Unentbehrlich, unvermeidlich, überflüssig

Im "Jahr der Geisteswissenschaften" begeben sich ihre Vertreter auf die Suche nach dem Sinn ihrer Disziplinen

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Die Dauerkrise, von der Geisteswissenschaftler ständig reden, hat mit Beginn des Jahres Namen und Datum: Die Bundesbildungsministerin Annette Schavan hat 2007 zum Jahr der Geisteswissenschaften erklärt. Ob es sich da nur um einen Gnadenakt handelt, den man Sterbenden kurz vor dem Aussterben beschert, oder um einen akuten Anfall schlechten Gewissens, nachdem die Regierung sieben Jahre lang ausschließlich naturwissenschaftliche Disziplinen damit betraut hat, oder ob man ihren Vertretern die Gelegenheit geben will, ihre „Notwendigkeit“ (Oskar Negt), „Unvermeidlichkeit“ (Odo Marquardt) und „Unentbehrlichkeit“ (Herbert Schnädelbach) öffentlich zu demonstrieren – über all das wird derzeit auf Podien und im Radio, auf Kongressen und in überregionalen Feuilletons wortreich debattiert.

Geisteraustreibung

So manchen Beobachter wird die regierungsamtlich angeschobene Debatte überraschen. Und zwar nicht bloß, weil, erstens, die Krise die Geisteswissenschaften seit dem Tag ihrer Gründung verfolgt, als Wilhelm Dilthey das „Verstehen“ zu ihrem Geschäftsmodell erklärt hat. Allesamt Einzel- und daher, laut Jochen Hörisch, „Geisterwissenschaften“ (Geister, die man ruft) wollen sie „Einheitswissenschaft“ sein, obwohl sie genau das ihrer Vielzahl und Diversität wegen nicht sein können.

Oder auch, weil sie sich, zweitens, bisher gegen jede Form des Praktisch-Werdens erfolgreich gewehrt haben. Die Forderung, irgendwelchen Nützlichkeitserwägungen (und seien sie noch so „weich“) zu folgen, widerspricht ihrer Eigenart und ihrem Selbstverständnis. Sondern vor allem, weil es sich, drittens, um ein für überlebt geglaubtes Problem handelt, das vor über einem Vierteljahrhundert schon mal handstreichartig beseitigt worden ist.

Ausgerechnet (manche werden sagen: bezeichnenderweise) ein Geisteswissenschaftler war es, der das Dauerleiden der Kollegen an ihrer Profession dadurch zu lösen versuchte, indem er ihr den Geist austreiben wollte. Statt ihm mittels ständig neuer Introspektionen, Sinnstiftungen oder weiterer Rasterfahndungen nach den Grundbegriffen der ästhetischen oder historischen Tradition immer höhere „Pyramiden des Wissens“ zu bauen, sollte ein Kontrastprogramm installiert werden, ein Medienverbund aus Daten, Befehlen und Prozessoren, der den Geist kassiert und das „absolute Wissen als Endlosschleife laufen“ lässt.

Technik statt Geist

So mancher junge und hoffnungsvolle Geisteswissenschaftler nahm den Ball erleichtert auf. Die Aussicht auf mehr „Sachlichkeit“ und Operationalität, darauf, dass die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Sätzen nicht bloß für die „erklärenden“ Wissenschaften gelten möge, schien einen Ausweg aus jener „Soße“ zu bieten, die Geisteswissenschaftler jahrein, jahraus ihrer „Kundschaft“ serviert haben, als sie nahezu jedes Menschheitsproblem auf die emotionale Zerrissenheit der Helden und Heldinnen zuspitzten und sie mit jenem moralinsauren Pseudo-Humanismus konfrontierten, den die negativen Glücksversprechen der Dialektiker der Aufklärung propagierten. Was den frühen Wittgenstein Anfang des 20. Jahrhunderts mit Blick auf die Wert triefende Philosophie schon mal in ähnlicher Weise bewegt hatte, dass nämlich nur noch das gelten möge, was der Fall ist, sollte künftig auch für die Geisteswissenschaften Gültigkeit haben: Fortan sollte nur noch das überhaupt sein, „was schaltbar ist“ und – ingenieurstechnisch machbar.

