"Wir schaffen eine Klasse systematischer Verlierer!"

Ein Gespräch mit Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte, SPD-Politiker und Querdenker in den eigenen Reihen über den "Zweiklassenstaat"

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Das böse Wort von der Zweiklassenmedizin hat längst die Runde gemacht, doch wer die Situation in Deutschland näher betrachtet, wird schnell feststellen, dass es nur einen Aspekt in einer ganzen Reihe struktureller Fehlentwicklungen beschreibt. Der SPD-Politiker und Medizinprofessor Karl Lauterbach spricht in seinem soeben erschienenen Buch denn auch gleich vom „Zweiklassenstaat“ und versucht, am Beispiel der Bereiche Bildung, Medizin, Rente und Pflege zu zeigen, „wie die Privilegierten Deutschland ruinieren“. Telepolis sprach mit Lauterbach über zentrale Defizite der Bildungs- und sozialen Sicherungssysteme, potenzielle Lösungsansätze und parteipolitische Hindernisse.

Herr Lauterbach, Sie sehen die wesentliche Ursache, die zur Ausprägung eines Zweiklassenstaates geführt hat, in der Schieflage und anhaltenden Reformunfähigkeit unseres Bildungssystems, das gleichzeitig ungleich, ungerecht und leistungsfeindlich ist. Auch wenn man Ihrer Analyse grundsätzlich zustimmt, müssten sich diese Effekte eigentlich ausschließen. Wie ist es möglich, dass sie sich in Deutschland sogar begünstigen und gegenseitig verstärken?

Karl Lauterbach: Wir verzichten zunächst auf eine qualitativ hochwertige Vorschule. Dadurch geht uns die Hälfte der Talente bereits verloren, bevor sie überhaupt eingeschult wurden. Betroffen sind davon vor allem die Kinder aus Migranten- und Arbeiterfamilien, die praktisch keine Chance mehr haben, diesen Rückstand je wieder aufzuholen. Das gilt umso mehr, als die Ungleichheit in der Grundschule weiter verschärft wird. An deren Ende gehen die meisten von ihnen auf eine Haupt- oder Realschule und sind schon zu diesem frühen Zeitpunkt für ihr ganzes Leben stigmatisiert, weil schließlich nur 9 Prozent der Arbeiterkinder ein Studium aufnehmen, während es beispielsweise in Schweden 40 Prozent sind.

Bei den Kindern, die aus privilegierten Gruppen unserer Gesellschaft kommen, zeigt sich das entgegengesetzte Bild. 85 Prozent der Beamtenkinder kommen auf ein Gymnasium, obwohl längst nicht alle dafür geeignet sind. Diese Entwicklung setzt sich dann auf den Hochschulen fort.

Wir tabuisieren aber auch gerne, dass viele Studierende heute nicht die Leistungsvoraussetzungen mitbringen, die für eine akademische Laufbahn notwendig wären und selbst die bei uns herausragenden Studenten oft große Schwierigkeiten haben, sich im internationalen Vergleich durchzusetzen. Das Niveau hat in den vergangenen 20 Jahren deutlich nachgelassen. Insofern versagt unser Bildungssystem oben und unten.

Im Moment macht sich das noch nicht umfassend bemerkbar, weil die Babyboomer-Generation gut ausgebildet ist und wichtige Schlüsselfunktionen besetzt. In naher Zukunft bleibt uns, wenn wir keine radikalen Änderungen vornehmen, aber nur die Möglichkeit, entweder massenhaft Talente aus anderen Ländern anzuwerben oder weiter an Konkurrenzfähigkeit zu verlieren. Unser jetziges System wird jedenfalls nicht noch einmal einen so großen Aufschwung zulassen. Wenn wir so weitermachen, sind wir wie Landwirte, die ihre Saat verkaufen.

Um diesem Dilemma entgegenzuwirken, fordern Sie unter anderem mehr Kitaplätze, eine ganztägige Pflichtvorschule und eine gezielte Sprachförderung. Überdies die Abschaffung der Hauptschule sowie des gesamten dreigliedrigen Schulsystems zugunsten einer Gemeinschaftsschule. Sie wollen mehr BAföG und keine Studiengebühren. Wie können diese Maßnahmen für mehr Gerechtigkeit sorgen, und auf welche Weise sollen sie finanziert werden?

Karl Lauterbach: Durch eine Bündelung der Maßnahmen würde sich der Anteil von Kindern aus bildungsfernen Familien, die Teil eines effektiven Bildungssystems werden können, dramatisch erhöhen. Ich denke, er ließe sich sogar verdoppeln. Außerdem würden auch mehr Kinder geboren, denn Ganztagsschulen sind ein wichtiger Anreiz, um sich für eine Familiengründung zu entscheiden.

