Bericht eines Demonstranten aus Rostock

Abseits der Protestbotschaften kam es zu Gewaltexzessen. Die Polizei war dabei

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Zurück aus Rostock, studiere ich nachts ab zwei Uhr in Düsseldorf die Online-Berichterstattung über das Ereignis. Wenig ist über Protestinhalte zu lesen. Zumindest einige politisch korrekte Nachträge zur Kreativität der Demonstrationszüge gibt es. Das Hauptthema „Gewalt“ kennen wir ja schon seit Wochen. Die Eskalation ist nun auch wirklich eingetreten und wird breit ins Bild gesetzt. Alle, die gewarnt, vorab kriminalisiert und ein hartes Durchgreifen gefordert haben, können sich scheinbar bestätigt sehen.

Auch der kollektive Übeltäter ist schon ausgemacht. 2000 oder gar 3000 Leute vom „schwarzen Block“ sollen Ursache des Gewaltübels gewesen sein. Demnach wäre, legt man die in der Polizeischätzung sehr tief angesetzte Teilnehmerzahl des Protestes zugrunde, jeder zehnte Demonstrant ein potentieller Gewalttäter gewesen. Allein Panoramaaufnahmen des gesamten Rostocker Hafengebietes würden zeigen, wie absurd eine solche Rechnung ist. Einzelne können bei Massenveranstaltungen wie in Rostock nur Ausschnitte wahrnehmen, zumal, wenn sie – wie der Verfasser – als Demonstranten mitten drin im Geschehen sind.

Ein kritisches Bild aller Abläufe wird nur abseits vom Aktualitätsdruck entstehen. Bevor sich jedoch voreilige Deutungsmuster etablieren und dem Fortgang der Proteste in den kommenden Tagen ein Muster aufprägen, sollten Berichterstatter, Organisatoren des Protestbündnisses und Polizei es nicht versäumen, Fragen zu stellen.

Nicht in Frage gestellt werden kann, dass es zu jenen verabscheuenswürdigen Gewalttaten (vgl. Demonstration gegen G8-Gipfel endete in Militanz) gekommen ist, die das „übliche Bild“ radikaler Proteste bedienen und den Stoff für eine entpolitisierte Medienberichterstattung hergeben. In Rostock sind Scheiben eingeschlagen worden. Straftäter haben ein Polizeiauto attackiert, schwere Steingeschosse und Flaschen auf Polizisten geworfen und Brandsätze auf der Straße gelegt. Das alles kann weder beschönigt noch irgendwie gerechtfertigt werden. Spiegelbilder des Krieges sind Ausdruck von Kriegslogik. Sie sind als Gewalt gegenüber Mitmenschen keiner anderen Welt dienlich als der des Krieges (vgl. Der Charme des Widerstands).

Störmanöver aus der Luft

Unstrittig ist auch, dass die Polizei während des eigentlichen Demonstrationszuges auf den längsten Abschnitten unsichtbar blieb und sich von Einzelnen, die offenkundig ein Gewaltevent suchten, nicht provozieren ließ. Allerdings flog bereits zur Auftaktkundgebung am Rostocker Bahnhof ein Hubschrauber direkt über dem Versammlungsort. Das Gleiche wiederholte sich am Nachmittag zu Beginn der Großkundgebung, und zwar zweifach und so lautstark, dass es die gesamte Atmosphäre im Hafengebiet dominierte. Wer diese Störmanöver aus der Luft angeordnet oder genehmigt hat, sollte aufgeklärt werden (unter den Demonstranten kursierte zeitweilig die Nachricht, es würde sich nach Polizeiangaben um Hubschrauber der Medien handeln).

Zu Gewalteskalationen kam es nun gegen Ende der Demonstration, sehr nahe am Kundgebungsgelände. Eine sorgfältige Rekonstruktion der entsprechenden Ereignisfolge, die sich ab etwas 15.00 Uhr gegenüber von laufenden Fernsehkameras auf einem Schiffsdeck abspielten, wäre von besonderem Interesse. Denn hier kam es erstmals seit Veranstaltungsbeginn zur „klassischen Situation“, in der sich eine Gruppe des so genannten „schwarzen Blocks“ und Polizisten gegenüberstanden. Steine oder andere Wurfgeschosse, die in dieser Situation flogen, landeten nach meiner Beobachtung auch im Bereich der Demonstranten.

