Produktivkraft Wut

Peter Sloterdijk liefert den passenden Begleitsound zum Politzirkus rund um Heiligendamm und zeigt, in welchen psychopolitischen Ernst Klamauk und Zerstreuungsverhältnisse verstrickt sind

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Vermummte Jugendliche, die in den Banlieues französischer Großstädte Autos der Nachbarn abfackeln; aufgebrachte Bauern, die Autobahnen mit Traktoren und Kuhmist blockieren; sonnenbebrillte Randalierer, die mit Pflastersteinen auf Polizisten zielen; bärtige Jungmänner, die mit Handys und Rucksackbomben Vorortzüge attackieren – die Beispiele ließen sich fortsetzen, trotzdem käme man immer wieder zum selben Ergebnis: Empörung und Wut über die ungerechten Lebensverhältnisse in der Welt wachsen und sind ebenso plötzlich wie zielgerichtet über den gesamten Erdball verbreitet.

We are the angry mob
We read the papers every day
We like who we like, we hate who we hate
But we’re also easily swayed.

Kaiser Chiefs

Der Anteil, den Massenmedien daran haben, ist nicht hoch genug zu veranschlagen. Spätestens seit den geschichtsträchtigen Vorkommnissen von 1968 sind sie immer mittendrin und dabei. Mit ihnen fing die neuzeitliche Aufmerksamkeitswirtschaft an. Die Rebellen von einst können für sich in Anspruch nehmen, dass sie die Erregungskultur der Medien entdeckt und kühl für ihre Zwecke eingespannt haben. Seitdem schreiben die Medien noch an jedem Politzirkus und Massenspektakel mit. Die Aussicht, den molekularen Bürgerkrieg in Echtzeit zu übertragen, „nötigt“ sie zur „heimliche Komplizenschaft“ mit Politikern, Wichtigtuern und Krawallmachern. Verschanzt hinter ihrer „Informationspflicht“ treiben sie mit eindringlichen Bildern und aufgeblasenen Kommentaren ihre Einschalt- und Verkaufsquoten steil nach oben.

Logik des Posthistoire

Zieht man „Zorn und Zeit“, Sloterdijks jüngsten und seit der „Kritik der zynischen Vernunft“ wohl besten „politisch-psychologischen Versuch“ zu Rate, dann ist das nicht weiter schlimm. Weltpolitisch und welthistorisch betrachtet handelt es sich bei all dem Radau und Politzirkus um zornfolkloristische Spaßsalven, die im Lichte allgegenwärtiger Kameras, Reporter und Mikrofone von den Losern der Globalisierung abgefeuert werden.

Die Geschichte, verstanden als blutiger Konflikt antagonistischer Kräfte, Werte und Ideologien, ist seit dem Fall der Mauer und dem Ende des Kommunismus passé. Das umstürzlerische Potential, das etwa Katholizismus, Sozialismus oder Faschismus noch in sich trugen, hat sich erschöpft. Es gibt keine „großen Erzählungen“ mehr, die überzeugen und der Revolution einen vitalen Platz im Weltgeschehen zuweisen. Der Kapitalismus hat auf ganzer Linie gesiegt, und mit ihm die liberale Demokratie. Damit schlägt sich der streitbare, und derzeit wohl bekannteste deutsche Philosoph auf die Seite Hegels, Kojèves und Fukuyamas.

Kapern Terroristen Flugzeuge, bringen Jugendliche Papiertonnen zum Explodieren oder machen Dschihadis in den Straßen Bagdads Jagd auf amerikanische GIs, so hat das vielleicht für die Betroffenen tödliche Konsequenzen. Für das liberale Weltsystem selbst sind solche Aktionen aber nicht mehr von welthistorischem Belang. Was sich noch ereignen wird, sind „Nachhutgefechte“, diverse Kämpfe zur Demokratie. Ob sie am Schluss freiheitlich, sozial alimentiert oder autoritär sein wird, ist dabei vollkommen egal. Die Weltgesellschaft ist die erste, welche die Geschichte hinter sich gelassen und im Posthistorie angekommen ist.

Tsunamis des Posthistoire

Was für die Dschihadisten gilt, gilt erst recht für jenen bunten Haufen, der in Seattle, Genua und Heiligendamm regelmäßig Station macht und die jeweils gastgebende Staatsmacht in Atem hält. Das Hauptproblem dieser Multikultitruppe ist, dass komplexe Zusammenhänge keinen guten Nährboden für politische Leidenschaften und kollektive Sammlungsbewegungen bieten.

