Ein pädagogisches Armutszeugnis?

In Nordrhein-Westfalen sind beim ersten Sprachtest für Vierjährige 95.000 von 145.000 Kindern durchgefallen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sieht die Verantwortung für das ernüchternde Ergebnis vor allem auf Seiten der Prüfer

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„Sprache ist der Schlüssel für Bildung“, sagt Lilian Fried, die an der Universität Dortmund einen Lehrstuhl für die Pädagogik der frühen Kindheit bekleidet. Mit dieser Einschätzung steht die Hochschulprofessorin nicht alleine, und so wird landauf landab versucht, Kinder möglichst früh mit grundlegenden Sprachkompetenzen vertraut zu machen. In Berlin läuft im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung eine Sprachstandsfeststellung Deutsch Plus, Hessen hat ein Kindergartenprojekt für Migrantenkinder initiiert, das den eigenwilligen, aber für den Einflussbereich von Ministerpräsident Roland Koch (CDU) nicht wirklich ungewöhnlichen Titel Deutschlernen mit Ali trägt, und Bayern verstärkt seine Integrationsbemühungen in der Weise, dass ausländische Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse schlichtweg nicht mehr eingeschult werden.

Nordrhein-Westfalen hat sich an die Spitze der Sprachstandsfeststellungen gesetzt und oben genannte Lilian Fried beauftragt, ein landesweites Testprogramm zu entwickeln, das unter dem Namen Delfin 4 bekannt geworden ist. Das Kürzel steht für „Diagnostik, Elternarbeit und Förderung der Sprachkompetenz 4-Jähriger in NRW“ und wurde im März 2007 erstmals von der Theorie in die Praxis umgesetzt. Mit ernüchterndem Ergebnis, wie man jetzt weiß, denn von den 145.000 Kindern, die zum Sprachtest zitiert wurden, erfüllten 95.000 die Anforderungen nicht. Schulministerin Barbara Sommer fand für den ungewöhnlichen Befund zwar eine lapidare Erklärung:

Viele Lehrkräfte und Erzieherinnen waren offensichtlich der Überzeugung, dass es im Zweifelsfall besser sei, noch einmal genauer hinzuschauen. Das erklärt die relativ hohe Zahl der Kinder, die zur zweiten Stufe eingeladen wurde.

Barbara Sommer

Doch die öffentliche Diskussion lässt sich damit nicht beschließen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat das gesamte Verfahren schon im Vorfeld scharf kritisiert. Telepolis sprach mit Bernhard Eibeck, dem Referenten für Jugendhilfe und Sozialarbeit beim GEW-Hauptvorstand, über die Defizite von Delfin 4 und die grundsätzlichen Probleme mit vergleichbaren Testverfahren und Bildungsprogrammen.

"Wenn Kinder so eingeschüchtert sind, dass sie alles Vorgesagte bereitwillig und ohne Abstriche wiedergeben, ist das vielleicht kein gutes Zeichen"

Delfin 4 beginnt mit einem Brettspiel, das den Titel „Besuch im Zoo“ trägt. Mit von der Partie sind vier Kinder an den vier Seiten eines Tisches, eine „Begleitung“ und ein „Protokollant“, bei denen es sich um Lehrer und Erzieher handelt. Auf dem Weg durch den Zoo müssen die Kinder nun Nachsprechaufgaben bewältigen, die mit Punkten bewertet werden. Was gefällt ihnen an dieser Versuchsanordnung nicht?

Bernhard Eibeck: Wir müssen uns erst einmal fragen, was man damit erreichen will, vierjährige Kinder einem solchen Testverfahren zu unterziehen? Von Seiten der Politik ging es darum, Kinder – und zwar alle Kinder und nicht nur diejenigen von Migranten oder ausländischen Mitbürgern - so früh wie möglich für Sprache zu sensibilisieren und ihre diesbezüglichen Fähigkeiten schrittweise zu fördern. Dieses Vorhaben findet unsere volle Zustimmung, denn wir denken ebenfalls, dass der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule schon zu spät kommt, um in diesem Bereich aktiv zu werden.

