"Jeder hat das Recht, ein Clown zu sein"

Ein Plädoyer für das Lachen und eine Liebeserklärung an die buntesten Sympathieträger der Proteste von Heiligendamm

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Am Ende der Gipfelwoche hinterlässt die offizielle Programmabspulung von Heiligendamm nichts zum Lachen, am wenigsten für Milliarden Arme auf der Erdkugel und für die heute noch nicht geborene Bewohnerschaft des Planeten. Die Zyniker finden also reichlich Stoff, und obendrein können sie sich auch noch belehrende Kommentare ausdenken für mehr als zehntausend Gutmenschen in allen Farben, die ihr Hinterteil zu den Blockaden rund um Heiligendamm bewegt haben. In einer Bilanz wird man eine lange Liste trauriger Nachrichten abarbeiten müssen: physische, politische und mediale Kriegsansagen, neue Interpretationsverfahren in der Grundgesetzauslegung, Käfighaltung für festgenommene Protestteilnehmende, eingeschleuste Staatsdiener im schwarzen Weichkleidungslook … Lassen wir es nur an dieser Stelle einfach mal sein.

Wie wäre es, sich die einschlägigen Ticker – die bürgerlichen und die linken – stattdessen noch einmal unter dem richtig doofen Motto „Humor ist, wenn man trotzdem …“ anzuschauen? Im Gegensatz zu seinen gefährlich ernsten BILD-Kollegen hat zum Beispiel der Bildunterzeilentexter von Welt-Online durchaus bisweilen Humor: „Das hätte er vielleicht besser nicht in Anwesenheit eines Fotografen getan: Ein Polizist verpasst einem Demonstranten einen Tritt in den Hintern.“

Das so kommentierte AFP-Foto ist vielleicht sogar aus der Sicht des von hinten gezeigten Blockierers nicht ganz frei von Komik (wenn nicht, möge er mir verzeihen). Wir wissen ja, auf die Perspektive kommt es an.

Auf dem Weg zur herrlichen Zweckfreiheit

Jetzt denken Sie vielleicht, wie man nur so unpolitisch an die Sache herangehen kann. Nun, bei den Video-Clips am Donnerstag und Freitag gab es trotz Blessuren und absehbarer Erkältungen viele äußerst gut gelaunte Blockadeteilnehmerinnen und Teilnehmer zu sehen und das im heitersten Wissen darum, dass eben auch die effektiven Blockaden auf dem Luftweg umgangen werden konnten und vor allem als nicht zu zerredendes Mobilisierungssymbol gegen die Verzweckung des Lebens bleiben werden.

Sogar nicht sympathisierende Medien hatten Strategiekomplimente ausgesprochen und konnten die Fülle an schönen Überraschungen, die man am Montag noch kaum erhoffen durfte, nicht ganz ignorieren. Schließlich zeigten sich auch die aufeinander angewiesenen Bündnispartner froher Dinge, denn es war der Gegenseite nicht gelungen, den Protest öffentlich als Terroristenwerk zu diskreditieren und nach politischen Lagern in „Gute und Böse“ aufzuspalten. Die Angst der Mächtigen vor der Gewaltfreiheit wird also bleiben.

Nur den griesgrämigen Aktivisten aus dem Lager der Kosten-Nutzen-Rechner wird man wohl noch ein wenig helfen müssen, das Neue zu sehen: Die Zeit der Gewaltfreiheit und des zivilen Ungehorsams ist unaufhaltsam gekommen, und allein aufgrund vernünftiger Überlegungen lässt sich gar keine andere Alternative politisch denken.1 Von infantilen Zeitplänen für Siege wird freilich Abschied zu nehmen sein. Vielleicht kann man sich dann sehr bald schon darüber wundern, was sich alles gewaltfrei blockieren lässt.

„Und nicht vergessen …“

Der Teufel, so sagt ein spanisches Sprichwort, freue sich, wenn man ihm eine sehr große Macht zuschreibe, und eben diesen Gefallen dürfe man ihm nicht tun. Stattdessen solle man ihn auslachen. Die Protestwoche gegen den G8-Gipfel hat erneut gezeigt, dass man das aufgeblähte Ungeheuer einer massenmörderischen Weltwirtschaftsordnung am allerwenigsten mit ernster Kriegermiene und Verzweiflungstaten wird austreiben können. Gelassenheit und Heiterkeit sind Grundvoraussetzungen für einen aussichtsreichen Widerstand, zugleich das einzige Heilmittel gegen die herrschende „Philosophie der Vergeblichkeit“. Sie nehmen das Ende des beklagten Übels schon jetzt vorweg.