Anfangs gab es auch gute Gründe, dem Ingenieur und Praktiker mehr Aufmerksamkeit, Achtung und Ehre zuteil werden zu lassen als dem Bücherwurm und Kopfarbeiter. Hatte nicht schon der späte Heidegger in der Technik die „Selbstentbergung des Seins“ entdeckt? War nicht gerade der Digitalrechner dabei, den menschlichen Geist medientechnisch auseinanderzunehmen? Erübrigte sich nicht, seitdem Speichern, Übertragen und Berechnen in einer universalen Maschine zusammenfallen, die traditionelle Unterscheidung zwischen Kultur, Geist und Technik? Subsumierte nicht der Computer alles, was der Mensch jemals als Kulturleistung hervorgebracht hatte, Kunst, Musik, Literatur, unter den Begriff der „(Medien)Technik“? Lag es da nicht auf der Hand, ein neues Forschungsprogramm zu initiieren, das den leeren Platz, den der Weltgeist hinterlassen hatte, mit dem Begriff der „Medientechnik“ besetzt oder füllt?

Hektische Betriebsamkeit

Mit den Aufräumarbeiten, die man für die Geisteswissenschaften vorgesehen hatte, ist man bislang nicht besonders weit vorangekommen. Zwar haben Anhänger und Vertreter des Genres das Überraschungsmoment geschickt genutzt. Mit forschen Tönen und kecken Sprüchen haben sie, nach einer gewissen Karenzzeit, das Ohr von Wissenschaftspolitikern und -funktionären erreicht. Aus Sorge, den Geist der Zeit zu verpassen, wurden in Windeseile Lehrstühle umgewidmet und Institute neu konfiguriert, es wurden eine Vielzahl neuer und zusätzlicher Stellen geschaffen und Gelder für Forschungsprojekte und Symposien, Graduierten- und Sonderforschungsprogramme akquiriert.

Einerseits hat das zu einer regen, (Gegner werden sagen) überaus geschwätzigen Produktivität geführt; andererseits wurde dadurch aber auch eine unentschlossene, für Moden stets anfällige studentische Kundschaft angelockt, die ohne Ahnung, was sie im Studium erwartet oder von ihr erwartet wird, von einer steilen Karriere im Fernsehen, bei Firmen oder im Show-Business als Moderator, Produzent oder Pinup-Girl träumen.

So spannende Kenntnisse und Einsichten manche Forschung vermittelte, so absonderlich bis absurd gerieten diverse Einzelstudien. Der wirtschaftliche Nutzen des Lokalradios für Nordfriesland oder der Einfluss des Füllfederhalters auf die öffentliche Meinung in Österreich um 1900 ist vermutlich inzwischen ebenso penibel ausgekundschaftet worden wie die Geschichte der Arbeitsspeicher in den 1950ern oder die Herkunft der Computermaus aus dem Geist von WK II. Ein schlüssiges theoretisches Konzept haben die Protagonisten, die sich Medienwissenschaftler nennen, in all den Jahren aber nicht entwickelt. Weder haben sie Einigkeit über ihren Gegenstandsbereich erzielt, noch gibt es Übereinkünfte, welche wissenschaftliche Methoden oder Verfahren dabei wie zum Einsatz kommen.

Gibt sich ein Teil der Forscher mit der Buntheit und Heterogenität des Faches zufrieden und lehrt notgedrungen, betont locker oder freudestrahlend Medienwissenschaft im Plural, schlägt sich ein anderer Teil mit Grammatologien des Symbolischen und Imaginären herum, während ein anderer Teil sich bei Zeiten in die Wissenschaftsgeschichte abgesetzt hat. Auch wenn dabei eine „Verschiebung von der Ideengeschichte zu einer Analyse der Praktiken, Techniken und materiellen Repräsentationsformen stattgefunden hat, bei der auch soziale und kulturelle Elemente, Werte und Normen, berücksichtigt werden“ (Michael Hagner/Hans-Jörg Rheinberger), macht sie letztendlich genau das, was früher Historienkunde oder schlichtweg Geisteswissenschaft hieß.

Erwartungen nicht erfüllt

Ferner hat man den vollmundigen Ankündigungen kaum wissenschaftliche „Taten“ folgen lassen. Dass die Natur beispielsweise ein Computercode ist, Kulturgüter ein Missbrauch von Heeresgerät und/oder Menschen bloße Denk-, Schreib- und Rechenmaschinen ohne freien Willen sind, konnte man trotz Flankenschutz durch Hirnforscher, Evolutionsbiologen und Neurologen nicht verifizieren. Dafür hat man sich von Kollegen den Vorwurf des Funktionalismus und/oder Determinismus, den des Reduktionismus bzw. des naturalistischen Fehlschlusses eingehandelt, die man bislang nicht entkräfen konnte.

