Soziale Auslese für Fortgeschrittene

Nach der Veröffentlichung der 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes ist die Diskussion um die beispiellose Selektivität des Bildungs- und Hochschulsystems neu entbrannt.

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Niemand hätte ernsthaft damit gerechnet, dass die 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes (PDF-Datei)), die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde, eine positive Entwicklung des maroden Bildungs- und Hochschulsystems aufzeigen würde. Doch die Zahlen, die nun ungeschönt vor dem Betrachter liegen, beschreiben Sachverhalte, die grundsätzlich bekannt sind, eben doch mit besonderer Deutlichkeit.

Die Umfragen, die vom Hochschul-Informations-System (HIS) im Sommersemester 2006 mit rund 17.000 Teilnehmern durchgeführt wurden, zeigen einmal mehr, dass die deutschen Hochschulen vornehmlich im Hinblick auf die soziale Auslese ihrer Studierenden eine internationale Spitzenposition beanspruchen können.

Von 100 Akademikerkindern können immerhin 83 ein Hochschulstudium aufnehmen. Von 100 Kindern aus den sogenannten bildungsfernen Familien schaffen es nur 23. Wer aus einer Beamtenfamilie stammt, in der mindestens ein Elternteil eine akademische Ausbildung genossen hat, bekommt demnach eine fünfeinhalb Mal so hohe Bildungschance wie gleichaltrige und vielleicht talentiertere Kinder aus Arbeiterfamilien.

DSW-Präsident Rolf Dobischat nannte diesen Befund „beschämend für eine Demokratie“. Andreas Storm (CDU), Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesbildungsministerium, mochte sich dieser Einschätzung bei der Vorstellung der Sozialerhebung allerdings nicht anschließen. In den 80er Jahren seien die Chancen für den Beamtennachwuchs generell sechsmal so hoch gewesen, insofern hätten die Möglichkeiten der Kinder aus nicht-akademischen Herkunftsfamilien „spürbar“ verbessert werden können.

Sozialer Numerus clausus, Geldknappheit und Teilzeitstudium

Wenn der Parlamentarische Staatssekretär weitere Jahrzehnte in die Vergangenheit geklettert wäre, ließe sich diese Bilanz leicht noch weitaus günstiger darstellen. Doch wir befinden uns derzeit im Jahr 2007, und die schiefe Vergleichsbasis kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in kaum einem anderen Industriestaat die soziale Herkunft so unmittelbar über den Bildungs- und Berufsweg junger Menschen entscheidet wie gerade in Deutschland.

Von einer modernen Wissensgesellschaft, die sich mittel- und langfristig den Herausforderungen eines internationalen Wettbewerbs stellen könnte, ist das einstige Land der Dichter, Denker und Grundlagenforscher momentan weit entfernt. Das hängt einerseits mit dem Umstand zusammen, dass die wissenschaftliche Elite, die sich im Rahmen von Spitzenuniversitäten und Exzellenz-Initiativen auf höhere Aufgaben vorbereiten soll, bis dato nur sehr bedingt den qualitativen Ansprüchen genügt, die in den USA, Großbritannien oder manchen skandinavischen Ländern an diese Gruppe gestellt werden.

Auf der anderen Seite sorgt die Selektivität des Bildungssystems, für die der Begriff eines sozialen Numerus clausus durchaus angebracht erscheint, aber auch dafür, dass auf deutschen Hochschulen – und mitunter schon in Kindergärten und Schulen - Herkunfts- und nicht Leistungseliten den Ton angeben.

Das gilt umso mehr, als sich die Auslese auf dem Campus weiter fortsetzt. Nach den Berechnungen des Hochschul-Informations-Systems haben die Studierenden zwar durchschnittlich 770 Euro im Monat zur Verfügung, jeder Fünfte liegt jedoch unter dem BAföG-Höchstsatz von 585 Euro und jeder Dritte unter der 640 Euro-Grenze, welche die Familiengerichte als Orientierungswert für den Elternunterhalt vorgeben. Kein Wunder also, dass mittlerweile 40 Prozent der Studierenden, folglich fünf Prozent mehr als noch 2003, ihre finanzielle Lage als unsicher betrachten. Die Einführung von Studiengebühren in sieben Bundesländern, die in der aktuellen Berechnung noch nicht berücksichtigt werden konnten, dürfte diese Entwicklung weiter verschärfen.