Mit der räumlichen und kulturellen Entfernung nimmt die Solidarität mit fremden Völkern und Gemeinschaften nach und nach ab. Trotz Internet, Pop-Tourismus und weltumspannender Kommunikation ist eine emotionale Verbundenheit mit den Armen und Benachteiligten den hier Lebenden kaum zu vermitteln. Dem weltgeschichtlichen Projekt einer Revolution zugunsten aller Beleidigten und Zukurzgekommenen sind von daher „geografische“ Grenzen gesetzt. Wer in der Menge mitmarschiert, ist in aller Regel selten persönlich von den Missständen und dem sozialen Elend betroffen, das sie auf Plakaten und Transparenten unter Sambaklängen anprangern. Die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge, die auf G-8-Gipfeln verhandelt werden: Patentrechte und Erderwärmung, Aids und Entwicklungshilfe, aber auch die Kümmernisse, die die Protestierer umtreiben: Hedge Fonds, gerechte Löhne, Kinderarbeit, fairer Handel sind weder auf dem Feld noch mit Trillerpfeifen oder vom runden Tisch aus zu lösen.

Noch immer schöpfen Protestumzüge ihren Sinn aus jenem, scheinbar unausrottbaren Vorurteil, dass die Macht konkrete Namen und Adressen besitzt. Spätestens mit der weltweiten Vernetzung und Verdichtung von Waren, Daten und Kommunikationen hat sich das aber erledigt. Die flache Welt hat keinen geeigneten Ansprechpartner mehr. Märkte, Rechnernetze und Börsen nehmen ihre Kraft und Dynamik gerade aus ihrer Anonymität, Unverfügbarkeit und Neutralität. Sie haben die Rolle des „Weltgeistes“ eingenommen und geben sich zuweilen auch als „Weltgericht“. Weder können sie von einem Akteur getoppt noch können sie von einem solchen gekapert werden. Sie sind, wenn man so will, die Tsunamis der Weltgesellschaft, die jedes Ausruhen, bloßes Genießen oder jeden Stillstand mit Ausschluss oder Verbannung auf die hinteren Plätze bestrafen. Wer sich ihren Bedingungen nicht anpasst oder gegen ihre Regeln handelt, wird gnadenlos vom Markt gespült. Das gilt für die Mächtigen und Reichen ebenso wie für die Schwachen und Armen, für alle, die ihr Schicksal umkehren wollen ebenso wie für jene, die im Namen anderer marschieren.

Politästhetik des Posthistoire

Die Erwartung, dass sich diese Entwicklung vom Kabinettstisch aus gestalten oder dirigieren ließe, hat etwas Rührendes an sich. Erst recht die Vorstellung, dass man per Absprache die Erwärmung der Erde bis 2050 auf zwei Grad begrenzen könnte. Die Vergeblichkeit solchen Tuns zeigt schon die Tatsache, dass es den Meterologen bis heute nicht gelingt, das Wetter für die nächsten drei Tage exakt vorauszusagen.

Sicher kann die Politik mit klugen Beschlüssen wirtschaftliche Rahmenbedingungen verbessern, Sie kann Dynamiken auslösen, Geldströme umsteuern und Produktionszyklen hemmen. Doch wie sich ihre Entscheidungen auf Produktion und Nachfrage auswirken, welche Nebeneffekte sie möglicherweise zeitigen, bleibt stets ungewiss. Die Politik ist, wie jedes andere soziale Systeme auch, dem Spiel von Versuch und Irrtum unterworfen. Die G-8, die OPEC oder eine angeträumte Weltregierung machen da keine Ausnahme. Wie mächtig die Nation oder Organisation auch immer ist, letztlich ist auch sie nur Akteur in einem Marktgeschehen, das sich seine Waren, Produzenten, Stützpunkte und Profite selbst sucht.

Das weiß auch Ulrich Beck, Galionsfigur einer Globalisierung mit menschlichem Antlitz:

Wir suchen das Politische bei den falschen Personen. Diejenigen, die wir gewählt haben, sitzen machtlos auf der Zuschauertribüne, während die, die wir nicht gewählt haben, Schlüsselentscheidungen treffen, die unser Leben bestimmen.

Die Reichen zittern

Vielleicht ist das auch der tiefere Grund, warum sich Krawallmacher und Protestumzügler mit Maske, Schminke und Mimikry drapieren und sich neuerdings wieder zum Clownesken und Karnevalsken hingezogen fühlen (Clowns machen neue Hippies, "Jeder hat das Recht, ein Clown zu sein").