Schließlich ist man auch meilenweit von jener Internationalität entfernt, die heutzutage als zentrales Qualitätskriterium für jede Forschungsarbeit gilt. Jenseits des Atlantiks, des Kanals oder gar nur des Rheins kennt man das Genre kaum oder gar nicht. Trotz exzessiven Imports französischer Theoriekonstrukte ist Medienwissenschaft bis heute eine germanische Besonderheit geblieben. Selbst Hans Ulrich Gumbrecht, der eine Zeitlang für das „Non-Hermeneutische“ geschwärmt, den Bruch mit den Begriffen den Subjekts, des Sinns, des Verstehens und der Interpretation vollzogen und für eine verstärkte Beachtung der „Materialitäten der Kommunikation“ plädiert hat, hält den Weg, den die Medienwissenschaft mittlerweile eingeschlagen hat, für eine Sackgasse.

Der Verdacht, dass die Medienwissenschaft in absehbarer Zeit jenes Schicksal teilen wird, das die Sozialwissenschaften Ende der 1970er ereilt hat, liegt nahe. Auf den steilen Aufstieg, den sie im Gefolge des Sputnik-Schockes, der 68er-Revolte und dem Rekrutieren neuer Begabungen aus bildungsfernen Schichten in der Hierarchie der Wissenschaften einnahmen, folgte alsbald Ernüchterung und der jähe Absturz, von dem sie sich bis auf den heutigen Tag nicht erholt haben. Musste ihre Kundschaft nach ihrer Ausbildung erleben, dass die Taxenstände der Republik zu ihrem bevorzugten Arbeitsfeld gehören, erfuhren die Sozialwissenschaften, dass für sie nur noch die Rolle des Stehgeigers vorgesehen ist. Von dem Traum, dass gut ausgebildete Erzieher, Lehrer und Sozialarbeiter die verantwortungsbewusste Eliten für Politik, Wirtschaft und Kultur heranbilden; oder dass kritische Soziologen, Psychologen und Politologen dem Kapitalismus den Garaus machen und die Demokratie auf Vordermann bringen, ist außer vielen Büchern, Texten und Konzepten, die verschenkte Lebenszeit speichern, wenig geblieben.

Kultur statt Geist

Neben all den diversen Turns oder Twists, die die Geisteswissenschaften in den letzten Jahren gedreht haben, sticht vor allem der zur „Kultur“ hervor. Auf den ersten Blick mag diese Wendung wenig aufregend erscheinen. Die kulturelle Verfasstheit der Welt zu studieren, ihre Konstruktion begreifbar zu machen und sie zugleich und auf diese Weise zu befördern, war immer schon eine Aufgabe, die man den Geisteswissenschaften zugeschoben hatte.

Doch erst der Druck, den Computer Sciences, Neurowissenschaften und Bio-Technologien auf sie ausüben und ihre Stellung und Eigenständigkeit innerhalb der universitären Landschaft bedrohen, hat sie veranlasst, sich in „Kulturwissenschaften“ umzubenennen. Seitdem rangiert dort, wo früher der Geist residierte, „Kultur“, ein weiterer schillernder und schwammiger Begriff. Unter dem Einfluss des französischen Dekonstruktivismus, der jeglichem Text- und Sinnverstehen a priori misstraut, sowie flankiert vom Bild einer von unterschwelligen Machtdiskursen durchsetzten phallokratischen Realität, wird über westliche Gesichtsmoden und ignorantes Wissen, über Männer in Tuntenkleidern und ritualisierte Gegenkulturen genauso heftig geforscht wie über die Perückentradition am Vorabend der Französischen Revolution oder die kulturelle Funktion der Inquisition für das moderne Bild der Frau. Mittlerweile dürfte es kaum noch einen Gegenstand geben, der nicht mit dem bösen Blick eines Kulturwissenschaftlers bedacht worden ist, der gelernt hat, dass das, was er hört, sieht oder liest genau nicht das ist, was er hört, sieht oder liest, sondern bestenfalls Effekt einer ominösen Macht, eines hinterhältigen Textes oder eines raffinierten Mediums.

Nur noch Kultur

Vor allem die Kulturchefs der Massenmedien ließen sich von der bunten Rhetorik der Kulturforscher beeindrucken. Sie erwiesen sich rasch als dankbare Abnehmer für Themen, Studien und Essays jeglicher Art. Interesse und Absatz stiegen nochmals, als sie die „Cultural Studies“ und den Radikalen Konstruktivismus entdeckten, die kulturellen Differenzen eine eigene Identität geben und jegliche Form von Natur zu einem Teilproblem von Kultur erklären. Schließlich kam auch die Universität nicht mehr umhin, sich dem kulturellen Genre zu öffnen. Eine Zeitlang wurden die Kulturwissenschaften mit Funktionsstellen, Sonderforschungsbereichen und Graduiertenkollegen geradezu überhäuft, die sich „transdisziplinär“ mit „codierten Gewaltformen“ oder „Kulturen der Lüge“, mit „hybriden Figuren“ oder „virtuellen Spiel- und Suchtformen“ gegen die disziplinäre Tradition zu profilieren suchten.

