Pragmatischer Kulturpessimismus

Viele der größten Musik-, Film- und Literaturwerke sind bereits gemeinfrei

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Was von den Künstlern in guten Jahren sich sammeln läßt [...] sind Scheunen voll handwerklicher Fertigkeiten und Speicher voll Hoffnung. So bevorratet sollen sich minder ermutigende Abschnitte überstehen lassen, auch wenn sie ausgedehnt sind und auf die augenblickliche Verschlechterung [...] allem Mutmaßen nach eine weitere Verschlechterung folgen wird. Kunst greift immer vor, aber wo sie im Besitz starker Mittel sich befindet, hat sie das Zeug zum Vorgriff auch übers Absehbare hinaus: zum langen Vorgriff." (Peter Hacks)

Kulturpessimismus hat einen schlechten Ruf. Meist assoziiert man ihn mit unpassenden biologischen Metaphern, wie jene des Lehrers Oswald Spengler1 oder mit ein paar musikalischen Fehleinschätzungen von Theodor W. Adorno, die darauf zurückzuführen sind, dass der von ihm gehörte Radiosender die Musik des bevorzugt gespielten Paul Whiteman Orchestra als "Jazz" bezeichnete. Weiter rührt der schlechte Ruf auch von der naiven Naturverherrlichung Rousseaus und der Romantiker her - und vom Kulturpessimismus aus Übersättigung, wie ihn Nietzsche hegte.

Dabei muss eine skeptische Sicht auf bestimmte kulturelle Entwicklungen nicht mit einem deterministischen Geschichtsbild verbunden sein. Sie kann vielmehr einer geläuterten Kulturbetrachtung entspringen, einer dialektischen Weiterentwicklung eines undifferenzierten Kulturoptimismus. Ein differenzierter Kulturpessimismus wird nicht gegenüber einer Gesamtentwicklung der Geschichte an den Tag gelegt, sondern nur gegenüber bestimmten gegenwärtigen Tendenzen.

Solche Erscheinungen wären z.B. die Produktionsbedingungen der Kulturindustrie, ihre Castingshows, ihre "Gangster", Digital Rights Management und die Ideologie vom "Geistigen Eigentum". Das gilt aber nicht in gleichem Maße für alle Werkgattungen. Im Bereich Software etwa ist durchaus noch ein Fortschritt feststellbar, die Verschlechterung in toto trotz DRM etc. nur die Ausnahme. Allerdings kann sich das sehr schnell ändern – was zum Beispiel bei einer Legalisierung von Softwarepatenten in Europa passieren könnte.

Aber führt so etwas nicht zur unseligen Ideologie der Konsumverweigerung aus den 1970er Jahren - in eine unsinnige und dumme Selbstkasteiung? Mitnichten. Kulturpessimismus muss keineswegs mit einem Konsumverzicht einhergehen, sondern kann – im Gegenteil – gerade mehr Konsum bedeuten. Mehr Konsum deshalb, weil man weniger bzw. kein Geld für die älteren, besseren Kulturwerke ausgeben muss. Das liegt zum einen daran, dass sie digital vorliegen, zum anderen daran, dass sie häufig gemeinfrei sind.

Die gemeinfreien Werke haben zudem den Vorteil, dass sie nicht nur angehört, sondern auch für andere Werke verwendet werden können – dass also potentiell wirklich Neues aus ihnen entsteht. Das "Neue" in den Bereichen Musik, Film und Literatur ist derzeit nämlich nicht nur häufig schlecht (das heißt weder zum Genuss, noch zur Distinktion geeignet), sondern auch nur sehr bedingt "neu". Wenn aber das "Neue" das schlechte Schon-mal-dagewesene ist, dann ist es allein schon deshalb weit vernünftiger, ältere, bessere und potentiell gemeinfreie Werke zu konsumieren.

Nach deutschem Recht erlischt der Urheberrechtsschutz 70 Jahre nach dem Tod eines Autors. Leistungsschutzrechte für Aufnahmen oder editorische Leistungen währen 50 Jahre. Im Ausland gelten (beziehungsweise galten) dagegen häufig kürzere Fristen für ein Fallen in die Public Domain. Die Verlängerung eines gewährten Copyrights war bis in die 1970er Jahre in den USA kein Automatismus, was dazu führte, dass nach amerikanischem Recht auch viele Filme aus den 1960er Jahren bereits gemeinfrei sind. Der Download solcher Werke von Standorten, in denen sie als Public Domain gelten, ist auch nach deutschem Recht völlig legal. Nur wenn man P2P-Clients mit Chaining-Funktion nutzt, muss man sich nach den deutschen Fristen richten.