Viele Fragen

Sie müssen also förmlich aus dem Hinterhalt von Straftätern abgeworfen worden sein, die sich bewusst möglichst weit entfernt von den Polizeimannschaften platziert hatten. Das von mir wahrgenommene Bild liefert jedenfalls keine Rechtfertigung dafür, pauschal von „dem schwarzen Block“ zu sprechen. Die Veranstalter sollten nach meinem Dafürhalten, jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils, davon ausgehen, dass sich eine sehr große Mehrheit auch der Autonomen an die grundlegenden Bündnisvereinbarungen gehalten hat: Keine Zerstörungen im öffentlichen Raum und keine Gewalt gegen Menschen.

Der weitere Verlauf wirft sehr viele Fragen auf, die in der Online-Berichterstattung keineswegs schon befriedigend erhellt werden. Florian Gathmann macht in seinem Bericht für Spiegel-Online immerhin eine Andeutung dazu:

Tatsächlich ist für viele Beobachter nicht nachvollziehbar, warum die Polizei gegen Abend immer wieder in kleinen Gruppen gezielt gegen Demonstranten vorgeht. Dann setzt sie auch zum ersten Mal Tränengas ein, was Polizeisprecher Manfred Etzel noch um 16.30 Uhr ausschloss.

Nach 17.30 Uhr ließ die Polizei längs dem Außenrand der Kundgebung einen Wasserwerfer fahren. Das Einsatzareal dafür war weit entfernt von einem aktuellen Brandherd an ganz anderer Stelle. Viele Menschen liefen angstvoll in Richtung Kundgebungsbühne. Andere stellten sich dem Wasserwerfer mit erhobenen Armen entgegen, so dass sich dieser schließlich zurückzog. Unmittelbar darauf kamen jedoch Polizeimannschaften und bauten sich vor den Veranstaltungsteilnehmern auf, die – wiederum mit erhobenen Armen und offenen Handflächen – ihren Unmut über das Polizeivorrücken auf das Versammlungsgebiet zum Ausdruck brachten.

In dem Abschnitt, in dem ich mich als Versammlungsteilnehmer befand, stürmten jetzt die Polizeimannschaften in Intervallen in die Menge. Ich habe mehrfach gesehen, wie direkt neben mir Polizisten mit Schlagstöcken auf gewaltfreie Demonstranten losprügelten. Nur: Bei diesen Gewaltszenen waren Kameras der großen Sendeanstalten – zumindest aus der Nähe – nicht zu sehen.

Auch bei dieser Gelegenheit landete ein Stein zwischen Polizisten und Demonstranten. Er hätte Menschen auf beiden Seiten treffen können. Aber dieser Stein kam von außerhalb, aus einer Richtung hinter der Polizeimannschaft.

Noch Zeit für Deeskalation

In Rostock war deutlich zu merken, wie hoch Anspannung und Aggressionspotential auch auf Seiten der Polizei sind. Für Deeskalation bis zum Ende des G8-Gipfels bleibt jetzt noch Zeit:

  1. Die Veranstalter der Proteste müssen versuchen, mit Gewaltopfern auf beiden Seiten gleichermaßen in Kontakt zu treten.
  2. Die Medien sollten sich intensiv den höchst erfreulichen Bildseiten der Großdemonstration und den Anliegen des Protestes zuwenden und Straftäter nicht noch durch unproportional viele Gewaltbilder belohnen.
  3. Die Polizei sollte deutlich erklären, dass sie bei friedlichen Blockadeaktionen der nächsten Tage weder Schlagstöcke noch Tränengas einsetzen wird.
  4. Blockierer sollten sich im Gegenzug von ungebetenen Gästen, die sich nicht an den in Trainings erprobten Regeln der Gewaltfreiheit orientieren wollen, direkt distanzieren. Im Extremfall müssen sie auch bereit sein, bei ihrem zivilen Ungehorsam einen Blockadeabschnitt zur Gewaltvermeidung aufzugeben.

Nach den hautnahen Wahrnehmungen von Polizeigewalt hatte ich das Bedürfnis, über das Vorgefallene mit Polizisten zu sprechen. Als Bürger und christlicher Pazifist pflege ich kein „Feindbild Polizei“ und halte den gemeinsamen Austausch über die Verfassungsgrundlage des Gemeinwesens für notwendig. Bei meinem letzten Gespräch mit einem Polizeibeamten vor der Abfahrt des Düsseldorfer Busses wurde mir nun eine besondere Belehrung zuteil.

Der Polizist klärte mich darüber auf, dass wir ja „keine Verfassung“ haben. Es gäbe in diesem Lande „nur ein Grundgesetz“, und das sei uns von Besatzungsmächten nach 1945 gleichsam aufgezwungen worden. Anschauungen dieser Art werden sich im Umfeld des G8-Gipfels hoffentlich nur als Ausnahme erweisen.