Doch auch dieser kurzzeitige Erfolg hatte seinen Preis. Auch die Inbesitznahme des theoretisch schwachbrüstigen Begriffs „Kultur“ erweist sich letztlich als kontraproduktiv. Zwar konnten die Geisteswissenschaften ihren Gegenstands- und Zuständigkeitsbereich stark verbreitern und ausweiten. Mit der Nähe zur Kulturindustrie und zum Feuilleton (siehe auch die Diskussion Geisteswissenschaften meets Feuilleton am Maxim-Gorki-Theater in Berlin), sowie dem Verwischen der Grenzen zwischen Literatur, Popkultur und Wissenschaftlichkeit verwässerten sie auch ihren Anspruch, weiterhin Wissenschaft zu sein.

Wo einstmals wissenschaftliche Strenge in Form von Regelhaftigkeit und Nachprüfbarkeit herrschten, bestimmen Offenheit und Kontingenz, Elastizität und Beliebigkeit, Populismus und Lebensweltnähe das Feld. Damit haben sie nicht nur jene Dauerdepression, für deren Lösung sie sich ausgeben wollten, mit all ihren Turns verstärkt, sie sind auch längst Teil und Symptom dieser Krise, insofern sie mit ihren dekonstruktivistischen Spielereien und frivolen Theorieexperimenten jenen „eleganten Unsinn“ (Alan Sokal) selbstredend forcieren, den Kritiker ihren geistigen „Elaboraten“ attestieren.

Manchen Institutsleiter und Forschungsdirektor mag das kalt lassen. Er wird vielmehr auf jene „Ignoranz“ verweisen, die „Prozesse kultureller Transformationen“ begleiten. Heiß wird ihm nur werden, wenn sein Orchideenfach evaluiert wird, das es einer Neuordnung des Instituts zum Opfer fällt oder er mit den „althergebrachten“ Geistes- und Sozialwissenschaften um jene Gelder konkurrieren muss, die Natur- und Technikwissenschaften abgreifen.

Nicht so schlimm

Bei Lichte betrachtet ist die Lage der Geisteswissenschaften alles andere als dramatisch. Von außen betrachtet steht sie sogar im merkwürdigen Kontrast zu all den Untergangsgesängen, den ihre Vertreter beredt anstimmen: Die Forschung ist intensiv, der Disput lebhaft und die gebildete Öffentlichkeit interessiert sich für ihre Themen und Arbeiten; Umfang und Niveau der Abschlussarbeiten überzeugen, es gibt ein üppiges Netz von Stipendien und eine Editionskultur, die einzigartig ist. Die Nachfrage nach kreativen Produkten und Denkern war nie so groß wie heute. Der Markt für Creative Industries boomt, ihr Beitrag zum Bruttosozialprodukt steigt. Allein die Auto-Uni Wolfsburg, die mit dem Abgang von Peter Hartz ad acta gelegt worden ist, wollte ein Drittel mit geisteswissenschaftlichen Inhalten bestreiten, in der Hoffnung, dadurch bessere Ingenieure und Marketing-Experten auszubilden.

Obwohl ihr Problemlösungspotential unbestritten ist, nimmt andererseits das Gejammer unter den Geisteswissenschaftlern über wachsende Kommerzialisierung und Bürokratisierung ständig zu. Sie beklagen die Einmischung der Politik, das Geldbeschaffungsdiktat und das Vollzugsbeamtentum, aber auch das stetig fallende Bildungsniveau einer Studentenschaft, der die einfachsten Kulturtechniken fehlen. Vor allem in den Geisteswissenschaften muss „ein Zehntel des wissenschaftlichen Personals“, wie Moritz Schuller berichtet, „ein Viertel aller Studenten unterrichten“. Dass da keine vernünftige Wissenschaft entstehen kann, wenn Lehrende ihrer Kundschaft erst „kompetentes Lesen“ und Schreiben beibringen müssen, versteht sich von selbst. Es verwundert daher kaum, dass ein Teil der Lehrerschaft in Selbstanklagen verfällt und Nabelschau betreibt, während der andere einen ironisch-zynischen Ton anschlägt und wild entschlossen zum Rückzug in den „elfenbeinernen Turm“ bläst.

