Wechsel nicht möglich

Der Fall Flickr: Soziale Netzwerke als Ware

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Aus dem Fall Flickr lässt sich einiges über die sozioökonomischen Grundlagen des Web 2.0 lernen – und darüber, was passiert, wenn Marktmechanismen nicht mehr richtig greifen können, weil soziale Kontakte den Anbieterwechsel erschweren.

Die vom Internetgiganten Yahoo aufgekaufte Fotografier-Community Flickr ist seit einigen Tagen in den Schlagzeilen. Flickrs Entscheidung, bei Yahoo Deutschland registrierten Nutzerinnen und Nutzern alle als „moderiert“ oder „eingeschränkt“ eingestuften Fotos vorzuenthalten, rief heftige Proteste hervor. Innerhalb von wenigen Tagen wuchs beispielsweise die flickr-interne Protestgruppe "Against Censorship" von null auf über zehntausend Mitglieder. In internen Foren wird rege diskutiert. Doch inwieweit können die User in ihrer Abhängigkeit tatsächlich Druck auf Yahoo ausüben?

Die bisherigen Äußerungen des Flickr-Gründers Stewart Butterfield machen zwar deutlich, dass der Protest bei Flickr angekommen ist und dass man dort zumindest vorgibt nach einer Lösung zu suchen, die mit dem als Grund für die Zwangsfilterung genannten deutschen Jugendschutz vereinbar ist. Trotzdem ist noch immer offen, ob diese Proteste zu einem Ergebnis führen, das den deutschen Flickr-Mitgliedern gefallen wird.

Das liegt unter anderem an einem allgemein problematischen Aspekt kommerzieller Web-2.0-Angebote, der durch den Fall Flickr besonders deutlich geworden ist. Betrachtet man das Geschäftsmodell von Flickr, stellt man fest dass der Dienst seinen Mitgliedern eine Webanwendung für das Ins-Netz-Stellen von Fotos und sehr viel Speicherplatz und Bandbreite zur Verfügung stellt. Die Mitgliedschaft bei Flickr wird mit beschränkten Optionen – weniger Fotos, weniger Konfigurationsmöglichkeiten – kostenlos (d.h. letztlich werbefinanziert) angeboten; auf reges Interesse stößt jedoch auch die „Pro“-Variante des Flickr-Accounts, die für etwa 25 Dollar für ein Jahr Mitgliedschaft bei Flickr verkauft wird und es ermöglicht, eine nahezu unbegrenzte Zahl von Fotos ins Netz zu stellen.

Was Flickr bot

Das eigentlich interessante an Flickr – und der Grund dafür, dass die Webanwendung immer wieder empfohlen und (vor allem auch durch Mundpropaganda) schnell bekannt wurde, ist jedoch nicht diese Infrastruktur, sondern die Community, die diese Infrastruktur nutzt. Zum einen sind viele sehr gute Fotografinnen und Fotografen bei Flickr aktiv, zum anderen gibt es eine kaum zu überblickende Zahl an Gruppen, in denen Fotografie-Begeisterte jeglicher Couleur sich über ihre Fotos, das Fotografieren an und für sich oder spezielle Aspekte austauschen. Dazu kommen weitere Aspekte, die für „social software“ typisch sind: der schnelle Zugriff auf die Bilder der jeweiligen „Kontakte“, die Möglichkeit, sehr einfach Menschen zu Flickr einzuladen sowie das interaktive „taggen“ und kommentieren der Fotos.

Kurz gesagt: wer bei Flickr in den letzten Jahren Mitglied geworden ist, hat das vielleicht auch getan, weil Infrastruktur und Benutzeroberfläche einigermaßen ausgereift sind. Vielen wird jedoch vor allem zugesagt haben, dass es leicht ist, bei Flickr Menschen mit einem ähnlichen Fotografier-Geschmack zu finden und dass neben den auch hier zu findenden Urlaubsfotos ein Schwerpunkt auf eher künstlerischer Fotografie und reger Diskussion darüber liegt. So etwas lässt sich auch in Begriffe wie Flair, Atmosphäre oder Kultur packen.

Zugleich ist Flickr damit ein typisches Beispiel für ein kommerzielles Web-Angebot, das letztlich deswegen erfolgreich ist, weil es auf sozialen Beziehungen und sozialen Netzwerken aufbaut. Dabei geht es nicht unbedingt um dicke Freundschaften, sondern vor allem um Gleichgesinnte, zu denen ein loser Kontakt besteht. Soziologisch gesprochen: es geht um weit aufgefächerte Netze mit vorwiegend „weak ties“. Diese „soziale Infrastruktur“ ist sicherlich ein Faktor, der den Erfolg von Flickr auch gegenüber konkurrierenden Angeboten erklären kann.

