"Wir brauchen keine Elite-Institutionen"

Zur Schieflage der deutschen Hochschullandschaft. Ein Gespräch mit dem Soziologen Richard Münch

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Der 1945 in Niefern bei Pforzheim geborene Richard Münch gehört zu den renommiertesten Soziologen der Gegenwart. Ausgehend von der Systemtheorie Talcott Parsons` beschrieb er in den 70er und 80er Jahren das Modell einer „Koexistenz von individueller Handlungsautonomie und sozialer Ordnung“ und fand hier die „zentrale Idee der Moderne“ verwirklicht. Später wandte sich Münch in zwei vielbeachteten Werken („Dialektik der Kommunikationsgesellschaft“, 1991 – „Dynamik der Kommunikationsgesellschaft“, 1995) kommunikationstheoretischen Überlegungen zu, die ihn – im Gegensatz zu Jürgen Habermas – zu der Erkenntnis führten, dass moderne Gesellschaftsformen auf Dauer unvollendbare Projekte darstellen, deren Diskurse erst dann Sinngehalte produzieren können, wenn es den Teilnehmern gelingt, die „Inflation der Worte“ zu begrenzen und „Kopplungen zwischen der strategischen öffentlichen Kommunikation und dem nichtöffentlichen Gespräch ohne strategische Darstellungszwänge herzustellen“.

In seinem neuesten Buch "Die akademische Elite. Zur sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Exzellenz", das vor wenigen Tagen im Suhrkamp Verlag erschienen ist, setzt sich Richard Münch, der einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Bamberg innehat, mit der aktuellen Diskussion um die Reformfähigkeit des deutschen Bildungssystems auseinander. Während Meinungsführer aus Politik und Wissenschaft die Kür ausgewählter Spitzenuniversitäten und die Einrichtung von Exzellenznetzwerken bereits als entscheidende Kehrtwende feiern, kritisiert Münch nicht nur die Verteilung der neuen Bildungsinvestitionen, sondern auch strukturelle Fehlentwicklungen und die mangelnde Bereitschaft, den Begriff „Elite“ vor seinem inflationären Gebrauch exakt zu definieren.

"Entscheidend für die gesunkene Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Universitäten ist Auseinanderdriften von Forschung und Lehre"

Mit seinem Konzept für die Gründung der Berliner Universität hat Wilhelm von Humboldt 1810 ein Modell geschaffen, nach dem deutsche Universitäten über 100 Jahre lang erfolgreich arbeiten und internationale Spitzenpositionen besetzen konnten. Heute sind sie davon weiter entfernt als je zuvor. Worin sehen Sie die Ursachen für diese Entwicklung?

Richard Münch: Das Zentrum der Forschung hat sich seit geraumer Zeit in die USA verlagert. Den Amerikanern ist es gelungen, typische Strukturen des Humboldt-Projekts in das 20. Jahrhundert hinüberzuretten, weil sie die enge Verbindung von Forschung und Lehre, vor allem in den Graduiertenschulen, beibehalten haben. In Deutschland ist eine immer größere Kluft entstanden, und die Hochschulen haben insgesamt an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Die oligarchischen Strukturen, die sich in unserem Bildungssystem entwickeln konnten, kommen erschwerend hinzu: Es gibt zu wenige Professoren, denen viel zu viele Mitarbeiter zugeordnet sind.

Hätte diese Situation vermieden werden können – etwa durch die frühzeitige Orientierung am amerikanischen Hochschulsystem? Ist das aktuelle Dilemma also vielleicht schon ein Versäumnis der unmittelbaren Nachkriegszeit?