Nur: Das Humboldtsche Ideal der Einheitsuniversität, wo Lehrer und Schüler, vom Staat alimentiert, sich gleichberechtigt zum ungezwungenen Gespräch versammeln und, in wechselseitiger Produktivität sich befruchtend, den Geist in neue denkerische Höhen treiben, ist Romantik pur und hat schon zu Zeiten Wilhelm von Humboldts nicht funktioniert. Zu sehr erinnert es ans Idyll der Habermasschen Wahrheitssuche oder an jenen Rousseauschen Schrebergarten, wo der Gärnter seinen Zögling Emile jahrelang vor allen Übeln der Welt bewahrt hat, aber hinterher sich verwundert fragen musste, warum er anderen als bloß „guten Absichten“ gefolgt ist.

Vielleicht gibt es in den USA ein paar Refugien des Geistes, wo man sich ungezwungen und Nutzenfragen über die „nicht ganz aufgelösten Probleme“ der Menschheit oder des Faches austauschen kann, in Harvard, Princeton oder Stanford. Aber dieser bildungspolitische Sozialromantizismus, der von platonischen Ideen getragen wird, kann weder Modell noch Maßstab für die Lösung der Probleme der Massenuniversität und der Geisteswissenschaften sein.

Dem Geist auf der Spur

Wenn es der „Elfenbeinturm“ nicht mehr bringt, was können die Geisteswissenschaften dann tun, um zumindest ihr negatives Image, an dem sie, wie gezeigt, zu einem Gutteil Mitschuld tragen, zu verschönern? Ist die Krise tatsächlich eher eine Frage mangelnder Wertschätzung (nicht Wertschöpfung), wie Moritz Schuller meint, die durch mehr Aufhübschung behoben werden könnte? Handelt es sich vor allem um ein Darstellungsproblem, das in die Hände von Marketingleuten gehört? Muss Bedeutung und Wichtigkeit der Profession mithin besser „kommuniziert“ werden?

Bei der Klärung solcher Fragen lohnt sich meist ein kurzer Blick in die Tradition. Lange Zeit folgten die Geisteswissenschaften dem Dreiklang aus „Aufklärung“, „Orientierung“ und „Kompensation“ – und zwar genau in dieser Abfolge. Mit „Aufklärung“ war angedacht, die Mystifizierung der Welt durch das „Muckertum“ der Ware, des Konsums und der Massenkultur zu verhindern. Geisteswissenschaften sollten den Unmündigen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit führen, auf dass er mit seinem neu erreichten Wissen die Welt, sich und andere ändert, verbessert und perfektioniert. Mit „Orientierung“ war beabsichtigt, einen Ariadnefaden zu knüpfen, der durch die unübersichtlich und chaotisch gewordene Welt führt, Kontingenzen beseitigt, Komplexitäten reduziert und für Ordnung, Durchblick und Sinn sorgt. Und mit „Kompensation“ war gemeint, jene kulturellen Verluste auszugleichen oder wenigstens abzufedern, die der wissenschaftlich-technische Fortschritt im Haushalt von Individuen und Gemeinschaften hervorruft. Je moderner, mobiler und machthungriger die Welt, so Odo Marquard, desto unvermeidlicher würden die Geisteswissenschaften werden.

Lust am Untergang

Vergleicht man ihre „Produkte“ mit denen der Naturwissenschaften, hat offensichtlich sogar das „Kompensieren“ ausgedient. Zumal eine Gleichung mehr abwirft als ein Gleichnis, und aus Formeln man mehr Kapital schlagen kann als aus Formen. Dazu muss man nur mal die einschlägigen Wissenschaftsseiten aufzuschlagen oder Anträge auf Forschungsförderung zu studieren. Diese Entwicklung spricht Bände. Nirgendwo anders lassen sich die „Niederlagen des Denkens“ besser studieren als am Umschlag der Offensivstrategie „Aufklärung“ in die Defensivstrategie „Kompensation“.

Bei alledem sollte man aber nicht vergessen, dass es ausnahmslos „verstehende“ (und nicht „erklärende“) Wissenschaftler waren, die den Glauben zu oder für irgendetwas nützlich zu sein, untergraben haben: den Glauben an eine Verbesserung des Menschengeschlechts, die Hoffnung auf Steuerung von Kontingenzen, das Abmildern technischer Folgeschäden. Auf diese Weise spiegelt der Fall der drei „Nutzenangebote“ den Niedergang einer Profession, der auch und vor allem von ihren Akteuren reflektiert und kommentiert worden ist und gegenwärtig in die selbstbewusste Feier der eigenen „Nutzlosigkeit“ mündet (Wir sind doch kein Service-Unternehmen).