Mit dem in Nordrhein-Westfalen angewandten Sprachtest ist das Projekt allerdings gründlich missraten. Es hat überhaupt keinen Sinn, alle Kinder nach standardisierten Formeln, obendrein landesweit und dann auch noch zum gleichen Zeitpunkt über einen Kamm zu scheren. Es muss vielmehr darum gehen, die Freude an der Kommunikation, am spielerischen Umgang mit Worten, Assoziationen und Gedankenketten zu fördern. Frau Professor Fried, die Delfin entwickelt hat, hat zu diesem Thema übrigens selbst hervorragende wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht und ausführlich erläutert, wie Wissenslandschaften genutzt werden können, um sprachliche Fähigkeiten in kommunikativen Zusammenhängen zu entfalten. Delfin 4 macht nun aber das genaue Gegenteil. Hier sollen Kinder möglichst exakt, möglichst genau, in grammatikalisch elaborierter Form das nachsprechen, was ihnen von den Testern vorgesagt wird.

Sie bemängeln, dass zwischen den Kindern und Pädagogen keine freie Kommunikation möglich ist. Es wirkt tatsächlich etwas seltsam, wenn die Kleinen – streng nach Testordnung und unabhängig vom Ergebnis – mit immer gleichen Kommentaren wie „Das hast du gut gemacht“ oder „Mach einfach weiter so“ abgespeist werden.

Bernhard Eibeck: Und wenn sie nicht die Möglichkeit bekommen, nachzufragen oder sich selbst zu korrigieren. Ich finde das wirklich erschreckend und frage mich ganz ernsthaft, welcher pädagogische Geist denn da weht. Es kann doch nicht unser Ziel sein, Kinder, die um Hilfe und Unterstützung bitten, zurückzuweisen und einfach zur nächsten Frage überzugehen.

Sie behaupten, Delfin 4 dauere zu lange und enge die Phantasie der Kinder ein, statt ihr Raum zur Entfaltung zu lassen. Würden Sie diese Einschätzung näher begründen?

Bernhard Eibeck: Der ganze Test sollte 20 bis 25 Minuten dauern, hat sich in der Praxis aber des öfteren über die doppelte Länge erstreckt. Natürlich können Kinder über eine solche Zeitspanne miteinander reden, das ist überhaupt kein Problem. Aber hier reden sie ja nicht, sondern müssen die meiste Zeit still sein, weil ihre Nachbarn an der Reihe sind. Eigentlich ist das kein Sprachtest, sondern ein Schweigetest.

Zur zweiten Frage: Nehmen Sie mal den Satz „Anna schießt einen Ball kräftig auf das Tor“. Selbstverständlich gibt es Kinder, die ihn ganz exakt nachsprechen können, aber eines denkt vielleicht gerade daran, wie es selbst gestern Ball gespielt hat, was dabei passiert ist, wen es getroffen hat und würde furchtbar gerne davon erzählen. Das ist aber strikt verboten. Es geht nur um die exakte Wiedergabe des vorgegebenen Satzes. Schon die Formulierung „Anna schießt einen Ball kräftig aufs Tor“ führt zu Punktabzügen.

Ein Satz, den die Vierjährigen nachsprechen sollen, erschließt sich auch Vierzigjährigen nicht auf Anhieb. Was hat es eigentlich mit dem grünen Stuhl auf sich, der fröhlich über die kalte Sonne hüpft?

Bernhard Eibeck: Das sind sinnfreie Phantasiesätze, die im Test eine Rolle spielen, um herauszufinden, ob Kinder silbengenau zuhören, grammatikalische Strukturen erkennen und das Gehörte wiedergeben können. Sicher gibt es eine Fülle – vorwiegend linguistischer – Überlegungen, die man hier in Betracht ziehen kann. Ich finde allerdings, das Ganze ist mehr ein Fall für die Erwachsenenpsychiatrie.

Eine Kollegin hat mir neulich gesagt, wir sollten uns viel mehr Sorgen über die Kinder machen, die den Test bestanden haben. Wenn sie so eingeschüchtert sind, dass sie alles Vorgesagte bereitwillig und ohne Abstriche wiedergeben, ist das vielleicht kein gutes Zeichen. Meiner Meinung nach ist mit den Entwicklern von Delfin 4 der wissenschaftliche Ehrgeiz durchgegangen – eine individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes nach seinen ganz eigenen Bedürfnissen wird so jedenfalls sicher nicht möglich sein.

Insgesamt drängt sich Einruck auf, dass die Kriterien für Leistungsförderung, über die derzeit in der Hochschuldebatte gestritten wird, hier schon im Kindergarten erprobt worden sind.

