Russische Verhältnisse in Heiligendamm?

Auf dem EU-Russland-Gipfel kritisierte Bundeskanzlerin Merkel unverblümt den Umgang der russischen Regierung mit Protesten und Oppositionellen, kam aber beim Gegenangriff Putins ins Schleudern

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der russische Präsident will von einem Scheitern des EU-Russland-Gipfels nicht wissen. Man habe über alle Themen Übereinstimmung erlangt, "abgesehen von denjenigen, die weiterer Prüfung bedürfen". Dabei handelt es sich nach Putin um wirtschaftliche Probleme, die dem "Wirtschaftsegoismus" eines EU-Staates zu verdanken seien. Gemeint ist das Verbot der Fleischeinfuhren aus Polen. In den westlichen Medien wird die Situation anders dargestellt. Man spricht von "offenem Streit" über Menschenrechte und Versammlungsfreiheit – in Russland, Estland und Deutschland.

Angela Merkel, Wladimir Putin und Jose Manuel Barroso auf der Pressekonferenz in Samara. Bild: Kreml

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gestern Vormittag auf der Pressekonferenz während des Treffens öffentlich kritisiert, dass russische Oppositionelle der Organisation Anderes Russland, darunter Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow, daran gehindert wurden, zu einer Protestveranstaltung nach Samara, dem Tagungsort des Gipfels, zu gelangen. Ihnen wurden am Flughafen in Moskau Pässe und Flugtickets abgenommen. Die Tickets seien angeblich ungült gewesen, erklärte die Polizei. Auch einigen Journalisten, so heißt es, sei der Mitflug verwehrt worden. Schon am Tag zuvor seien von der Polizei einige Oppositionelle festgehalten worden.

Die Protestveranstaltung selbst konnte schließlich am Nachmittag stattfinden. An ihr haben einige hundert Menschen teilgenommen. Vielleicht dürften sie nur aufgrund der medialen Beobachtung und der Anwesenheit von Merkel und Barroso protestieren, um dem Ansehen Putins nicht noch weiter zu schaden. Berichtet werden jedenfalls Schikanen, denen sich Oppositionelle auch in Samara ausgesetzt sahen.

Hingewiesen sei auf eine vollständigere Abschrift des Wortlauts der Pressekonferenz, die ein Leser gemacht und ins Forum gestellt hat. Sie ist auch im Hinblick darauf interessant, was die Bundesregierung nicht aufgenommen hat.

Zuvor hatte die Bundeskanzlerin in ihre übrigen Erklärungen über die Zusammenarbeit mit Russland eingefügt:

Ich sage ganz offen, dass ich mir wünsche, dass heute Nachmittag diejenigen, die in Samara demonstrieren und ihre Meinung zum Ausdruck bringen wollen, das auch tun können. Ich bin etwas besorgt, dass manch einer Schwierigkeiten bei der Anreise hatte. Aber vielleicht kann sich ja hier doch eine mögliche Meinungskundgebung durchsetzen.

Am Schluss sagte sie noch:

Es gibt sicherlich viele Sorgen, die wir hinsichtlich der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit hegen. Auch diese Themen wurden in einer sehr offenen und ehrlichen Art und Weise diskutiert.

Geqälte Gesichter auf dem Gipfel. Bild: Kreml

Putin reagierte auf die Kritik empfindlich und betonte, dass solche Proteste der "Nichteinverstandenen" in Russland ebenso wie in anderen Ländern stattfinden. Mit einem Seitenhieb verwies er auf Tallin, wo in den Auseinandersetzungen der gegen die estnische Regierung Protestierenden ein Mensch ums Leben kam, dem die Polizei nicht zur Hilfe kam. Das bezeichnete er als "vorsätzlichen Mord". Und er versicherte, eigentlich nichts gegen Demonstrationen zu haben (erst vor kurzem wurden nicht angemeldete Proteste in Moskau und St. Peterburg mit großer Brutalität von der Polizei aufgelöst - Kein Schach dem Kreml):

Diese Märsche stören mich nicht. Ich bin der Meinung, dass jede Aktion im Rahmen der Gesetze durchgeführt werden soll. Es dürfen dabei die anderen Bürger nicht gestört werden, ein normales Leben zu führen. Man soll sich den Forderungen des Gesetzes unterwerfen und den lokalen Machthabern (gehorchen, die) die entsprechenden Gesetze, die Aktionen, bestimmen. Das betrifft sowohl Russland als auch unsere Partner in der EU.

Die Demonstranten müssen sich also an die gesetzlichen Regeln und polizeilichen Verordnungen halten und dürfen andere Menschen nicht stören. Genauso sicherheitspolitisch argumentieren allerdings auch die deutschen Behörden, die nicht nur im Vorfeld Razzien veranstaltet und jetzt das großräumige Demonstrationsverbot um den Tagungsort des G8-Gipfels angeordnet haben. In Niedersachsen hat die Polizei auch Globalisierungsgegner, die sie als gewalttätig betrachtet, besucht. Man habe sie vor einer Reise nach Heiligendamm gewanr, sagte ein Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums. "Den Leuten wird signalisiert, dass wir sie im Visier haben." Vermutlich will man sie unter Druck setzen und damit gleichzeitig vermeiden, sie in Schutzhaft zu nehmen, was – auch wie jetzt im Hinblick auf Russland – international keinen guten Eindruck hinterlassen könnte.