Nun kann man mit Martin Seel lange darüber streiten, ob die Geisteswissenschaften an Wert verlieren, wenn sie sich nützlich machen – aber muss man deswegen gleich das Kind mit dem Bade ausschütten und den Geisteswissenschaften wie Hans Ulrich Gumbrecht seit einiger Zeit die Pest an den Hals wünschen, wenn sie sich erneut auf eine dieser „Nützlichkeitspostulate“ berufen? Es mag sein, dass bestimmte historische Konstellationen der (kritischen) Moderne nicht mehr gehen: das historische Weltbild der Linearität, die Zukunft als Horizont offener Möglichkeiten (wobei das im Falle der Technowissenschaften schon mal äußerst fraglich ist), der Verlust jeder Form von Welthaltigkeit, die Möglichkeit, nur noch Geschichten zu erzählen, die Beobachtung der Welt in „erster Ordnung“ usw. Das bedeutet aber nicht, dass es künftig nicht auch möglich oder gar angebracht ist, den „kollektive Ekstasen auf Techno-Veranstaltungen“, dem „quasireligiösen Aufgehen in ‚Gemeinschaftskörpern’ des Sports und des Entertainments“ oder den „karnevalesken Maskeraden der Lüste“ etwa im „aufklärerischen“ Sinn nachzuspüren. Vor allem, wenn man gute Gründe hat zu sagen, dass moderne Gesellschaften „das Irrationale, ja Barbarische womöglich in sich selbst“ (Hartmut Böhme) tragen und es mittels theatraler Gesten und Inszenierungen zum Ausdruck bringen (Barbarisches Theater).

Verklärter Blick

Natürlich braucht es, um Studenten das nahe zu bringen, außer kompetenten vor allem auch brillianter Hochschullehrer, die ästhetische Erfahrungen vermitteln, Formen- und Stilbewusstsein entwickeln und für ein Theaterstück, eine Komposition oder ein Gedicht begeistern können. „Rhetorische Langeweiler“, die ihre Vorlesungspflichten lästig und lustlos abspulen oder durch Abwesenheit glänzen sind da sicher fehl am Platz.

Doch wo findet man diese Ressource? Beliebig vermehrbar ist Brillanz nämlich nicht. Man hat sie oder man hat sie nicht. Weswegen sie auch kaum als Bildungsziel ausgegeben und gelehrt werden kann. Andererseits funktionieren Berufungen immer noch nach den bekannten Prinzipien. Wer keiner Seilschaft oder keinem wissenschaftlichen Netzwerk angehört oder einer gerade missliebigen Theorie frönt, hat in aller Regel schlechte Karten auf eine herausragende Stelle. Noch immer hängen die meisten Stellenzuweisungen nicht davon ab, ob jemand ein heller Kopf ist, brilliant referieren kann oder zu wissenschaftlichen Kontroversen Anlass gibt, sondern größtenteils nach dem gegenseitigen Nutzenabgleich: Hievst du meinen Schüler auf die Stelle, werde ich auch deinem Wunsch nicht im Wege stehen.

Sicherlich spielen bei Hans Ulrich Gumbrecht außereuropäische Erfahrungen und Kalküle eine nicht unbedeutende Rolle. Beziehen sich die Geisteswissenschaften hierzulande vor allem reflexiv auf Prozesse, die Kultur ermöglichen, fördern die angloamerikanischen „Humanities and Arts“ eher literarische Ambitionen, die sie in „erzieherischer“ Absicht tradieren. Der amerikanische Geisteswissenschaftler ist folglich immer zuallererst Rhetoriker und Erzieher.

Auch wenn man das so hinnimmt, heißt das aber noch lange nicht, dass sich Kritik und Brillanz, Nutzenkalkül und Intensität, Sinnstiftung und Erlebnis widersprechen oder per se ausschließen müssen. Im Gegenteil: Paart sich Brillanz mit Aufklärung und Orientierung oder umgekehrt erreicht man beim Adressaten möglicherweise mehr Nachhaltigkeit als ohne. Inspiration, Intuition und Neugierde in Gegensatz zu wissenschaftlicher Strenge, Wahrheitsbezug und Nachprüfbarkeit zu bringen, ist ein weit verbreiteter Fehlschluss, vor allem unter Geistes- und Literaturwissenschaftlern. Gerade der „Kritische Rationalismus“ ist ein leuchtendes Beispiel dafür. Nicht nur, dass er diese Tugenden, wider aller Irrtümer, die Paul Feyerabend oder Heinz von Foerster über ihn in Umlauf gebracht haben, fördert. Im Vorfeld der „kritischen Prüfung“ werden sie ausdrücklich auch gefordert. Dort sind sie unabdingbar, damit es zu neuen oder weiteren Falsifikationen kommt.