Bernhard Eibeck: Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel: „Die Decke wird von Tim ordentlich gefaltet.“ Dieser Satz soll nachgesprochen werden, aber er vermittelt ja eben nicht nur sprachliche Strukturen, sondern auch eine Botschaft, Erwartungshaltung oder Aufforderung, die das Kind vielleicht aus dem täglichen Leben kennt und so oder so ähnlich schon einmal gehört hat. Wenn es nun den Sachverhalt richtig erfasst und sagt: „Tim faltet die Decke ordentlich“, einen Satz, gegen den übrigens sprachlich nicht das Geringste einzuwenden ist, drohen schon wieder Punktabzüge.

Das Testverfahren ist von der nordrhein-westfälischen Landesregierung als Durchbruch im Bereich der frühkindlichen Bildung annonciert worden. War es nicht wenigstens einen Pilotversuch wert, und was sollte denn in Zukunft geändert werden?

Bernhard Eibeck: Die GEW kann nun auch keinen neuen Test aus dem Ärmel schütteln. Wir sollten das Geschehene jetzt sorgfältig auswerten und genau darauf schauen, was sich in der Praxis ereignet hat. Der Test müsste in jedem Fall gewaltig abgespeckt werden, weil er weit über das Ziel hinausschießt. Wer ernsthaft überprüfen will, ob Drei- oder Vierjährige den Genitiv richtig anwenden können, muss irgendetwas Grundlegendes missverstanden haben. Davon abgesehen wäre es völlig verfehlt, wenn wir darauf drängen würden, dass sich die Kinder standardisierte Sprachkompetenzen zu eigen machen. Die wahre Kompetenz zeigt sich ja gerade in der eigenständigen Variation und dem selbstbewussten Umgang mit unterschiedlichen Ausdrucksformen.

Wie beurteilen Sie den aktuellen Stand in anderen Bundesländern, gibt es dort erfolgversprechendere Ansätze als in Nordrhein-Westfalen?

Bernhard Eibeck: NRW ist kein Einzelfall, denn auch in anderen Bundesländern neigen manche Bildungspolitiker und Wissenschaftler dazu, die Arbeit mit kleinen Kindern an den Erfahrungen der Schulpädagogik zu orientieren. Ein positives Beispiel wäre dagegen das Projekt Sprachlerntagebuch in Berlin. Hier arbeitet man darauf hin, die Sprachfähigkeiten jedes Kindes kontinuierlich zu entwickeln. Die Erzieher treten dabei als Partner und Begleiter auf, die für die Kinder über einen langen Zeitraum präsent sind.

Ich gebe auch zu bedenken, dass Sprache keine Sonderdisziplin des Faches Deutsch ist. Gesprochen wird den ganzen Tag, insofern muss die Verbesserung der Sprachkompetenzen auch eine Aufgabe für den ganzen Tag sein und kein vorgefertigtes Frage-Antwort-Spiel, das sich nach Punkten bewerten lässt.

Auf Bundesebene und in der breiten Öffentlichkeit wird sicher zu Recht über die Einrichtung von zusätzlichen Kita-Plätzen und Betreuungsangeboten diskutiert. Aber denken wir nicht zu wenig darüber nach, was dort konkret mit den Kindern geschehen soll und inwiefern Ansätze, die aus der Phantasie und dem Einfallsreichtum der Kinder kommen, aufgenommen und weiterentwickelt werden können?

Bernhard Eibeck: Das ist mein generelles Credo. Wir sollten den Kindern nicht etwas von außen überstülpen. Für Drei- bis Vierjährige ist die Situation ohnehin schwierig genug. Sie kommen aus der Familie und sind plötzlich mitten in einer kleinen, wenn auch kindgerechten Öffentlichkeit, in der sie ihren Platz erst einmal finden müssen. Nun kommt es ganz entscheidend darauf an, ihre Entwicklungspotenziale zu erkennen und kontinuierlich zu fördern. Dazu brauchen Kinder und Erzieherinnen Zeit, verlässliche Beziehungen und kleine Gruppen. Wir haben in Deutschland noch eine Menge zu tun bis wir den europäischen Standard der frühkindlichen Pädagogik erreicht haben mit – wie z.B. in Schweden – 3 an Hochschulen ausgebildete Erzieherinnen für eine Gruppe von 15 Kindern.