So gaben denn Moderatorin und Moderator des alternativen linken G8-Fernsehens zum Schluss jeder Abendsendung ihrem Publikum die folgende Botschaft der Gelassenheit mit auf den Weg: „Und nicht vergessen: Es gab eine Zeit vor dem Kapitalismus, und es gibt eine Zeit nach dem Kapitalismus.“ Gewiss, das wird als geflügeltes Wort nach Heiligendamm noch weite Kreise ziehen.

Im Maßstab der Geschichte ginge es demnach um eine vorübergehende Krankheit, die keineswegs unheilbar ist. Dem quasireligiösen Allmachts- und Absolutheitsanspruch des so genannten Neoliberalismus wird hier nicht nur die bloße Existenz einer Alternative vorgehalten, sondern vielmehr sein schon jetzt ausgemachtes Ende. Nur mit einer solchen vorwegnehmenden Gewissheit ist es möglich, auf lächerliche Imitationen der Hochrüstung des Systems zu verzichten und dem Kaiser – wie sich selbst – unter Lachen ein nacktes Spiegelbild vorzuhalten. Mit Konstantin Wecker: „Humor ermöglicht das Aussteigen aus der Wirklichkeit. Im Moment des Lachens ist die Realität 'ver-rückt', das heißt sie stellt sich in andere Zusammenhänge …“

Die „Pink Revolution“ setzt neue Maßstäbe für eine erfolgreiche Kapitalismuskritik

Beim Querlesen in linken Medien zeichnet sich schon jetzt ab, dass nach Heiligendamm eine Diskussion über politische Farbcodes ansteht, und auch diese wird hoffentlich humorvoll geführt werden. Farbsymbole wollen – nicht nur ästhetisch – gut bedacht sein. Welche Farbe würden Sie sympathisch finden?

Orange erinnert mich derzeit z.B. an die Farbe der Häftlingskleidung in Guantanamo und an fremdfinanzierte „Revolutionen“. Orange wäre auf keinen Fall eine gute Wahl. Einem Wandspruch in Rostock zufolge käme „Pink“ zumindest in die engere Auswahl. Das würde mich persönlich sehr freuen. Nachdem die rosa Bemalung auf der Kyritzer Heide schon einmal ein militärisches Gebäude förmlich zum Einstürzen gebracht hat, wurde dort zu Beginn der Gipfelproteste das „Unternehmen Rosa“ auf neue Weise, diesmal unter Mithilfe der „Clowns Army“, ins Bild gesetzt. Die unmännliche Farbe ärgert das Militär, sie ist unwiderruflich als antimilitaristisch qualifiziert.

Nun, mit Pink wäre aber nach der Regenbogenfahne gleich ein zweites Farbsymbol der Lesben- und Schwulenbewegung in die Kapitalismus- und Kriegskritik abgewandert. Werden denn da die inzwischen größtenteils kommerziellen Szenemagazine nicht aufschreien? Und was wäre überhaupt der politische Nährwert einer solchen Farbwahl? Ich meine, wenn das durch Alibi-Frauen verzierte Patriarchat ein Hauptverursacher der aggressiven Zivilisationsgeschichte ist, wovon auch die jüngsten Bilder von Staatsmacht wieder eindrucksvoll Zeugnis ablegen, würde doppelt gemoppelt gar nicht so schlecht sein. Außerdem hätten die Liebhaber von Rot, die keine Pace-Fahnen mögen, ihre Couleur bei „Rosa“ oder „Pink“ doch auch dabei. Liebe Telepolis-Forumsteilnehmerinnen und Teilnehmer: Ich bin für jeden schonungslosen Beitrag zu diesen Farbausführungen dankbar. Nur: Stellen Sie bitte Ihren Humor unter Beweis.

Wer sind die „wahren Narren“?