Andererseits steht auch sehr in Zweifel, ob Hörsäle, Seminarräume und Klassenzimmer sich für intensive Erfahrungen überhaupt eignen. Wer diese sucht, fährt entweder nach Big Sur oder in den Irak, er tobt mit dem Fanschal seines Lieblingsvereins in der Südkurve oder pogt ausgelassen in verrauchten Clubs inmitten schwitzend-stinkender Leiber zu Beats und Clicks.

Mut zum Risiko?

Zumindest mit einem hat Hans Ulrich Gumbrecht aber recht. An der Universität fehlt es an Leuten, die „Mut zu großen gedanklichen Entwürfen“ haben und alternative Bilder und Perspektiven auf die Welt geben, die möglicherweise „Geduld zu profunder Gelehrsamkeit“ haben und exzentrisch genug sind, Anstoß zu neuen Debatten zu geben (Luxus des freien Denkens).

Aber auch diese Tugenden und Qualitäten sind kein ausschließliches Problem der Geisteswissenschaften und ihrer Universität, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Denkt einer quer und gegen den Strich (man denke an den Verfassungsrechtler Kirchhoff oder den Philosophen Sloterdijk auf Schloss Elmau) wird er sofort öffentlich diffamiert und auf infame Weise mundtot gemacht. Wer nicht über eine mediale Hausmacht verfügt, die Flankenschutz gibt, wird sehr schnell die Segel streichen müssen. Der Rahmen, den die „liberale“ Gesellschaft ihren Denkern, Intellektuellen und Publizisten für „riskantes Denken“ bietet, ist trotz oder gerade wegen dieser Liberalität, sehr eng. Politische Inkorrektheiten duldet sie nur, solange nicht bestimmte Grundlagen und Tabus tangiert werden, auf denen ihr Mehrwert beruht.

Es verwundert auch, wenn Hans Ulrich Gumbrecht „riskantes Denken“ in Gegensatz zum kritischen Denken bringt. Ist nicht jedes kritische Denken zugleich und immer auch riskant, weil es etwas in Frage stellt, wozu andere nicht den Mumm, die Kreativität oder den Intellekt haben? Ist „riskant“ letztlich nicht doch nur ein anderer Ausdruck für das, was Kant in seinen drei Kritiken praktiziert hat, oder was Michel Foucault zunächst als „nicht-positive Affirmation“ und später zur Kunst, „nicht dermaßen regiert zu werden“ erklärt hat?

Der Elfenbeinturm Universität, den Gumbrecht zum Fluchtpunkt für riskantes Denken auserkoren hat, ist daher ebenso kleinmütig wie eskapistisch. Kleinmütig, weil er viel weniger riskieren will, als an einem solchen, gesellschaftlich privilegierten Ort möglich wäre; eskapistisch, weil es sich vor seiner Verantwortung drückt, den Verlust von „Meisterdenkern“ beklagt (Keine Zeit für Genies), dafür aber egoistischen Zielen und Kalkülen folgt. Nietzsche hätte vermutlich ob dieser Idee, Absicht und Forderung sein allseits gefürchtetes „tolles Lachen“ angestimmt, während dem Marquis de Sade oder Georges Bataille wohl nur ein mitleidiges: „No risk no fun“ über die Lippen gekommen wäre.

Denken, das „riskant“ sein und „Erlebnisse“ im Diltheyschen Sinn vermitteln will, schließt den Einsatz und Selbstverlust des eigenen Körpers unmittelbar mit ein. Erst in der „rückhaltlosen Verausgabung“ und der „exzessiven Selbstverschwendung“ kommt der Geist zu sich selbst. Der Geist „gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet“, heißt es entsprechend bei Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“. Und das ist etwas völlig anderes als die klösterliche Abgeschiedenheit, die die Luxusherberge „Stanford“ Gästen und Angestellten bietet. Dort kann man vielleicht herrlich exzentrisch leben, sich in Verbalradikalität üben und ab und an schaurig-dunklen Gedanken nachhängen. Etwas Ähnliches bieten aber auch Stefan-George-Kreise und manch anderer bürgerlicher Literaturzirkel in Wanne-Eickel oder Friedrichshafen. Dieses Riskanz hat aber sehr wenig mit der Lebenspraxis de Sades, Stelarcs oder Batailles zur Praxis zu tun, die zuvörderst am eigenen Körper erproben, was man denkerisch erfahren will.