Und weil das der aufgeklärte Protestierer weiß, handelt er nur noch „als ob“. Statt zu kämpfen, will er nur noch „ein Zeichen setzen“; und weil er sich schuldig fühlt, wenn ein Pflasterstein fliegt, trifft er mit Polizei und Behörden klare Absprachen, wie der Protestzug zu verlaufen hat, damit der Medientross ungestört darüber berichten kann. Ihnen geht es vor allem darum, dass bunte und jugendbewegte Bilder um die Welt gehen, die vom friedlichen Protest künden. So ein Sprecher der „Gipfelstürmer“ im deutschen Fernsehen.

Man geht gewiss nicht fehl in der Annahme, darin jenen berühmten „Sonntagsspaziergang“ zu erblicken, den Hegel nach Abschluss der Geschichte zur Alltagsform und zum Lebensinhalt aller erkoren hat. Ob der in Form von Klamauk, in Maskerade oder mit Ranadale stattfindet, bleibt letztlich unerheblich. Hätten sich die Flickschuster, Kesselflicker und Marktweiber vom Montmartre auch so verhalten und Absprachen mit Ludwig XVI. und seiner Entourage getroffen, hätte die Erstürmung der Bastille nie stattgefunden, und Hegel hätte den Champagner, den er sich alljährlich zur Feier des Jahrestages der französischen Revolution genehmigt hat, nicht genießen können.

Liebesentzug im Posthistorie

Gleichwohl macht der Radau auch Sinn, zumal er einer gewissen Logik folgt. Jeder Umzügler und Campbewohner ist sich bewusst, dass die vitalen Interessen unter „Verlierern“ höchst vielschichtig verteilt sind. Bei Lichte besehen konfligieren sie sogar. Einerseits geht es den Marschierern, materiell gesehen, erstaunlich gut. Folgt man Untersuchungen, so steigt die Neigung zum Protest mit Bildungsgrad und sozialem Status. Obdachlose oder Hartz IV-Empfänger findet man eher selten unter ihnen. Als Nonkonsumisten verfechten sie immaterielle Werte und gehen vor allem für mehr Bildung und Kultur auf die Straße.

Dabei findet der eigentliche Widerstand, wie wiederum Ulrich Beck weiß, nicht auf öffentlichen Plätzen oder an der Wahlurne statt, sondern im Supermarkt mit Einkaufswagen oder Einkaufstüte. An der Kasse stimmt der ungehörige Konsument heute über das Wohl und Weh von Unternehmen und Produkten ab. Subpolitik, oder Globalisierung von unten, nennt sich, was Herbert Marcuse dereinst als „große Weigerung“ verkauft hat. Durch moralisch korrekten Kauf entscheidet der Konsument in souveräner Eigenregie, welche Güter produziert werden und welche nicht (Souveräne Konsumenten).

Gleichwohl weiß der G-8-Gipfelstürmer aber auch, dass die enge Verbundenheit des bretonischen Landwirts mit dem Reisbauern in Bangladesh eine konstruierte ist. Dass die EU ihre Subventionspolitik fortsetzt, hohe Einfuhrzölle auf Agrarprodukte erhebt und sie dadurch unverkäuflich macht; oder dass die EU ihre Außengrenzen mit Zäunen, Stacheldraht und Infrarotmelder sichert, um den ungezügelten Zuzug von Asylanten und Armutsflüchtlingen zu unterbinden, ist durchaus im Interesse des Lombarden, Niederbayern oder Katalanen. Bei Meinungsumfragen mag es zwar eine Bereitschaft für eine unmittelbare Verbesserung der Lebensverhältnisse in Asien, Afrika oder Lateinamerika geben; sie werden auch, sollten sie „Christenmenschen“ sein, den Luxus der Reichen auf Kosten der Armen anprangern und für einen fairen Welthandel plädieren; steht aber der eigene Arbeitsplatz zur Disposition, die Pendlerpauschale oder die Erhöhung der Praxisgebühr, werden sie sich kaum noch dafür begeistern. Dann ist ihnen das eigene Hemd näher als der afrikanische Rock.

Die Vorgeschichte

Das war, wie wir wissen, in der Geschichte nicht immer so. Bis der menschliche Geist das ferne Grollen und Donnern der Schlacht von Jena vernommen und darin das Ende der Geschichte erblickt hat, waren unzählige Schlachten und Blutopfer „nötig“. Angetrieben wurden sie von mächtigen Affekten, Energien und Leidenschaften, die Hegel „Begierde“ und Lacan „désir“ nannten und bei Sloterdijk nun den Begriff des „Zorns“ erhalten. Nach seiner Lesart ist der Zorn der „unheimlichste und menschlichste der Affekte“. In einem dreihundertfünzigseitigen Anlauf versucht er den Strukturwandel des Zorns in der Zeit nachzuzeichnen und ihr politisches Potential für die Gegenwart und Zukunft auszuloten.