Richard Münch: Die Wurzeln reichen noch tiefer, denke ich. Die Zeit des Nationalsozialismus hat entscheidend dazu beigetragen, dass die deutsche Hochschullandschaft herausragende Wissenschaftler verloren hat, und von diesem Aderlass konnte sie sich nie wieder erholen. Man muss allerdings hinzufügen, dass die USA in diesem Bereich eine hegemoniale Stellung einnehmen und sie seit dem Zweiten Weltkrieg immer mehr ausgebaut haben. Davon ist übrigens nicht nur Deutschland betroffen. Die Auswirkungen bekommen auch andere Länder zu spüren. Strukturell entscheidend für die gesunkene Wettbewerbsfähigkeit der deutschen im Vergleich zu den amerikanischen Universitäten war aber das immer weitere Auseinanderdriften von Forschung und Lehre ,die Auslagerung eines großen Teils der Forschung aus den Universitäten und das Festhalten an den oligarchischen Strukturen von Lehrstühlen und Instituten, die es in den USA nicht gibt.

Bedingt die Krise der Forschung die Krise der Lehre – und umgekehrt? Oder sehen Sie eine realistische Chance, die beiden Problembereiche getrennt in Angriff zu nehmen? Die aktuelle Bildungspolitik scheint ja genau darauf hinauszulaufen.

Richard Münch: Das stimmt, aber ich halte das für einen völlig falschen Ansatz. In den letzten Jahren wurden immer mehr Aktivitäten in außeruniversitäre Einrichtungen und innerhalb der Hochschulen in Richtung der Drittmittelprojekte verlagert. Die Zahl der Wissenschaftler, die sich ausschließlich auf ihre Forschungsarbeiten konzentrieren, ist deutlich gestiegen, die Zahl der Lehrkräfte stagniert bestenfalls. Ich plädiere dafür, einen Großteil der Forschungsprojekte wieder in die Universitäten zurückzuholen, deutlich mehr Juniorprofessuren und Qualifikationsstellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu schaffen und alle zu einem moderaten Lehrdeputat zu verpflichten. Davon würde selbstverständlich die Lehre an den Hochschulen, rückwirkend aber auch die Forschung profitieren, die sich dann wieder öffnen und in Wettbewerbssituationen beweisen müsste.

Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion steht der Begriff „Elite“. Sie kritisieren sicher zu Recht, dass er inflationär gebraucht und trotzdem unzureichend definiert wird. Aber wie würden Sie ihn denn selbst beschreiben?

Richard Münch: Soziologisch gesehen ist das eine Frage gesellschaftlicher Definitionsprozesse. Aber es gibt zwei Aspekte, die wir dabei besonders beachten sollten. Wenn es um Personen geht, die herausragende Leistungen erbringen, dann lassen sich diese auch identifizieren anhand von Publikationen, öffentlicher Aufmerksamkeit oder Zitationen. Diese Differenzierung gab es immer schon, und die Arbeiten, die in großem Umfang rezipiert werden, stammen seit jeher von einer vergleichsweise kleinen wissenschaftlichen Elite.

Die Frage, ob Institutionen selbst Elite sein und werden können, steht auf einem ganz anderen Blatt. Spitzenuniversitäten haben gigantische Konzentrationsprozesse in Gang gesetzt und viele herausragende Forscher angezogen. Im Laufe von Jahrzehnten ist es durchaus möglich, dass die jeweilige Universität von der Reputation ihrer Wissenschaftler profitiert und sie zu einem gewissen Teil auf die gesamte Institution übertragen wird. Es wäre allerdings falsch anzunehmen, dass deshalb das gesamte wissenschaftliche Personal in Yale, Princeton oder Harvard zur Elite gehört, und außerdem brauchen solche Prozesse – wie gesagt – sehr lange Zeit.

In Deutschland wird derzeit versucht, sie zu forcieren und im Antragsverfahren zu bestimmen, wann und wo Eliten und exzellente wissenschaftliche Leistungen entstehen. Ich glaube nicht, dass dieses Rezept von Erfolg gekrönt ist.

"Durch die Einrichtung von Spitzenuniversitäten kann echter Wettbewerb gar nicht mehr stattfinden"

Auch wenn wir begrifflich nun klarer sehen - brauchen wir denn überhaupt eine akademische Elite und Spitzenuniversitäten, um international wieder Anschluss zu finden, oder gibt es andere Wege aus der Krise?