Aufklärung mag in solchen Fällen vielfach ein Hindernis sein. Auch da hat Hans Ulrich Gumbrecht sicherlich recht. Wer im Seminar gelernt hat, Aufklärung als „Barriere gegen die herrschenden Remythisierungstendenzen unserer Zeit“ einzusetzen, wird sich lange Zeit kaum über das Schöne freuen und das Pächtige genießen können. In den schönen blauen Augen oder dem aufreizenden Lachen der dunkelblonden Bardame hinter der Clubtheke wird er womöglich nur das Fantasma des Warenfetisches erblicken.

In Selbstzerrissenheit verfallen

Wie soll es also mit den Geisteswissenschaften weitergehen? Sollen sie ihre „Nutzlosigkeit“ öffentlich demonstrieren, wie es der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, verlangt? Außer Stande, den Menschen durch Bildung zu veredeln, könnten sie laut Dieter Simon auch jene Erwartungen nicht erfüllen, die ethische Gesinnung an die moralischen Schwachstellen unseres Systems wollen. Oder sollen sie wieder „das „Ende der Bescheidenheit“ (Ludger Heidbrink/Harald Welzer) einläuten, sich ihrer rebellischen Jahre erinnern und zu jener „sozialen Orientierung“ zurückkehren, der das Fach seit seiner Umpolung auf Kultur großspurig entsagt hat?

Sollen sie auf ihre „Unvermeidlichkeit“ bestehen, damit eine Naturalisierung des Lebens (Triumph des naturalistischen Weltbildes?), die durch den Ansturm der „Life sciences“ droht, verhindert wird? Würde eine „Zukunft ohne Geisteswissenschaft“, so der Titel des Vortrags von Hans Ulrich Gumbrecht in Regensburg, die Gesellschaft weiter „dekultivieren“ (Theorie und Deutung sind nicht mehr gefragt) oder in the long run gar das „Ende der Menschheit“ bedeuten? Braucht es, um das alles hinauszuschieben, nicht doch eindeutiger „Relevanznachweise“, wie der Berliner Staatssekretär Peer Pasternack jüngst auf einer Tagung zum Verdruss der anwesenden Geisteswissenschaftler angemahnt hat?

Oder sollen sie sich doch mehr Wert auf ihre „Wissenschaftlichkeit“ legen, sie mit Exzellenzeninitiativen und Advanced Studies begründen und post Hegel die objektiv vorhandenen Gegenstände denkerisch zu durchdringen? (siehe das Manifest Geisteswissenschaften von Carl Friedrich Gethmann, Dieter Langewiesche, Jürgen Mittelstraß, Dieter Simon und Günter Stock).

Die deutsche Philosophie, an der das gesamte „Verabschiedungsspektakel“ der letzten Jahrzehnte scheinbar spurlos vorbeigegangen ist, bietet mittlerweile eine hermeneutische Strenge, die einen Sachbezug zu Dingen und Texten wiederherstellt und sich als echte Alternative zu den „Entgegenständlichungsdramen“ theorieschwacher Kulturwissenschaften anbietet. Die Schrift ist hier nur eine mögliche Gegebenheit der Dinge. Nur weil sie für sich stehen, können sie auch angeeignet werden. Das Bewusstsein begegnet den Gegenständen als etwas „Äußerliches“, das ihm gegenübertritt und entgegenwirkt, während das „Hermeneutische“ diese ihre „Äußerlichkeit“ entfaltet, nicht nur als Lebens-, Erkenntnis- und Darstellungsraum, sondern all dies in einem und zugleich.

Re-Disziplinierung

In welche Richtung sich die Geisteswissenschaften auch immer bewegen werden, es gehört wenig Fantasie und Mut dazu, ihr nach all den Wendungen und Drehungen eine Rückbesinnung auf die Tradition vorauszusagen, was eine stärkere Re-Disziplinierung möglicherweise zur Folge haben könnte.

Dass nach Ideologiekritik und Formalismus, Dekonstruktion und Medienarchäologie eine Zeitschrift für Ideengeschichte wieder möglich ist, die quer zu allen Theoriemoden, Stilen und Verschiebungen in Richtung „Technik und materieller Repräsentationsformen“ nach „anthropologischen Tiefenstrukturen“, „Linien des Ideenverkehrs“ und der „sozialen und kulturellen Wirkmächtigkeit von Ideen“ fragen will, liegt damit voll im „neokonservativen“ Geist der Zeit. Angesichts der vielen heißen Luft, die vor allem Medien- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren ventiliert haben, eine vielleicht nicht ganz unerfreuliche Nachricht.