Endlich ein Grund zur Panik

Zwangskasernierung von Arbeitslosen?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das Projekt „Juwel“ (Jugendliche auf dem Weg in die Arbeit) der ArGe Rhein-Lahn-Kreis führt zu heißen Debatten und Empörung. Von Arbeitshäusern, Kasernierung und Prangermethoden ist die Rede. Warum eigentlich?

Wer derzeit auf den Seiten der Initiativen stöbert, die sich mit der Thematik Arbeitslosengeld II beschäftigen, stößt unter anderem auf das Projekt „Juwel“, welches die Arbeitsgemeinschaft (ArGe) Rhein-Lahn-Kreis für jugendliche Arbeitslose plant. Die Projektbeschreibung, die „aus dritter Hand“ an die Öffentlichkeit gelangte, lässt Schlimmes vermuten:

„Die Arge Rhein-Lahn-Kreis plant die Kasernierung von Arbeitslosengeld-II-Empfängern unter 25 Jahren, die nicht zur Schule gehen oder in Ausbildung sind, bzw. keinen Job haben. [...]Das Konzept sieht folgendes vor: Die Jugendlichen müssen demnach von in der Früh bis spätnachmittags in einem von der ArGe gemieteten Haus verbleiben. Sie müssen pünktlich zum Apell auf dem Hofgelände des Anwesens erscheinen und werden das Haus in dieser Zeit nicht ohne Genehmigung der Arge verlassen dürfen. Abends dürfen sie heimgehen. [...]Das Konzept beinhaltet jedoch die Idee der Finanzierung eines Führerscheines/von Führerscheinen für den Besten (oder die Besten). Das Konzept beinhaltet außerdem ein System der Bestrafung per Pranger. Dieses Wort ist mehrmals gefallen. [...]Und offensichtlich hat man sich über die Freude an der Ausarbeitung des Konzeptes weder über fällige Anfahrtkosten für die Jugendlichen noch über deren Verpflegung vor Ort Gedanken gemacht.“

Apelle, Quasigefangenschaft in einem Haus, Prangermethoden... Wut und Empörung schlagen hohe Wellen und Vergleiche mit Arbeitshäusern/-lagern sind ebenso anzutreffen wie Verweise auf die Hitlerjugend. Dass Harald Thomé von der Arbeitsloseninitiative Tacheles mitteilt, dass es sich um keinen schlechten Scherz handele sondern "das Projekt vollinhaltlich bestätigt wurde" wird von ebenso besorgten wie wütenden Lesern mehr oder minder fassungslos kommentiert – die obigen Informationen somit als vollkommen zutreffend angesehen.

Vollinhaltliche Bestätigung?

Der bei der ArGe Rhein-Lahn-Kreis verantwortliche Geschäftsführer Hahn zeigt sich im Telefonat eher irritiert ob der Aufregung um das Projekt. Zwar habe er tatsächlich mit Herrn Thomé gesprochen, diesem jedoch lediglich bestätigt, dass „Juwel“ derzeit noch beim zuständigen Ministerium zur Genehmigung vorliegt. Inhaltliche Informationen habe er nicht weitergegeben da derzeit nicht einmal sicher sei ob das Projekt genehmigt würde. Zwar sei als Start der 01. Juli 2007 angedacht, doch dieser sei noch nicht sicher da die vorgenannte Genehmigung noch fehle.

Nachdem der obige Absatz, der die „Projektbeschreibung“ darstellen soll, angesprochen wird, nimmt die Verwunderung des Geschäftsführers erneut zu. Warum denn niemand ihn direkt auf die Projektbeschreibung angesprochen bzw. um eine Schilderung des Projektes an sich gebeten habe sei ihm nicht klar. „Das ist kein Journalismus“.

Beim weiteren Gespräch über „Juwel“ stellt sich zunehmend die Frage, warum denn z.B. von Seiten Tacheles´ nicht weiter recherchiert wurde um die Wogen zu glätten sondern eher die Empörung noch angefacht wurde indem von vollinhaltlicher Bestätigung die Rede ist. Denn das Projekt, so wie es Herr Hahn beschreibt, hat mit dem Horrorszenario, welches sich im Forum wiederfindet, wenig gemein.

Morgendlicher Apell

Der „morgendliche Apell“, der Gedanken an strammstehende Arbeitslose aufkeimen lässt, ist nichts anderes als die Pflicht zur pünktlichen Teilnahme an einer Fortbildungsmaßnahme. „Juwel“ ist als ganzheitliche Fort- und Weiterbildung für Jugendliche gedacht, die beispielsweise bereits stark verschuldet sind (was ein Vermittlungshemmnis sein kann) oder, einfach ausgedrückt, Probleme mit der Lebensführung haben. Dies kann die Unfähigkeit sein, Rechnungen oder sonstige amtliche Schreiben fristgerecht zu beantworten, Termine einzuhalten, Vorstellungsgespräche zu führen usw. Der ganzheitliche Ansatz des Projektes beinhaltet insofern auch eine verstärkte engere Mitarbeit z.B. mit der Schuldnerberatung da derzeit nicht selten Wartezeiten von bis zu einem halben Jahr die Betreuung des Arbeitslosen erschwert. Wie bei allen anderen Fortbildungsmaßnahmen ist Anwesenheit Pflicht und Verspätungen wie auch Nichterscheinen sind zu erläutern und ggf. durch Vorlage von Attesten und Bescheinigungen zu belegen. Dass ein pünktliches Erscheinen nicht zuletzt auch für die Durchführung von Kursen wichtig ist dürfte einleuchten. Auch sollen die Jugendlichen im Zuge des Projektes erlernen, Termine einzuhalten, so dass Pünktlichkeit hier noch einen weiteren Zweck erfüllt.