Ähnliches gilt für die schleichende Erhöhung von Rückmeldungs- oder Verwaltungsgebühren, die an vielen Hochschulstandorten längst selbstverständlich geworden ist. Vor diesem Hintergrund wird schnell klar, warum sich der bereits seit einigen Jahren offenkundige Trend zum Teilzeitstudium ungebremst fortsetzt. Während 1991 noch 87 Prozent aller Neu-Akademiker als Vollzeitstudierende eingestuft werden konnten, sind es jetzt nur noch 75 Prozent. Der Anteil der Teilzeitstudenten hat sich derweil fast verdoppelt.

Die Zeitaufwendungen für Studium und Erwerbstätigkeit führen in der Summe für Studierende im Erststudium zu einer Belastung von durchschnittlich etwas mehr als 41 Stunden in der Woche. Hinter diesem Gesamteindruck verbirgt sich jedoch eine relativ große Spannweite im Zeitbudget Studierender: Ein knappes Viertel bringt wöchentlich maximal 30 Stunden für Studium und Job auf (24 %), mehr als jeder Vierte hat einen Zeitaufwand zwischen 30 und 40 Wochenstunden (27 %), ein weiteres Viertel (26 %) wendet für beides zwischen 40 und 50 Stunden je Woche auf. Einen vergleichsweise hohen Zeitaufwand von zum Teil deutlich mehr als 50 Stunden hat nach eigener Darstellung fast jeder vierte Studierende (24 %).

Aus der 18. Sozialerhebung

42 Prozent der Studierenden, die neben Vorlesungen, Hausarbeiten und Prüfungen einem Job nachgehen, gaben an, dass die zusätzlichen Einnahmen zum Bestreiten ihres Lebensunterhaltes „unbedingt notwendig“ seien.

Migrationshintergrund erschwert die finanzielle Situation

Erstmals in der über 50jährigen Geschichte der Sozialerhebungen wird die Situation von Studierenden mit Migrationshintergrund differenzierter beleuchtet. Sie stellten im Sommersemester 2006 immerhin acht Prozent aller in Deutschland immatrikulierten Nachwuchsakademiker und waren zu 97 Prozent an Hochschulen der westdeutschen Bundesländer eingeschrieben.

An ihrem Beispiel wird die soziale Schieflage, von der das Bildungssystem insgesamt geprägt ist, besonders deutlich, auch wenn die Zahlen weniger die Zugangsproblematik als vielmehr die aktuelle finanzielle Situation beschreiben.

Demnach können 41 Prozent der jungen Akademiker mit Migrationshintergrund der sozialen Herkunftsgruppe „niedrig“ zugeordnet werden, die insgesamt nur 13 Prozent aller Studierenden stellt. Ihre BAföG-Quote liegt bei 33 Prozent (Durchschnitt: 23 Prozent), 56 Prozent der nebenbei arbeitenden Studenten geben an, die Tätigkeit sei für ihren Lebensunterhalt unbedingt notwendig (Durchschnitt, s.o.: 42 Prozent).

Lösungsvorschläge

Da die Situation erschreckend verfahren und obendrein seit vielen Jahren bekannt ist, hat es manch einem Kritiker der deutschen Bildungspolitik offenbar die Sprache verschlagen. Bei der Präsentation der Sozialerhebung wären Widerworte freilich auch kaum erhört worden, denn die zuständige Bundesministerin Annette Schavan (CDU), die sonst keine Gelegenheit versäumt, dem staunenden Publikum von Eliteförderung, Forschungsleuchttürmen, Exzellenz-Clustern und milliardenschweren Förderprogrammen zu berichten, überließ oben genanntem Herrn Storm die Vertretung der Regierung. (Als sie einen Tag später anlässlich des im Kabinett diskutierten Berichts zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands von Dynamik, Innovationskraft und nach oben zeigenden Kurven schwärmen konnte, war die Ministerin übrigens wieder zur Stelle.)