Musik

Wikipedia-Erfinder Jimmy Wales befand 2005, dass der interessanteste Teil der Musik bereits gemeinfrei sei und nur noch entdeckt werden müsse. Das Internet ermöglicht die Entdeckung dieser großen Schätze an gemeinfreier Musik - von Pablo Casals Bach-Einspielungen aus den 1930ern bis hin zu den Mahler-Aufnahmen von 1905, den musikalischen Dokumenten, die Enrico Caruso hinterließ, der Oper "Cavellaria Rusticana" von Pietro Mascagni (bekannt aus dem dritten Teil des Paten, der seinen dramaturgischen Höhepunkt während einer Aufführung dieser Oper hat), sowie massenhaft Werken von Boccherini, Brahms und Händel.

Doch nicht nur Klassik, sondern auch viele andere Stücke befinden sich in der Public Domain - zum Beispiel der "Dopehead Blues" von Victoria Spivey, "Cocaine" von Dick Justice, ein gut Teil der Stücke von der Anthology of American Folk Music oder die von Alan Lomax in den 1930er Jahren aufgenommenen Bluessänger.

Neben den vor 1957 entstandenen Aufnahmen gibt es auch Einspielungen von Orchestern, die diese unter Creative Commons Lizenzen oder direkt in die Public Domain stellen, etwa im Open Music Repository. Und auch wenn die gemeinfreien Werke nicht im Netz verfügbar sind, so sind sie doch häufig auf CD wesentlich günstiger erhältlich, als ihre monopolgeschützten Äquivalente. Auch deshalb gilt seit einigen Jahren in der Musikindustrie: "Schlecht geschützt verkauft sich gut".

Film

Im Bereich Film findet sich in der Public Domain zwar weniger als im Bereich der Musik, aber bei weitem nicht nur Obskures und Vergessenes, sondern auch viele Werke aus dem Kanon der Filmgeschichte wie F.W. Murnaus "Nosferatu", Sergej Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin", "Das Kabinett des Dr. Caligari", Fritz Langs "M" und die "Reise zum Mond" von Georges Méliès. Ebenfalls bekannt, geschätzt, gemeinfrei und großartig sind die Noir-Klassiker "Scarlet Street" und "D.O.A.", die Horror-Meisterwerke "Night of the Living Dead" und "Carnival of Souls" oder der Science-Fiction-Film "Last Man on Earth" mit Vincent Price. Und nicht zuletzt gibt es unter den gemeinfreien Filmen auch Entdeckungen zu machen, die nicht jeder kennt: Benjamin Christensens "Seven Footprints to Satan" etwa, oder Frank Wisbars "Strangler of the Swamp".

Literatur

Betrachtet man sich das Regietheater von heute, kommt man leicht zu dem Schluss, dass das Theater Gott sei Dank eine vergängliche Kunst ist. Schriften aber leben weiter. Und an toten Autoren, die gute belletristische Bücher verfassten, mangelt es nicht (Ausnahmen sind eher die guten Lebenden, wie Greg Egan, Neal Stephenson oder Ken McLeod). Dementsprechend schwer fällt hier die Auswahl. Leichter, als gute gemeinfreie Bücher auszuwählen, wäre es, ganze Literaturgattungen zu nennen, die mittlerweile komplett in der Public Domain sind. Etwa der Barockroman mit Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen mit seinem "Simplicissimus", die Romantik mit Jean Pauls "Titan" (nach dem Mahler seine Sinfonie benannte), der Realismus mit Honoré de Balzacs "Père Goriot", die Schauerliteratur bis hin zu ihren späten Ausläufern wie Edgar Allen Poe oder der Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts mit Henry Rider Haggards "She".

Aber auch in jüngeren Gattungen und Genres wie Futurismus, Fantasy, und Science Fiction finden sich bereits zahlreiche Meisterwerke in der Public Domain - etwa Wladimir Majakowskis "Zeit-Marsch" oder Robert Krafts "Die Neue Erde". Im letzten Jahr wurden die Werke des Conan-Schöpfers Robert E. Howard nach deutschem Recht gemeinfrei, ebenso wie Gilbert Keith Chestertons Kriminalroman "The Man Who Was Thursday". Im nächsten Jahr folgt ihnen der (anderswo auf der Welt bereits gemeinfreie) H.P. Lovecraft, im übernächsten der 1938 verstorbene Karel Capek mit seinen Romanen "Der Krieg mit den Molchen" und "Das Absolutum oder die Gottesfabrik".