Starten lässt er sein Schicksal mit jenem Mythos, den Homer zu Beginn der Illias über Achill verbreitet: „Den Zorne besinge, Göttin, des Achilles, des Peleussohns“, heißt es da an prominenter Stelle. Ist er in Aufwallung, duldet er weder Aufschub noch Verzögerung. Die erfüllte Gegenwart, die sein „unheilbringender Zorn“ bringt, stieß, wie Homer erzählt, „viele stattliche Seelen zum Hades hinab“.

Darum steht am Anfang aller westlichen Geschichte auch der Logos. Er, das Wort, ist immer schon mit dem „Zorn“ des Helden getränkt, nicht mit Vernunft, wie Papst Benedikt XVI. meint. Der Furor, den die Griechen „thymos“ nannten, ist die heroische Energie eines Kriegers, dessen Stolz, Ehre und Ruhm auf dem Spiel steht. Aus ihr ist, nach althellenistischem Verständnis, die Welt gebaut. Dieser Thymos, der jedem Kalkül vorausgeht und kulturbildend wirkt, missachtet die „Integrität des Opfers“ und feiert all jene Mächte, die Schaden anrichten.

Der Wille bleibt

Alle folgenden Prestigekämpfe, über die Hegel seine Leser und Bewunderer philosophisch belehrt, legen eindrucksvoll Zeugnis von seiner gewaltigen Kraft ab. Doch mit der moralischen Heraufkunft des Sklaven (Nietzsche) geht das Thymotische, der Konnex von Krieg und Stolz, verloren. Überlebt hat nur der domestizierte Teil, Nietzsches „Macht zum Willen“, der sich in der Gier nach Objekten, Profiten und Rachegefühlen äußert; abgewertet, verworfen und sublimiert wird der „Wille zur Macht“, jener eigensinnige, idealistische Teil der Libido, der kriegerische Energien freisetzt, nach Gerechtigkeit verlangt und Würde und Ehre einfordert. Getreu dieser Deutung könnte man die amerikanischen Neokonservativen als die letzten echten Revolutionäre bezeichnen, die aus idealistischen Gründen: Regime Change und Demokratieexport den moralischen Kampf suchen.

Schuld an der „Umperspektivierung“ sind Sophisten, Juden, Christen und Psychoanalytiker. Mit ihrer Hilfe übertrumpfen die Schwachen die Starken, siegen die reaktiv-lebensverneinenden über die aktiv-lebensbejahenden Kräfte; aber nicht nur, weil sie den Zorn „unvernünftig“ und „widernatürlich“ heißen, sondern auch, weil durch sie auch das Ressentiment in die Welt kommt, der Hass und der Groll auf jenen Souverän, der nach selbstgesetzten Werten und Idealen lebt. Unterliegen Ehre, Achtung und Stolz moralischen Vorbehalten und psychologischen Erkenntnissen, sieht sich der Herr in Anerkennungskämpfe verwickelt, in dem er die Leistungskraft seiner Werte testen und beweisen muss.

Doch genau dort, auf moralischem Gebiet, ist der Herr chancenlos. Da, wo seine Werte für sündig oder egoistisch gelten, wo Schuld und „schlechtes Gewissen“ herrschen und das „asketische Ideal“ als Wert an sich gefeiert wird, erzeugen Demütigung und soziale Erniedrigung Zorn und Wut. Kein Wunder, dass mit dem Sieg des Knechts der Hass zunimmt und auf Beleidigungen mit emotionalen Ausrastern reagiert wird, die sich gegen den eigenen Körper wenden oder Rachegefühle gegen andere auslösen. Das Begehren nach Spiegelung, nach Bestätigung und Bewunderung durch ein minderes Objekt oder einen „minderwertigen“ Geist, erweist sich als Falle für den souveränen Herrn. Aus dem moralischen Prestigekampf ist der Knecht und Sklave als Sieger hervorgegangen. Und mit ihm eine Kultur des Selbstmitleids und der verletzten Eitelkeit, kurz: des Ressentiments, das nach individuellen und kollektiven Ausdrucksformen sucht.

