestellt worden und zwar von einer Gruppe, die das 249 Sitze starke „Mudschahedin-Parlaments-Unterhaus“ dominiere: die Hisb-e-Islame. Daneben, so der indische Experte, gehört eine beachtliche Abordnung von früheren Taliban-Persönlichkeiten (z.b. Mullah Abdul Salam Rocketti) zum Haus. Diese würden als politischer Flügel der Taliban in Kabul arbeiten.

Aus der Amnestie entstand eine Welle politischer Aktivitäten, aus der die Gründung der United Front im letzten Monat hervorging. Die United Front, die personell Ähnlichkeiten zur früheren Nordallianz aufweist – Mitglieder sind u.a. Burhanuddin Rabbani, Mohammed Fahim, Yunous Qanooni, Abdullah, Ismail Khan und Rashid Dostum -, will die Befugnisse des Präsident stark beschneiden und jene der Provinzgouverneure bestärken.

Die United Front ist aus zwei Gründen interessant, einmal weil auch sie, wie Bhadrakumar ausführt, engere Verbindungen zu Taliban-Kräften hat und damit seine These von einer Restrukturierung der Taliban und die Renaissance der gemäßigten Taliban-Kräfte im politischen Leben Afghanistans stützt und zum anderen, weil sie ein Moment betont, das dem Westen zu entgehen scheint: Das Bedürfnis der Afghanen nach einem internen Dialog, der die Verhältnisse anders bewertet als USA und NATO-Vertreter, die Macht anders verteilen will und die Konflikte anders lösen will.

Gut möglich auch, dass die Tage, an denen der Westen und insbesondere die USA über das Meinungsmonopol zu den richtigen Lösungen in Afghanistan verfügten, vorbei sind. Dass sich die Nachbarn Afghanistans und Regionalstaaten wie etwa Russland, Iran oder Pakistan (nach Musharraf) neu und anders einmischen, um die Konflikte dort zu regeln. Die Präsenz westlicher Truppen wäre dann vermutlich nicht mehr von langer Dauer.