Richard Münch: Wir brauchen keine Elite-Institutionen, insbesondere dann nicht, wenn es nicht um Forscherinnen und Forscher, sondern um die internationale „Sichtbarkeit“ von Institutionen per se geht. Das bringt dem Land keinen Nutzen. Durch die Einrichtung von Spitzenuniversitäten verschärft sich der Trend zur Monopolbildung, echter Wettbewerb kann so gar nicht mehr stattfinden. Genau den brauchen wir aber, den Wettbewerb der Talente und Spitzenkräfte, die unabhängig von ihrem jeweiligen Standort gefördert werden müssen.

Was sagen Sie denn zu der konkreten Auswahl, zwei Münchner Hochschulen und die Uni Karlsruhe zu Spitzenuniversitäten zu erklären?

Richard Münch: Sie war in jeder Hinsicht vorhersehbar. Die Ludwig-Maximilians-Universität und die Technische Universität München hatten durch ihre Nähe zu zahlreichen Max Planck–Instituten am Standort, Präsenz in den zentralen Wissenschaftsorganisationen, eine ihrer schieren Größe entsprechende Drittmitteleinwerbung und das Ummünzen dieses reinen Größeneffekts in eine Spitzenleistung durch die Rankings der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) so viel symbolisches Kapital angesammelt, dass eine andere Entscheidung für mich eine totale Überraschung gewesen wäre. Im Fall Karlsruhe ist die Situation ähnlich. Hohe Drittmitteleinwerbung ist gepaart mit der Kooperation zwischen Universität und außeruniversitärer Forschung.

Betrachtet man allerdings die Produktivität pro Personaleinsatz, hätte die Entscheidung auch ganz anders ausfallen können. In Bayern stehen Würzburg, aber auch Erlangen-Nürnberg unter diesem Gesichtspunkt deutlich besser da als die beiden Münchner Hochschulen. Erlangen-Nürnberg und Würzburg haben jedoch den Standortnachteil, nicht von einem so großen Kranz außeruniversitärer Forschungseinrichtungen umgeben zu sein und als Städte weniger anziehend auf Gastwissenschaftler aus dem Ausland zu wirken.

Sie haben in ihren früheren Publikationen immer wieder darauf hingewiesen, dass die Moderne vor allem durch eine rücksichtslose Ökonomisierung aller Lebensbereiche gekennzeichnet ist. Wie realistisch ist angesichts dieses Umstandes die Annahme, es könne noch möglich sein, wissenschaftliche Leistungen nicht an der Höhe der eingeworbenen Drittmittel, sondern wieder in Form wissenschaftlicher Publikationen, angemeldeter Patente oder auch didaktischer Qualitäten zu messen?

Richard Münch: Immerhin gibt es etwas Bewegung in diesem Bereich. Ich denke, dass gerade die Auswertung bibliometrischer Daten in Zukunft ein größeres Interesse finden wird. Außerdem sind die beruflichen Anforderungen an Hochschulprofessoren ja sehr viel komplexer. Um ihre Leistungen beurteilen zu können, müsste auch die Tätigkeit als Gutachter, in der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses oder die Fähigkeit berücksichtigt werden, mit Wirtschaft und Öffentlichkeit zu kommunizieren und zu kooperieren.

Was sich da unter Managementbegriffen eingeschlichen hat, also das stumpfe Abhaken standardisierter Kennziffern, ist sicher nicht der richtige Weg.

Erläutern Sie uns doch bitte einige Alternativen im Detail. Sie wollen das Machtzentrum, das derzeit vom Wissenschaftsrat, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, wissenschaftlichen Akademien und den, wie Sie schreiben, „kartellartig organisierten Traditionsstandorten“ gebildet wird, entflechten, aushebeln, im Grunde zerschlagen. Warum eigentlich?