Politische Zornsammelstellen

Diesem Urdrama narzisstischer Kränkung verdanken wir mehr oder weniger die Geburt aller Ideologien, vom Juden- und Christentum über den Sozialismus bis hin zum Faschismus. Ausgiebig Kraft verwendet der Philosoph darauf, ihr politisches Potential zu erkunden und literarisch auszuschlachten. Bisweilen liest sich das äußerst spannend und gehaltvoll, vor allem im Blick auf den zornigen Christengott; etwas zäh und langatmig wird es, wenn er den Kommunismus ins Auge fasst. Vor allem hier denkt der Philosoph allzu „mechanistisch“. Dieser Abschnitt gehört auch zu den weniger gelungenen Passagen.

Der Stimmigkeit der Argumentation insgesamt tut das aber keinen Abbruch. Laut Sloterdijk ist es monotheistischer Religion und Kommunismus gelungen, die frei flottierenden Zornenergien aufzusammeln, zu speichern und ideell aufzuladen. Ein Blutbad nach dem anderen ist seitdem die Folge. Erst die bürgerliche Revolution, und in ihrem Gefolge Napoleon, Hitler und Stalin, haben allen Anerkennungskriegen ein Ende gesetzt. Ihr Sieg hat dazu geführt, dass moderierende Instanzen wie Parlamente, Gerichte oder öffentliche Debatten gegriffen und Macht über die gewaltigen Racheenergien und Ausrottungswünsche haben gewinnen können. Seitdem sie die politischen Leidenschaften zügeln und die liberale Gesellschaft sie mit Marken, Namen und Waren umsorgt, ist es auch zu keiner nennenswerten kollektiven Sammlungsbewegung mehr gekommen.

Unfähig zu Kampf und Blutopfer

Auch das hat seinen tieferen gesellschaftlichen Grund. Nach der Erfahrung zweier blutiger Weltkriege ist Europa zu Menschen verbrauchenden Kampfeinsätzen nicht mehr fähig. Stattdessen schreitet die Umerziehung des Herrn weiter voran. Indem sie den soldatischen Heroismus marginalisiert, von einzelnen Ausnahmen mal abgesehen (Vale tudo), fördert die westliche Kultur den friedlich-geselligen Charakter pädagogisch. Das geht soweit, dass die Bundeswehr zwar die Freiheit Deutschlands am Hindukusch verteidigt, dafür aber keine Blutopfer bringen will. Während die Taliban nach Afghanistan zurückkehren und im Süden des Landes ein blutiger Abnützungskrieg tobt, sitzen die deutschen Krieger in ihren Festungen im Norden und drehen Däumchen.

Indes oder gottlob hat „der Westen“ mit dem Sport, aber auch der Massen- und Popkultur passende Instrumente gefunden, sein thymotisches Potential jungkonservativ abzufedern. Stil- und Pop-Ikonen wie Marylin Manson und Curt Cobain, Britney Spears oder Dieter Bohlen sind Typen, die den rächerischen Abdrift des Thymos binden und in kulturell und ästhetisch erträgliche Formen leiten. Vermutlich speist sich daraus auch die große Popularität von Web 2.0. Der Netz- und Medienkultur gelingt, wovon der Internationalismus stets nur träumt, das Haben-Wollen in ein Sein-Wollen zu verwandeln.

Hinzu kommt, dass das knechtische Bewusstsein längst unter anderer Maskerade auftritt, als Erzieher, Feminstin oder Universalist. Mit dem Moralismus der Gleichberechtigung, der Toleranz oder des öffentlichen Dialogs im Gepäck sorgen sie dafür, dass aus dem virilen und starken Willen ein femininer und verweichlichter Wille wird, der jeder physischen Auseinandersetzung tunlichst aus dem Wege geht. Stattdessen wartet er, von Einzelfällen abgesehen (Ein echter Loser; Schwarze Löcher), unglücklich, aber demütig darauf, von der paternalistischen Gesellschaft alimentiert (Grundeinkommen, Hartz IV) zu werden. Wo sich die Gesellschaft das aufgrund mangelnder Produktivität nicht leisten kann oder will, ist er gezwungen, sich das Vorenthaltene auf illegale Weise zu besorgen, durch Diebstahl, Anschläge oder Bandenbildung, worauf die Eliten mit Kasernierung und Einzäunung, privaten Schutztrupps und Hubschraubertransfers reagieren.