Die Kosten sind in diesem Fall weniger entscheidend, denn es geht um eine Überlebensfrage unserer Gesellschaft. Ich will trotzdem darauf hinweisen, dass sämtliche Maßnahmen, die von mir vorgeschlagen werden, etwa 20 bis 25 Milliarden Euro pro Jahr kosten würden. Für die sozialen Sicherungssysteme zahlen wir derzeit mehr als 500 Milliarden Euro. Es geht also um die Investition von weniger als fünf Prozent, die im übrigen dem Zweck dient, eine Basis für die weitere Finanzierung dieser sozialen Sicherungssysteme zu schaffen.

Die Privilegierten sehen auf die „Loser“ herab

In Ihrer Argumentation mutieren die Defizite des Bildungssystems zu Keimzellen gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, die in den Bereichen Gesundheit, Rente und Pflege unmittelbar zu spüren ist. Wo wird der Zusammenhang zwischen dem Versagen der selbsternannten Bildungs- und Wissensgesellschaft auf der einen und einer Zweiklassenmedizin, Zweiklassenrente oder Zweiklassenpflege auf der anderen Seite besonders deutlich?

Karl Lauterbach: Wir schaffen durch unser Bildungssystem eine Klasse systematischer Verlierer, welche die Sprache schlecht beherrschen, kaum lesen und rechnen können, die keine Ausbildung haben, für die Gewalt oft der einzige Ausweg ist. Wieso sollen wir diesen Menschen die gleiche Qualität der medizinischen Versorgung garantieren wie Lehrern oder Ärzten? Meine Antwort lautet: Weil wir sie selbst zu Menschen zweiter Klasse machen, weil bei uns kein Sozialhilfeempfänger eine Chance hat, wie ein Privatpatient behandelt zu werden und weil die Privilegierten auf die „Loser“ herabsehen, wie an den Stellungnahmen von Ärzten, die sie unter www.facharzt.de veröffentlicht haben, deutlich zu erkennen ist.

Auch im Bereich der Rente ist der Zusammenhang evident. Reiche leben länger - wer sich keiner Privilegien erfreut, hat eine kürzere Lebensdauer und zahlt unter Umständen jahrzehntelang in die Rentenkasse ein, ohne noch einen einzigen Euro herauszubekommen. Das gleiche Phänomen beobachten wir, wenn es um die Pflege geht. Wir können nicht zulassen, dass Menschen mit hohem Pflegebedarf die geringste finanzielle Unterstützung bekommen.

Schauen wir einen Moment auf die Gesundheitsreform, die für Sie, von einigen Ausnahmen abgesehen, eine „große Enttäuschung“ darstellt. Sie waren aber doch selbst Mitglied der Verhandlungskommission.

Karl Lauterbach: Das stimmt, und ich würde gewisse Qualitätsverbesserungen, die damit erreicht wurden, auch nicht unterschätzen. Außerdem habe ich gemeinsam mit Ulla Schmidt durchgesetzt, dass auf dem Gebiet der Prophylaxe deutliche Fortschritte erreicht wurden, indem Zuzahlungen jetzt an vorbeugende Maßnahmen gebunden sind.

Nun hat meine Partei die Gesundheitsreform, die wir in Richtung einer Bürgerversicherung entwickeln wollen, aber nicht allein umsetzen können, und mit der Union war beispielsweise über Privatversicherte gar nicht zu reden. Unter diesen Umständen sorgt die Gesundheitsreform insgesamt dafür, dass sich die Zweiklassenmedizin, die ich für das größte Krebsgeschwür unseres Gesundheitssystems überhaupt halte, noch weiter ausbreiten und noch mehr Schaden anrichten wird.

Wir haben eine Herkunftselite herausgebildet, die nur noch ihre Privilegien verteidigt

Wer hat überhaupt ein Interesse daran, dass sich Deutschland zum Zweiklassenstaat entwickelt oder schon entwickelt hat? Wen sehen Sie denn in der Rolle der Privilegierten, und welche Vorrechte müsste diese Gruppe aufgeben, damit die weitere Verschärfung gesellschaftlicher und sozialer Konflikte noch gestoppt werden kann?