Diese konkurrierenden Angebote kommen nun ins Spiel: nach einigen anderen Beispielen der „Yahooisierung“ Flickrs war die kaum kommunizierte Einschaltung eines nicht abschaltbaren Filters für viele Mitglieder der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Wo vorher – etwa bei der Umschaltung auf Yahoo-Accounts – damit gedroht wurde, zu kündigen oder die Mitgliedschaft nicht zu verlängern, machen viele jetzt ernst und wechseln zur Konkurrenz. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe ähnlicher Angebote; teilweise mit identischen, teilweise sogar mit erweiterten Fähigkeiten. Prinzipiell ist es relativ einfach, zu einem anderen Anbieter umzuziehen. So bietet Flickr eine recht offene API, auf der u.a. auch Werkzeuge aufbauen, mit denen alle eigenen Fotos auf einmal herunter geladen werden können. Ein entscheidendes Hindernis für den Wechsel bleibt jedoch bestehen – ein Flickr-Nutzer hat dies im Diskussionsforum um die Zwangsfilterung auf den Punkt gebracht:

„Web 2.0 is not about bringing people together or creating communities or making the world a better place. It's about making huge profits out of peer pressure. And that's the attitude that shows in every action Flickr made since the acquisition by Yahoo.“ (Flickr-Nutzer Scy**e)

Communities zerreißen

„Peer pressure“ heißt hier: was nicht zu anderen Anbietern mitnehmbar ist, sind die Kontakte – oder anders gesagt: die sozialen Netzwerke, die Flickr erst groß gemacht haben. Dies wird im Zuge der aktuellen Proteste in zweierlei Hinsicht deutlich. Zum einen fehlen die „Wechsler“, die jetzt ihren Flickr-Account löschen, in der eigenen Kontaktliste. Zum anderen gibt es – wie bereits bemerkt - eine ganze Reihe von Konkurrenzangeboten wie etwa Zoomer, Ipernity, Sevenload, 23hq und, und, und. Die einen wechseln hierhin, die anderen dahin. Bisher existierende Beziehungen gehen verloren oder werden – zerstückelt – in der Ferne neu aufgebaut. Das ist zwar auch eine Gelegenheit zum „Ausmisten“ der Kontaktliste. Wer aber weiterhin Interesse an den Bildern einzelner ehemaliger Kontakte hat, ist nun fast gezwungen, bei jedem der genannten Foto-Communities Accounts anzulegen. Wo früher die neuen Fotos der Kontakte sofort sichtbar waren, ist nun WWW-Zappen angesagt; ein Aufwand, den viele scheuen. Manche haben sich auch entschieden, keiner Firma mehr zu vertrauen und ihre Bilder auf dem eigenen Server zu hosten. Hier multipliziert sich das Problem der verloren gehenden sozialen Netze noch einmal.

Wegen der genannten Gründe gibt es aber auch viele, die Flickr zwar inzwischen sehr kritisch sehen und nicht mehr wirklich an eine Lösung glauben, aber trotzdem nicht zu einem anderen Anbieter wechseln möchten. Dabei geht es zwar auch darum, dass der Transfer der bisher bei Flickr gehosteten Bilder anderswohin beschwerlich ist, und die mit den Bildern verbundenen Kommentare und „Views“ verloren gehen. Wichtiger ist aber auch hier der „peer pressure“. Zwar ist zu vermuten, dass auch für die, die bleiben, einige Kontakte verloren gehen. Aber diejenigen, die nicht direkt von den Filtermaßnahmen betroffen sind - also nicht aus Deutschland, Korea, Singapur oder Hongkong kommen - haben nur bedingt einen Grund, Flickr zu verlassen. Solange jedoch viele bei Flickr bleiben – und oft sind die Kontaktlisten sehr international – heißt ein Wechsel eben auch: sich darauf einzulassen, dass über Jahre gewachsene Kontaktnetzwerke kaputt gehen, dass diese neu aufgebaut werden müssen. Nicht jeder will diese Zeit investieren.