Postpolitische Konstellation

Dies ist die postpolitische, postkommunistische Situation, unsere condition postmoderne. Wer zu ihr keine Alternative mehr entwickeln kann oder eine bessere Vision weiß, glaubt nicht mehr an den Umsturz. „Wir sind“, schreibt Sloterdijk, „in eine Ära ohne Zornsammelstellen mit Weltperspektive eingetreten […]. Die Empörung hat keine Weltidee mehr vorzuweisen.“ Spaßguerilla, spektakuläres Politkabarett von Greenpeace und diverse runde Tische künden vom Verlust dieses Horizonts. Was sie jenseits aller Gegensätze eint, ist die Suche nach der „Weltformel des Ausgleichs“, einer, die zwischen Alt und Jung, Reich und Arm, Stark und Schwach vermittelt.

Doch schon die Pflastersteine des „Schwarzen Blocks“, die Knüppel und Wasserwerfer der Staatsmacht signalisieren, dass die nachrevolutionäre Zeit keine unblutige sein wird. Im Gegenteil, da die Pazifizierung durch das demokratische Gemeinwesen formal-abstrakt bleibt, Konsumismus auf Dauer (Bin Ladin in Nike-Schuhen) unbefriedigend wirkt und das Überschüssige, das Bataille „das Souveräne“ und Kant „Enthusiasmus“ nennt, keinen adäquaten Ausdruck findet, wird der Thymos (in seiner säkularen Form) virulent bleiben. Neid, Missgunst und Hass auf „die da oben“ werden weiter gedeihen und asymmetrische Kleinkriege auslösen.

Die spannende Frage wird sein, ob sich daraus eine ernstzunehmende Bedrohung für die Weltgesellschaft oder das „Empire“, wie manche sagen, ergeben wird. Kann sich der radikale Islamismus zu einer alternativen „Zornsammelstelle“ entwickeln und die liberale Demokratie herausfordern? Trotz seiner Missionsdynamik, die Sloterdijk ihm zugesteht, trotz der Freund-Feind Konstellation, die ihm eigen ist, und trotz des Jungmännerüberschusses, den der Islam produziert, hält der Philosoph das für „illusorisch“. Weder ist das Spektakel des Terrorismus ein Zeichen für die „Wiederkehr der Geschichte“ noch wird der Islamismus jemals in die Fußstapfen des Kommunismus treten. Islamisten sind, und darin ist sich Sloterdijk mit Hans Magnus Enzensberger einig, Akteure, die regional begrenzt operieren. Weil sie nicht aus dem Herzen der Modernisierung kommen, eine rückständige Kultur verfolgen, können sie der Moderne auch keine bessere versprechen.

Weltgeschichtlicher Herausforderer

Zumindest an dieser Stelle bleiben erhebliche Zweifel. Gerade der Islamismus scheint mir ein besonders gutes Beispiel für „gelungene Verwestlichung“ zu sein. Seine Radikalisierung hat er vor allem in der Konfrontation mit den materialistischen, moralisch verkommenen und, demzufolge, degenerierten Gesellschaften des Westens erfahren, nicht in den Heimatstaaten. Dekulturation und Deterritorialisierung heißen dafür die Stichwörter. Das stetige Bemühen des Islamismus, Gesellschaften zu „re-islamisieren“, ist eine zutiefst modernistische Ideologie, die sich erst im Zuge der Globalisierung von Migration, freiem Markt und Zugang zu Bildungssystemen entwickelt hat. Wie die Attentate in den Metropolen des Westens gezeigt haben, entzünden sich die Konflikte weniger zwischen westlicher und islamischer Kultur als vielmehr innerkulturell, zwischen angepasster und traditioneller Kultur.

Sloterdijks höchst einseitiges und simplifizierendes Verständnis von Modernisierung überrascht, vor allem, weil er die Dialektik der Aufklärung aus der Westentasche kennt. Darüber hinaus erweckt er den Eindruck, als ob er dem historischen Weltbild der Linearität folgt, das, postmoderner Lesart zufolge, kollabiert ist. Er täuscht sich, wenn er die politische Theologie des radikalen Islamismus für „das erste Beispiel einer puren rächerischen Ideologie“ hält, „die nur strafen kann, aber nichts hervorbringt.“ Hätte er sich eingehender mit den Schriften der islamistischen Führer befasst, würde er vermutlich vorsichtiger formulieren. Dann müsste er sich zumindest die Frage stellen, ob sich nicht im Islamismus der „thymotische Charakter“ in seiner ursprünglichen Form erhalten hat.