Über komische Bilder auf der Minderheitenseite des so genannten Sicherheitszaunes von Heiligendamm ließe sich vieles anmerken, doch das ist hier nicht das Thema. Es geht mir ja um die echten Narren, um die Wiederkehr der Clowns. Zu meinen Kinolieblingen gehört noch immer „Harold and Maude“ (USA 1971) von Hal Ashby (TP-Leser wissen, dass ich immer zwanghaft Filme auch außerhalb cineastischer Zusammenhänge anführe). Kein anderer Film der Zeit, schon gar nicht die vermeintlichen „Antikriegsfilme“ des Vietnamkinos ab 1978, hat einen so nachhaltigen Angriff auf die politische US-Kultur der Nixon-Ära geboten. Und was ist die Hauptbotschaft von „Harold and Maude“? „Jeder hat das Recht, sich zum Narren zu machen!“

Das könnte auch die Botschaft der neuen Clowns sein. Das sind hochgefährliche Leute! Sie gehen in eine McDonald's-Filiale, präsentieren auf einem Tablett lauter Mist und paradieren dann am Fressparadies: „Links, links, links: Bei McDonalds stinkt’s!“ Sie zeigen uns auch auf ganz neue Weise, wie sich ein gepanzerter Krieger eigentlich bewegt, welche Traurigkeit in ihm steckt und dass auch er nur ein Mensch ist wie Du und ich.

Wundern Sie sich, dass die Clowns eines der ersten Ziele der staatlichen Pressegerüchteküche geworden sind? Ätzende Chemikalien sollen in ihren Wasserpistolen gewesen sein. Man kennt solchen Horror ja aus einer Steven-King-Verfilmung. Und was kam am Ende raus? Lauter Seifenblasen …

In Wirklichkeit nämlich sind die Clowns sehr mitfühlend. Sie zeigten am großen Sicherheitszaun in regelrechten Sprechchören größte Besorgnis um die deutsche Bundeskanzlerin: „Lasst Angela Merkel frei!“

Clowns sind verwundbar und haben doch eine gewisse Unverwundbarkeit

Clowns kann man mit Hubschrauberlärm der Bundespolizei nicht mundtot machen, denn ihnen steht auch ohne Sprache noch ein grenzenloses Reservoir der Phantasie offen. Man kann sie ebenso wenig mit „nicht tödlichen“ neuen Waffen lahm legen, denn wenn die Zukunftswerkstätten der Massenkontrolle ihre nächste Rüstungsinnovation vorlegen, werden sie immer schon einen Schritt weiter sein. Und man kann sie letztlich auch nicht in Käfige einsperren oder töten, denn sie stehen für die Würde des Menschen, die sich vorzüglich in der Fähigkeit zum Lachen und zum Weinen erweist. Wer das Lachen eines Menschen erstickt, der tritt immer auch seine eigenen Würde mit Füßen. Dazu sollte niemand angestiftet werden. Wer einem Menschen ein Lächeln entlocken kann, ist längst schon im guten Leben angekommen.

Woher kommen die Clowns eigentlich? Das weiß keiner so genau. Sie kommen von überall her und von nirgendwo. Beim Protest gegen den militärischen Zapfenstreich in Düsseldorf-Benrath vom 13. Juni 2006 habe ich selbst zum ersten Mal zwei von ihnen hautnah gesehen. Sie kamen – noch vor der stundenlangen Einkesselung der gewaltfreien Versammlung – auf einmal auf den Platz. Keine von den an der Organisation beteiligten Gruppen wusste, wer sie waren.

Natürlich, die „Clowns Army“ kommt ursprünglich aus Großbritannien (was man zum Anlass für herzlichste Grüße in Richtung der großen Insel nehmen sollte). Da regnet es viel. Nun hat aber einer der englischen Clowns bei seinem europäischen Nachbarschaftsbesuch in Heiligendamm feststellen müssen, dass auch unser Wetter ziemlich widrig sein kann: „Es regnet immer in Deutschland!“ Zu sehen ist dies auf dem Videoclip „Die etwas andere Gipfel-Bilanz“ bei Spiegel-Online, der an dieser Stelle einmal nachdrücklich empfohlen sei.

Ganz sicher werde ich in nächster Zeit Beiträge, die so etwas wie eine politische „Kulturgeschichte des Narren“ in Aussicht stellen, besonders aufmerksam wahrnehmen. Wenn es einen Fotoband oder einen Dokumentarfilm zur „Clowns Army“ geben sollte, so wird außer einem solchen Werk auf meinem nächsten Weihnachtswunschzettel nichts anderes draufstehen. Und wenn Sie unbedingt eine unpolitische Erklärung für diese ganz und gar politische Liebeserklärung suchen wollen: Vielleicht hat ein süßer Clown den Verfasser ja in Rostock angelacht, und das geht ihm seither trotz aller schlechten Träume der vergangenen Woche nicht mehr aus dem Sinn ...

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