Karl Lauterbach: Die Beamten haben beispielsweise wenig Interesse an einer Veränderung der jetzigen Situation. Sie bekommen hohe Bezüge, eine erstklassige medizinische Versorgung, ihre Kinder erhalten eine gute Ausbildung und sie haben eine hohe Lebenserwartung. Kann es denn besser sein? Trotzdem müssen sie sich auf eine Situation einstellen, in der Privilegien geteilt, Vorrechte abgebaut und gleiche Chancen für alle Bevölkerungsgruppen geschaffen werden können.

Das ist keine Win-Win-Situation, aber es gibt auch keine Alternative zu einer grundlegenden Umstrukturierung. Dabei geht es übrigens gar nicht darum, den tatsächlichen Leistungsträgern der Gesellschaft etwas wegzunehmen. Ich bin sehr dafür, dass Menschen, die viel arbeiten und Herausragendes erreichen, auch gut oder sehr gut bezahlt werden. Wir haben aber eine Herkunftselite herausgebildet, die nur noch ihre Privilegien verteidigt und in vielen Fällen eben keine entsprechende Gegenleistung mehr bietet.

Der Abbau des Zweiklassenstaates muss eine zentrale Aufgabe der Politik und des Programms der SPD sein

In Ihrem Buch zählen Sie auch Politiker, Topjournalisten, Professoren und Unternehmer zum Kreis der Privilegierten. Zu mindestens zwei der genannten Kategorien zählen Sie selbst. Inwiefern bestimmt diese Zugehörigkeit Ihr politisches Denken und Handeln?

Karl Lauterbach: Ich stamme selbst aus einer Arbeiterfamilie und war auch schon bei der AOK versichert. Meine jetzige Stellung habe ich also keinen ererbten Privilegien zu verdanken, aber das ist bei uns leider die Ausnahme. Ich weiß natürlich auch, dass es nicht leicht ist, Privilegien abzugeben, aber der Abbau des Zweiklassenstaates zugunsten einer sozial gerechten und chancengleichen Gesellschaft muss eine zentrale Aufgabe der Politik und des Programms der SPD sein. Alles andere wäre eine Farce.

Wer versucht, in der deutschen Parteienlandschaft Entsprechungen für Ihre Thesen zu finden, muss aber nicht unbedingt bei der SPD landen, oder?

Karl Lauterbach: In den letzten ein, zwei Tagen ist über die Linkspartei viel geschrieben worden. Man muss der Linkspartei auf Bundesebene zum momentanen Zeitpunkt eine klare Absage erteilen. Um sich ihrer historischen Aufgabe zu stellen, braucht die SPD die Linkspartei auch gar nicht, zumal diese konzeptionell sehr verarmt ist. Die SPD muss stattdessen ganz deutlich machen, dass sie die Partei ist, die den Zweiklassenstaat in Deutschland wieder abbauen will. Dann wird sie nicht nur die politische Mitte erreichen, sondern auch über die Parteigrenzen hinweg an Attraktivität gewinnen.

Wie mehrheitsfähig sind Ihre Vorschläge denn in der eigenen Partei? Insbesondere unter dem Vorsitz von Kurt Beck?

Karl Lauterbach: Kurt Beck ist für diese Fragen sehr offen. Er stammt ebenfalls aus einer Arbeiterfamilie und hat selbst vor nicht allzu langer Zeit eine Leistungsdiskussion angestoßen, die ein breites Echo gefunden hat. Aus vielen Veranstaltungen weiß ich aber auch, dass die Parteibasis ohne Wenn und Aber hinter einer solchen Programmatik steht. Ich glaube, dass sie sehr viele Menschen begeistern und überzeugen könnte.

Hängt die Zukunft unserer „Zweiklassengesellschaft“ entscheidend von der nächsten Bundestagswahl ab?

Karl Lauterbach: Ja, davon bin ich fest überzeugt. Die SPD muss den Kanzler stellen, weil die Union kein Interesse daran hat, ihre Klientel zu verschrecken. Wir dürfen die Politik dieses Landes aber nicht immer an den Interessen von Arbeitgebern ausrichten. Diese sind wichtig, zugegeben, aber wenn die Arbeitgeber in Deutschland nicht mehr zufrieden sind, suchen sie sich ein anderes Land, eine andere Firma und andere Arbeitnehmer. Die Politik muss das Interesse das ganzen Landes und aller Menschen im Auge haben und hier einen Ausgleich herbeiführen. Dieser Aufgabe sollten wir uns so schnell wie möglich stellen, sonst ist die Wende nicht mehr zu schaffen.

Karl Lauterbachs Buch Der Zweiklassenstaat. Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren ist bei Rowohlt Berlin erschienen und kostet 14,90 €.