Das Ressentiment, das der Philosoph allen Islamisten unterstellt, könnte sich als sein eigenes herausstellen. Was er für domestiziert hält, aber irgendwie auch sehr betrauert: Heldentum, soldatische Tugenden und viriler Charakter; ein Werte- und Ehrenkodex, der Feigheit und Geiz ausschließt, aber spirituelle Werte wie Großmut und Rechtschaffenheit lehrt; ein Internationalismus mit leninistischer Vorhut, die die Umma (Gemeinschaft der Muslime) führen und den Märtyrertod als sozialen Prestigekampf um Leben und Tod fordert (You love life, we love death) – all das ist im radikalen Islamismus präsent. Anders als im Westen funktionieren hier noch der „symbolische Tausch“ (Jean Baudrillard), „Selbstvergeudung und Selbstverschwendung“ (Georges Bataille).

Stellt man dies in Rechnung, könnte es durchaus sein, dass ein „Gottesstaat“, der auf dem „Kalifat“ und dem islamischen Recht beruht, für die arabischen Völker eine echte Alternative zu westlichen Herrschaftsformen darstellt. Kommt eine solche Macht auch noch in den Besitz von Massenvernichtungswaffen, wie Pakistan oder eventuell bald auch der Iran, gibt es auch ein echtes Drohpotential, das dem Westen Paroli bieten kann. Als Modell könnte es auf kulturell verwandte Staaten und Nationen politisch anziehend wirken.

Unerschöpfliche Reservoirs

Dazu passt, dass die demografische Dynamik der nächsten Jahrzehnte dem weiter Vorschub leisten wird. Der Islamismus wird, darauf weist der Demograf Gunnar Heinssohn hin, auf ein unerschöpfliches Reservoir an Kämpfern zurückgreifen können. Allein in den letzten hundert Jahren hat die islamische Welt von 150 Millionen auf 1,2 Milliarden zugenommen. In knapp zehn Jahren, so die Schätzungen, wird der Islam ein Viertel der Menschheit umfassen.

Ihr Kampf hat weder mit Armut noch mit schwarzer Romantik oder nihilistischer Gesinnung zu tun. „Getötet wird für Status und Macht“. Besser als der Demograf kann man die Inbrunst des Thymos nicht reformulieren. Auf den Jungmännerüberschuss, der höchstens durch Selbstvernichtung, aber nicht mit Jobs und Arbeitsplätzen gebannt werden kann, stellen sich andere Völker und Staaten, namentlich die USA, bereits aktiv ein. Samuel Huntington hat in einem Beitrag für das Davos-Forum 2002 die kommenden Jahre als das Zeitalter der muslimischen Kriege bezeichnet. Wegen ihres eigenen Geburtenrückgangs fürchtet die Weltmacht bereits, bald nicht mehr genügend Leute für den urbanen Häuserkampf oder andere nichtzivile Einsätze zur Verfügung zu haben. (Toward Post-Heroic Warfare). Durch Computertechnik, Robotik und letales Hightech allein wird sie die fehlende Jungmännerschar nicht kompensieren können.

Die „Bevölkerungswaffe“, darauf weist Heinssohn nachdrücklich hin, wurde im Laufe der Jahrhunderte schon häufig erfolgreich eingesetzt. Jungmännerüberschüsse korrelieren „mit Bürgerkriegen, Genoziden und Terror“. Wo Jungmänner überzählig waren, kam es „so gut wie immer zu blutigen Expansionen sowie zur Schaffung und Zerstörung von Reichen.“ Zuletzt konnte man das im irakisch-iranischen Krieg vor fünfundzwanzig Jahren beobachten, sodass Sloterdijks Hoffnung nicht ganz unberechtigt ist, dass sich der Youth Bulge wegen nicht vorhandener Wissenschaftskulturen und fehlender Auswanderungschancen, vorwiegend gegen die islamischen Staaten selbst wenden wird.

Von Zwergen und Schlümpfen

Trotz abfälliger Urteile über den Islamismus und trotz aller Spötteleien über die Zornbanken der Neuzeit, kann Sloterdijk seine ambivalenten Gefühle nicht verbergen, die er gegenüber der Modernisierung hat. Die Sehnsucht nach Ausgleich, nach mittig sein, heißt für ihn auch: Zerstreuung der Leidenschaften, Verflachung von Politik, Kultur und Bildung und, vor allem, „Hineingehaltensein in die Mittel-Mäßigkeit“ (Martin Heidegger). Der Massenkonsum hat die Menschen zu stumpfen Erotikern geschrumpft. Über die grenzenlose Gier nach Objekten sind alle „stolzhaften Gefühle“ abhanden gekommen. Statt Selbstachtung, Beherztheit und Größe dominieren Selbstmitleid, Neid und Missgunst. Speerspitze dieses „Fellachentums“ (Oswald Spengler) ist die Massen-, Medien- und Popkultur. Indem sie jedes Kampfgefühl für Würde, Ehre und Stolz ästhetisch abfedert, erstickt der Thymos im Leblosen des Immergleichen.

