Identitätsverlust bei Elektronen

Forscher haben eine neue Art von Elektrizität gemessen: Unter besonderen Umständen verlieren Elektronen ihre Eigenschaft, Ladung und Wärme gleichermaßen in alle Richtungen zu transportieren - und sie lassen sich nicht mehr als wohl definierte, separate Teilchen betrachten.

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Es gibt da ja so einige Sorgenkinder in der Physik der Elementarteilchen. Da verliert man gern mal die Form, verwandelt sich, zerbricht - doch an all diesen Eskapaden beteiligen sich die braven Elektronen recht selten. So ist es den Trägern einer elektrischen Ladung bisher auch gut gelungen, den Einblick in ihre Struktur zu verweigern; noch betrachtet man sie in der Physik als punktförmig. In Metallen bewegen sich Elektronen besonders brav. Sie folgen dort rund um die Uhr dem Wiedemann-Franzschem Gesetz.

Das 1853 von den beiden Physikern Gustav Wiedemann und Rudolf Franz entdeckte Gesetz besagt, dass es zwischen der elektrischen und der Wärmeleitfähigkeit in Metallen einen direkten Zusammenhang gibt. Der begründet sich daraus, dass für beide Größen die Elektronen zuständig sind. Durch Stöße geben sie ihre kinetische Energie (Wärme) weiter, und die Ladung tragen sie bekanntermaßen direkt am Körper. In Metallen verhalten sich Elektronen zudem ganz besonders geordnet.

Sie folgen hier quantenphysikalischen Grundsätzen, die jedes Elektron in einen bestimmten Geschwindigkeitsbereich einordnen. Keins der Elektronen bewegt sich schneller als eine bestimmte Grenzgeschwindigkeit, die Fermi-Geschwindigkeit. Dass sich diese Ordnung einstellt, liegt am quantenmechanischen Pauli-Prinzip: Das verbietet nämlich, dass Fermionen (zu denen die Elektronen gehören) im gleichen Raum in allen Quantenzahlen übereinstimmen.

Dass das Wiedemann-Franz-Gesetz manchmal versagt, haben Wissenschaftler schon vor fünf Jahren festgestellt. Damals hatte ein kanadisch-amerikanisches Team am Fall eines Hochtemperatur-Supraleiters vorgeführt, dass der mehr Hitze leitet, als ihm nach dem Gesetz zustehen (Supraleiter schmuggelt Hitze über Theoriegrenzen). Weil illegales Verhalten in der Natur zwar nicht bestraft wird, aber trotzdem die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zieht, hat sich die Forschergemeine mit dem Gegenstand weiter beschäftigt.

Einer der Autoren von 2001, Louis Taillefer, ist in einem jetzt in dem Fachmagazin Science veröffentlichten Artikel mit vertreten, der die Thesen weiter treibt und Elektronen gar einen möglichen Identitätsverlust nachweist. Die US-kanadischen Forscher studierten das Metall CeCoIn5 (Cer-Kobalt-Indium). Und zwar mit einem ziemlich fiesen Hintergedanken: Es müsste doch möglich sein, die feine Elektronenordnung im Metall gründlich zu stören.

Eine neue Art von Elektrizität

Dazu lässt sich sehr schön die Heisenbergsche Unschärferelation nutzen, die (kurz formuliert) verbietet, dass von mehreren Quanteneigenschaften alle mit derselben Präzision eingehalten werden. Doch was passiert wohl nun, wenn man einer Eigenschaft bewusst immer mehr ihre Fluktuationsfähigkeit entzieht? Dann muss die damit verbundene zweite Eigenschaft immer unzuverlässiger werden. Wenn man eine Stubenfliege beobachtet, sieht man beide Flügel schnell schlagen. Pinnt man den einen Flügel aber am Boden fest, schlägt in der Quantenphysik nicht etwa der zweite doppelt so schnell: Die ganze Quantenfliege gerät in einen instabilen Zustand, was mit dem losen Flügel passiert, ist schwer vorherzusagen.

Genau das passiert an einem quantenkritischen Punkt. Die Autoren des Science-Papers untersuchten CeCoIn5 unter eben solchen Umständen, nämlich wenn das Material bei tiefen Temperaturen unter dem Einfluss eines wachsenden Magnetfeldes vom Supraleiter zum normalen Metall wird. Ist das Magnetfeld groß genug, verhält sich CeCoIn5 brav wie erwartet, das Wiedemann-Franzsche Gesetz hält.

Beim Absinken des Magnetfelds sind jedoch interessante Effekte zu beobachten: Zum einen ist die Wärme- nicht mehr von der elektrischen Leitfähigkeit abhängig. Zum anderen passiert das anisotrop, also nur in bestimmten Raumrichtungen. Das weist darauf hin, dass sich die Eigenschaften des Materials gerade fundamental ändern. In einer Ebene transportieren brave Elektronen dann weiterhin Ladung und Wärme - doch was in der z-Achse passiert, darüber können die Forscher bisher nur spekulieren. Möglicherweise werden Ladungs- und Spintransport in dieser Richtung entkoppelt, das Elektron (das sonst Ladung und Spin in einem Punkt vereint) bricht also notgedrungen auf.

Sicher, schreibt der US-Physiker Piers Coleman in einem begleitenden Perspektiven-Artikel in Science, können wir uns nur in einem sein:

An einem quantenkritischen Punkt übernimmt eine neue Art von Elektrizität - und wir fangen gerade erst an, ihre Eigenschaften zu verstehen.