Solange Flickr eine gut funktionierende Foto-Community war, erwuchs der Firma daraus, dass ihr Erfolg auf sozialen Netzwerken aufbaut, eine Art natürliche Monopolstellung. Wer dieses Netzwerk behalten möchte, ist damit Flickr ausgeliefert und gezwungen, dort zu bleiben (oder all seine Kontakte dazu zu überreden, koordiniert an einem Platz neu zu starten). Diese besondere Eigenschaft von Web-2.0-Anwendungen gilt nicht nur für Flickr, sondern für alle Angebote, die einen Teil ihres Mehrwerts aus dem besonderen Flair der Community ziehen. Am klarsten deutlich wird dies vermutlich bei Vernetzungsdienstleistern, die allein um der Kontakte willen existieren - also etwa bei Friendster, Xing oder StudiVZ. Wer hier mit der Firma unzufrieden ist, kann nicht einfach die Marktentscheidung „Anbieterwechsel“ ausführen – diese ist mit hohen sozialen Kosten belegt. Dies erklärt auch, warum es eben nicht einfach eine Abstimmung mit den Füßen gab, sondern die Unzufriedenheit mit Flickrs Unternehmenspolitik heftige Proteste ebenso wie den beharrlichen Versuch hervorgerufen hat, Flickr dabei zu unterstützen, eine angemessen Lösung für das echte oder vermeintliche juristische Problem zu finden. Viele sind mit Flickr unzufrieden, viele haben ein großes Stück Vertrauen verloren. Die Hoffnung ganz aufgeben und sich damit einzugestehen, dass der Wechsel unabdingbar geworden ist – das wird noch hinausgezögert. Kurz gesagt: auch aus dieser Perspektive wird Flickr vor allem als eine Community wahrgenommen – in der dann natürlich auch der Anspruch erhoben wird, mitzugestalten und mitzuentscheiden.

Web 2.0, das Abhängigkeits-Internet

Das Beispiel Flickr hat deutlich gemacht, dass soziale Netzwerke kein Unternehmenskapital wie jedes anderes darstellen. Die Geschäftsgrundlage von Web-2.0-Angeboten weist einige Besonderheiten auf. Die üblichen Marktgesetze kommen hier nur bedingt zum Zuge. Die Stärke wie die Schwäche dieser Angebote ist die hohe Bedeutung von zwischenmenschlichen Kontakten, Beziehungen und sozialen Netzwerken verbunden, die – was erfolgreiche Anbieter freuen und deren Konkurrenten ärgern dürfte – nicht einfach transportiert werden können. Aus Verbrauchersicht erweist sich diese Kopplung an soziale Netzwerke dann als Ärgernis, wenn das Angebot nicht mehr zufrieden stellt, und sehr hohe Hürden bestehen, zu einem Konkurrenzangebot zu wechseln (Vgl. Gratisdienste und Opportunitätskosten).

Eine mögliche Lösung, die den betroffenen Firmen auf den ersten Blick nicht gefallen wird, auf den zweiten Blick aber vielleicht ebenfalls ein interessantes Geschäftsmodell darstellen würde, wäre ein übergreifender Dienst, der eine abstrakte Informationsinfrastruktur für soziale Netzwerke bereitstellt, die transparent und zwischen einzelnen Angeboten transportabel ist. Dabei darf natürlich nicht so was wie Microsofts Passport oder die Yahoo-ID bei herauskommen, sondern es müsste darum gehen, die Kontaktnetzwerke von den konkreten Anwendungen zu trennen. Das „Eigentum“ an den sozialen Netzwerken läge dann nicht mehr bei den Firmen, sondern die Souveränität, Kontakte zu verwalten und Beziehungen zu pflegen, würde den Konsumentinnen und Konsumenten zurückgegeben. Auch wenn die Fotos eines Teilnehmers beispielsweise bei Flickr liegen würden, müsste dieser in einem solchen Szenario nicht darauf verzichten, Kontakte zu haben, die für die Speicherung und Verwaltung ihrer Bilder andere Anbieter vorziehen. Ein oberhalb der einzelnen Web-2.0-Anwendungen liegendes Netzwerk, quasi ein technischer Standard für die Aufrechterhaltung von Kontakten und Feedbacks zwischen Anbietern, existiert bis heute nicht. Die Trackback/Pingback-Funktionen der Blogosphäre, RSS und vergleichbare Dienste sowie die entsprechenden Aggregatoren und nicht zuletzt Vorschläge wie OpenID könnten die Bausteine für eine konzernunabhängige Infrastruktur für soziale Netzwerke bilden. Um das Web 2.0 zu demokratisieren und den Nutzerinnen und Nutzern derartiger Angebote Marktentscheidungen zu ermöglichen, um sich nicht lebenslang an einzelne Firmen binden zu müssen und um den Menschen ein Stück ihrer viel beschworenen Konsumentensouveränität wiederzugeben, wäre ein derartiges System jedoch dringend notwendig. Es durchzusetzen, wird sicherlich nicht leicht werden.