Niemand darf das Haus verlassen

Auch die vermeintliche Kasernierung entpuppt sich als schlichte Teilnahmepflicht. Während der Pausen ist es den Teilnehmern – wie auch bei anderen Fort- oder Weiterbildungsmaßnahmen – selbstverständlich erlaubt, den Bildungsort zu verlassen. Hierzu bedarf es keiner Genehmigung, diese ist lediglich dann notwendig wenn ein Teilnehmer während der ganztägigen Maßnahme diese verlässt um einen Arzt aufzusuchen, einen wichtigen Termin wahrzunehmen usw. Auch hier unterscheidet sich „Juwel“ nicht von anderen Bildungsangeboten, bei denen die Teilnehmer ein Fernbleiben oder ein frühes Verlassen der Maßnahme begründen und genehmigen lassen müssen.

Die Wiedereinführung des Prangers

Auf den „Pranger“ angesprochen erläutert Herr Hahn, dass vorgesehen ist, einen Anreiz für die Teilnehmer der Maßnahme zu bieten. Dieser Anreiz soll die (Mit)finanzierung einer Fahrerlaubnis (Führerschein) für den besten Teilnehmer sein. Bei der Diskussion um diesen Anreiz sei jedoch von einem Kritiker diese Idee als „Pranger“ bezeichnet worden. Indem der oder die besten Teilnehmer belohnt würden, wären die schlechteren insofern an den Pranger gestellt – so der Einwand. Eine solche Ansicht eines Anreizsystems würde jede Prämie oder Auszeichnung für besondere Leistungen als Prangersystem umdefinieren.

Fahrtkosten und Verpflegung sind wohl nicht wichtig

Die Fahrtkosten der Teilnehmer, so Herr Hahn weiter, werden ebenso wie bei anderen Bildungsmaßnahmen erstattet, so sie über einem gewissen Betrag liegen. Bei der Verpflegung zeigt sich der ganzheitliche Ansatz der Maßnahme. Viele Jugendliche sind kaum mehr in der Lage, sich von anderem Essen als Fast Food oder Fertiggerichten zu ernähren. Da dies nicht zuletzt auch zu finanziellen Problemen beim Bezug von ALGII führen kann, wird es in der Bildungsstätte eine Möglichkeit geben, sich Essen zuzubereiten. Neben der gut ausgestatteten Küche werde die ArGe jedoch auch einen Teil der Lebensmittel zur Verfügung stellen, weiterhin soll eine hauswirtschaftliche Hilfe den Jugendlichen zur Seite stehen um Ernährungsberatung zu leisten und bei der Zubereitung einfacher Speisen zu helfen, so dies für die Jugendlichen ein Problem darstellt.

Stellt man diese Fakten dem gegenüber, was in den Foren derzeit diskutiert wird, so wird aus dem Arbeitshaus mit menschenverachtendem Prangersystem eine normale Bildungsmaßnahme mit ganzheitlichem Ansatz, welche unter anderem die Tatsache, dass immer mehr Jugendliche stark verschuldet sind, berücksichtigt und auch die Ernährung nicht außen vor lässt.

Es ist unverständlich warum diese Fakten, die Herr Hahn innerhalb von zwanzig Minuten am Telefon erläuterte, nicht auch Eingang in andere Foren gefunden haben oder überhaupt niemand bisher um eine ausführliche Stellungnahme bat. Der Verantwortliche für das Projekt „Juwel“ war nicht nur äußerst hilfsbereit, er bot zudem auch an, nach dem Start des Projektes einmal vor Ort zu recherchieren und sich das Projekt, die Teilnehmer sowie die Bildungsstätte anzusehen.

Es gibt seit Einführung der ALGII-Gesetzgebung zweifellos mehr als genug zu kritisieren. Vielfach wird die Abschaffung der gesamten HartzIV-Gesetze gefordert, wofür es ebenfalls mehr als genug Argumente gibt. Es ist bei der gesamten Auseinandersetzung rund um HartzIV aber umso wichtiger, dass die Kritiker auf Fakten zurückgreifen und nicht aus jeder Teilnahmepflicht einen morgendlichen Apell samt Kasernierung machen. So machen sich die Kritiker zu angreifbar und drohen, beim nächsten Mal nicht mehr ernstgenommen zu werden.