Bundeskanzlerin Merkel kam durch den Gegenangriff Putins auf Estland, aber auch auf die Praxis in Deutschland, offensichtlich ein wenig aus dem Tritt und konnte nicht recht erläutern, was der Unterschied zwischen der Haltung gegenüber Demonstranten in Deutschland und Russland ist. Dazu hätte sie darauf eingehen müssen, mit welcher Berechtigung der Verdacht auf Terrorismus, "kriminelle Dinge" oder "Gewaltanwendung" dazu verwendet, die Versammlungsfreiheit einzuschränken und Menschen daran zu hindern, an Protesten teilzunehmen. Merkel entgegnete:

Im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel in Heiligendamm wird es sehr, sehr große Demonstrationen geben von Tausenden und Abertausenden friedlichen Demonstranten. Es gibt überhaupt nicht die geringste Besorgnis, dass diese Demonstrationen nicht auch abgehalten werden können und auch sehr stark unterstützt werden zum Teil von Popsängern und anderen mehr. Die Razzien, die jetzt durchgeführt wurden, wurden durchgeführt im Zusammenhang mit einer sehr langen Verfolgung von Brandanschlägen, die auch auf bestimmte Hintergründe untersucht werden mussten. Die Bundesanwaltschaft hat hier ermittelt. Das ist die Behörde in der Bundesrepublik, die sich damit befasst, dass kriminelle Dinge, die auf eine bundesweite Bedeutung hinschließen lassen, untersucht werden – mit der Gefahr des Terrorismus. Das ist ein vollkommen normales Vorgehen. Was die Demonstranten anbelangt, auch in Hamburg, wo das stattgefunden hat, ist es so, dass immer in dem Fall, wo Demonstranten Gewaltanwendung betreiben, dann die Polizei eingreifen muss. Das ist, glaube ich, überall so. Aber friedliche Demonstrationen in sehr, sehr großem Umfang sind bei uns möglich, und sie werden auch zum G8-Gipfel in wirklich sichtbarer Form stattfinden.

Man wird davon ausgehen können, dass sich Putin die Vorgänge um den G8-Gipfel sehr genau ansehen wird, um darüber Munition zu erhalten, die in Russland praktizierte Behinderung und Unterdrückung der politischen Opposition als ganz normal rechtfertigen zu können. Schon aus diesem Grund sollte die Bundesregierung vorsichtiger als bisher mit demokratischen Grundrechten umgehen.

Im Verlauf der Pressekonferenz wurde Angela Merkel wohl klar, dass die Erklärung der Differenz nicht wirklich triftig war. Daher versuchte sie es noch einmal, was aber wiederum die Präventivmaßnahmen außer Acht ließ:

Was die Demonstranten anbelangt, möchte ich noch sagen: Ich habe jedes Verständnis – wenn Demonstranten Gewalt anwenden, wenn sie Steine haben, wenn sie irgendwelche Waffen haben oder sonstiges –, dass man sie dann festnehmen muss. Das ist wichtig. Demonstrationsrecht heißt nicht, dass man das Gewaltmonopol eines Staates infrage stellt. Aber wenn jemand gar nichts gemacht hat, sondern nur auf dem Weg zu einer Demonstration ist, ist das aus meiner Sicht noch mal eine andere Sache.

Wie weit die Informationen zutreffen, die die Nachrichtenagentur Ria Novosti gestern Nachmittag berichtete, ist schwierig zu beurteilen. Es kann sich sowohl um eine Lüge der Sicherheitsbehörden als auch um eine Entscheidung von Garry Kasparow, Eduard Limonow und Lew Ponomarjo handeln, die Behinderungen oder Probleme am Flughafen für eine politische Demonstration auszunutzen:

RIA Novosti meldet, dass die Oppositionellen nach der Aussage eines "offiziellen Vertreters der Milizabteilung des Flughafens Scheremetjewo" nur zeitweilig wegen des Verdachts festgehalten worden seien, dass die Flugtickets gefälscht waren. Nach einer Überprüfung hätten sie um 12 Uhr mittags ihre Papiere wieder zurückerhalten und hätten die Möglichkeit gehabt, noch nach Samara zu fliegen:

Doch „diese Bürger zeigten kein Interesse an einem Flug nach Samara“, sagte der Polizeisprecher. „Jetzt befinden sie sich im Flughafen und geben eine Pressekonferenz. Wahrscheinlich interessieren sie sich überhaupt nicht für eine Möglichkeit, nach Samara zu gelangen, wo sie doch zuvor so sehr hinwollten“, sagte der Gesprächspartner der RIA Novosti.

Update: Kommersant berichtet eine andere Version. Danach seien neben Garry Kasparov und Eduard Limonov 25 weitere Oppositionelle und Journalisten nach einer Liste von der Polizei am Betreten des Fluges von Moskau nach Samara gehindert worden. Dann seien die Dokumente so lange überprüft worden, bis kein Flug nach Samara mehr ging. Einige hätten dann versucht, die Stadt mit dem Zug zu erreichen. Doch Polizisten hätten sie auch dem Zug im Bahnhof in Moskau, auf der Fahrt und noch in Samara festgenommen. Alle Festgenommen wurden nach dem Ende der Demonstration wieder frei gesetzt, an der 400 Aktivisten teilgenommen haben und die von 150 Journalisten beobachtet wurde.