Richard Münch: Wir hatten in Deutschland eine einmalige Struktur des föderalen Pluralismus. Seit den 80er Jahren bemerken wir aber eine Verlagerung von der Grundausstattung der Hochschulen zu einer Finanzierung durch Drittmittel, die vor allem vom Bund bereitgestellt und dann über die Deutsche Forschungsgemeinschaft verteilt werden. So ist eine Überlagerung des Föderalismus durch zentralistische Strukturen mit Kartellen und Monopolen entstanden, die in dieser Form niemand gewollt hat. Es handelt sich um einen unbeabsichtigt ablaufenden, aber dennoch zwangsläufigen Prozess, der durch die Einrichtung von Spitzenuniversitäten oder die künstliche Konstruktion wissenschaftlicher Exzellenz nun allerdings weiter vorangetrieben wird.

Oligarchie und Patriarchat im deutschen Wissenschaftsbetrieb

Sie kritisieren insbesondere die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der Sie gern die Hälfte ihrer Ressourcen streichen würden, um dafür Juniorprofessuren einzurichten. Sie sind aber doch selbst auch als DFG-Gutachter tätig ...

Richard Münch: Ja, ich schreibe wie viele Kollegen regelmäßig Gutachten für die DFG. Das gehört zu unseren professionellen Pflichten, und ich bin auch davon überzeugt, dass dieser Bereich der DFG-Arbeit verglichen mit anderen Förderinstitutionen vorbildlich geregelt ist. Wir können schon davon ausgehen, dass die Gutachter nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten.

Das Problem liegt in der Struktur der DFG, dem zentralistischen Ansatz, der Konzentration auf Sonderforschungsbereiche und andere koordinierte Programme, in die ein Großteil der Fördergelder fließen, aber auch in der zu langen Amtszeit der Funktionsträger.

Ein Teil des Geldes wäre sicher besser angelegt, wenn sehr viel mehr Juniorprofessorinnen und –professoren die Chance hätten, ihr Können unter Beweis zu stellen und für den wissenschaftlichen Nachwuchs endlich erfolgversprechende Perspektiven entwickelt würden.

Im Schlusskapitel Ihres Buches geben Sie freimütig zu, dass ein so tiefgreifender Systemwandel, wie er hierzulande wohl vonnöten wäre, einer Revolution gleichkäme, und weisen überdies darauf hin, dass Revolutionen einen entmutigenden Seltenheitswert haben - und auch noch ein revolutionäres Subjekt brauchen. Wäre der wissenschaftliche Nachwuchs für diese Aufgabe geeignet?

Richard Münch: Ich denke schon, denn das revolutionäre Subjekt kann nach Lage der Dinge nur vom akademischen Proletariat gebildet werden. Das sind die Assistenten, Projektmitarbeiter, Lehrbeauftragten, die derzeit nur ganz geringe bis gar keine Karriereaussichten haben.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die Situation in den USA hinweisen. Dort haben wir in den Departements durchschnittlich 75 Prozent Professorenstellen, in Deutschland liegt der Anteil bei 17 Prozent, während die restlichen 83 Prozent als wissenschaftliche Mitarbeiter von Professoren tätig sind und in den seltensten Fällen zum Zuge kommen. Der in Deutschland im internationalen Vergleich nahezu einmalig niedrige Anteil von Frauen an Professorenstellen ist ebenso dieser Struktureigenart des deutschen Universitätssystems geschuldet. Zur Oligarchie gesellt sich das Patriarchat in der Wissenschaft. Von hier muss der Wunsch nach Veränderung ausgehen, denn unter diesen Umständen ist keine echte Nachwuchsförderung, keine echte Frauenförderung, kein transparenter Wettbewerb und keine positive Veränderung im deutschen Bildungssystem möglich.

Richard Münchs Buch Die akademische Elite. Zur sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Exzellenz ist im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet 15 €.