Der Elan der Opponenten, die einst beharrlich darauf hinwiesen, dass ein zukunftsfähiges Hochschulsystem nicht tatenlos akzeptieren kann, wie Bildung vererbbar wird, hat unter der erdrückenden Last einer demotivierenden Realität aber auch spürbar nachgelassen. Immerhin förderte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ein Aktionsprogramm zur sozialen Öffnung der Hochschulen zutage, dass eine sofortige Erhöhung der Freibeträge und Bedarfssätze im Bundesausbildungsförderungsgesetz um mindestens zehn Prozent vorsieht.

Außerdem sollen 30.000 zusätzliche Wohnheimplätze geschaffen werden, um den in Kürze dramatisch wachsenden Studentenzahlen gerecht werden zu können. Die GEW verlangt einen flächendeckenden Ausbau von flexiblen und qualifizierten Betreuungsangeboten für Studierende mit Kind und obendrein ein Moratorium für Studiengebühren, „um eine weitere Vertiefung der Chancenungleichheit auszuschließen“. Vom 27. bis 31. August soll die Lage mit Vertretern des Deutschen Studentenwerks, der Hans-Böckler-Stiftung sowie mit Gästen aus Politik und Hochschulen im Rahmen einer Wissenschaftskonferenz erörtert werden.

Auch das Deutsche Studentenwerk sieht in der Erhöhung der BAföG-Sätze einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Die Freibeträge sollen dabei um 8,7 und die Bedarfssätze um 10,3 Prozent angehoben werden. Staatssekretär Storm stellte vorgestern immerhin eine „spürbare Erhöhung“ in Aussicht, die allerdings nicht vor 2008 erwartet wird. Annette Schavan würde grundsätzlich lieber Kredite unters studierende Volk bringen, wird sich einer Anhebung aber wohl nicht verschließen können. Doch das BAföG kann unter den gegebenen Umständen nicht mehr sein als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. De facto ist die Zahl der Empfänger seit 2003 sogar leicht angestiegen, während der Anteil der BAföG-Empfänger (bezogen auf die Anspruchsberechtigten) aus bildungsfernen Familien von 66 auf 60 Prozent absackte.

Unabhängig davon verspricht das Schlagwort von einer sozialen Öffnung der Hochschulen mehr als es alleine halten kann. Um den Abwärtstrend zu stoppen und eine erfolgversprechende Strukturreform einzuleiten, muss zweifellos zunächst Bildungsgerechtigkeit in dem Sinne hergestellt werden, dass alle Kinder und Jugendlichen – unabhängig von ihrer Herkunft und sozialen Situation – die gleiche Chance haben, ein Hochschulstudium aufzunehmen.

Mit der schlichten Anhebung des Anteils aus bildungsfernen Familien ist aber wenig gewonnen. In einem zweiten Schritt wäre die Frage zu klären, welche Eingangsvoraussetzungen und Qualifikationsmerkmale die künftigen Studenten mitbringen müssen, um sich im internationalen Wissenschaftsbewerb oder auf dem deutschen Arbeitsmarkt behaupten zu können. Die Antwort steht nicht in der neuesten Sozialerhebung und nicht auf den Transparenten einer Gewerkschaft.

Sie steht aber auch nicht auf der Agenda der Bundesregierung und auf den Merkzetteln der Hochschulleitungen, Fachbereichsvorsitzenden und einzelnen Hochschulprofessoren sucht man sie ebenfalls meist vergebens. Die Sozialerhebung beschreibt, alarmierend genug, die soziale und wirtschaftliche Situation der Studierenden in Deutschland, aber trotz eklatanter Defizite letztlich nur einen Teil des Gesamtproblems. Der Aufbau und die Gestaltung einer Wissensgesellschaft werden möglicherweise noch sehr viel mehr Anstrengungen erfordern.