Bei der Vorstellung seines Buches im „Münchner Literaturhaus“ Anfang des Jahres prangerte er unsere „Lebensform“ an, die „idealistische Gefühle“ nicht mehr transportieren kann und will. Darum habe er Heimweh nach einem „größerformatigen Menschen“, nach sogenannten „Nichtschlümpfen“. Der Philosoph outete sich hier als Bildungselitist, der auf öffentlicher Rampe steht, über die Geschmack- und Niveaulosigkeit seiner Zeit lästert und die „Memmenhaftigkeit“ des Westens im Umgang mit dem Islam geißelt.

So schelmisch er seinem alten Vorbild, dem Kyniker Diogenes, auch nacheifert, so diffus und widersprüchlich bleiben die Parteinahme für das Aristokratische und die Kritik am Islam. Alles, wofür er die Kultur des Westens geißelt: Femininisierung von Öffentlichkeit und Kultur, Vorrang der Demokratie vor der Begabung, Verdunstung jeglichen Kampfgefühls, Menschenverkleinerungspolitik – all das findet in der Kultur des Islams Gehör oder wird dort revidiert. Es ist der Islam, der Idealismus und Thymos bewahrt, und dem Materialismus des Westens feindlich gegenübersteht. Und genau da entzünden sich auch die Konflikte.

Die Größe Amerikas

Bei der Suche nach einer thymotischen Form des Gebens und Nehmens wird Sloterdijk am Ende doch noch fündig. Er findet sie ausgerechnet in den USA, dem Erzfeind aller Hochkultur. Ich habe schon mal kurz darauf hingewiesen. Sieht man sich neben dem amerikanischen Neokonservatismus auch die Sponsorentätigkeit mancher amerikanischer Superreicher an, von Paul Getty, Bill Gates und anderen, dann kündigt sich hier ein Wirtschaftsleben an, das wieder mehr dem Verlangen nach Anerkennung, Größe und Selbstachtung folgt als dem Begehren nach Objekten und Profiten und der Einvernahme.

Reichtum wird hier aristokratisch, selbstbejahend und souverän gedeutet. Es wird gegeben ohne Gegengabe und Äquivalententausch. Der Schuldenerlass, den die reichen Staaten vor ein paar Jahren den Ärmsten der Armen – teilweise - gewährt haben, ist von ähnlicher Qualität. Mit Umverteilung hat diese Geben nichts zu tun, es ist eine Art Vorschein auf eine künftige „Allgemeine Ökonomie“ (Georges Bataille), die im radikalen Widerspruch zum Kapitalismus steht und sein Vorbild in den Selbstvergeudungsorgien des Potlatch besitzt.

Sloterdijk ist aber zu sehr Platoniker, europäischer Linker und Amerikafeind, als dass er sich dafür groß begeistern könnte. Lieber nimmt er es der Massendemokratie höchst übel, dass sie Ausnahme und Hochkultur missachtet, den Kleinbürger, Spießer und das Ressentiment fördert (Spießig ist immer scheiße) und dadurch den psycho-politischen Zerstreuungsverhältnissen Vorschub leistet. Gleichwohl will er auf den Schutz und die Sicherheit, die der bürgerlichen Staat garantiert, aber auch nicht verzichten. Den Hobbesschen Vertrag, der sein Häuschen am Fuße des Mont Ventoux vor dem physischen Zugriff aller Erniedrigten, Missgelaunten und Gedemütigten schützt und ihm ein sorgenfreiens Auskommen garantiert, will er nicht ohne Not aufkündigen. So bleibt ihm, dem Elitisten, nur die Hoffnung, dass die „Vernünftigen“ siegen, ein Gleichgewicht zwischen „Kraft-Kraft-Beziehungen“ jenseits des Ressentiments gelingen möge und der „Kampf der Kulturen“ ein kalter bleiben wird.

Literatur

  1. Peter Sloterdijk, Zorn und Wut. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt: Suhrkamp 2006, 356 Seiten, 22.80 €
  2. Gunnar Heinssohn, Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen, Zürich: Orell Füssli 2006, 9. Auflage, 189 Seiten, 24 €. Al-Qaida. Texte des Terrors, hrsg. von Gilles Kepel und Jean-Pierre Milelli, München: Piper 2006, 515 Seiten, 24.90 €.
  3. Olivier Roy, Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisieruung, München: Pantheon 2006, 350 Seiten, 12.90 €.