Ein hässlicher Vertrag

Trotz klangvoller Statements war der jüngste europäische Gipfel kein Erfolg. Wohl aber eine gefährliche Weichenstellung für die Zukunft der Gemeinschaft.

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Spitzentreffen der Europäischen Union folgen eigenen Regeln: Zunächst wird das Ende des Staatenbundes herauf beschworen, um dann Mini-Kompromisse, Ausnahmeregelungen oder Nebensächlichkeiten als den großen Wurf zu verkaufen. Nicht anders war es beim „Verfassungsgipfel“ vom Donnerstag bis Samstag in Brüssel.

Zum Schluss konnten doch noch alle ihr Gesicht wahren: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, noch eine Woche amtierende EU-Ratspräsidentin, sprach mit ihrem antrainierten Lächeln vor der Presse von einem „deutlichen, wichtigen Fortschritt für die Europäische Union“. Die 18 Staaten, die den EU-Verfassungsvertrag bisher ratifizierten, müssen ihr Votum nicht als entwertet betrachten. Polens Präsident Lech Kaczynski, der sein Land durch die veränderte Stimmenzahl im EU-Ministerrat benachteiligt sah, hat die Gewichtung Warschaus in dem Gremium zumindest für einige Jahre gerettet. Und auch der britische Noch-Premier Tony Blair, wegen seiner am Rande des G-8-Treffens in Heiligendamm bekundeten Präferenz für einen Mini-Vertrag auf der Insel heftig gescholten, kann mit dem Gipfeldokument beruhigt nach Hause fahren.

Bereits seit Wochen wurde auf den Fluren des Berlaymont, des Sitzes der EU-Kommission, kolportiert, es werde einen „hässlichen Vertrag“ geben. Gemeint war damit aber nicht der Inhalt des Papiers. Vielmehr fürchtete man die zahlreichen Änderungen, Streichungen und Ergänzungen des Textes. In der Nacht zum Sonnabend wurden dann tatsächlich umfangreiche Änderungen am Ausgangsentwurf vorgenommen. So sieht der Kompromiss nun vor, dass die Stimmgewichtung im Rat bis 2014 beibehalten wird und danach, nach Einführung der „doppelten Mehrheit“ immer noch drei Jahre lang Übergangsregelungen zum Schutz der kleineren EU-Länder gelten.

Die Außenpolitik der Union wird nach dem Willen Londons von einem „Hohem Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik", zugleich Vizepräsident der EU-Kommission, geleitet. Zwar entspricht er mit seinen Kompetenzen weitgehend dem eigentlich geplanten EU-Außenminister, kratzt mit seiner jetzigen Bezeichnung aber nicht an der Souveränität Großbritanniens. Ausgelagert aus dem EU-Vertrag wird – ebenfalls auf Wunsch der Briten – die Grundrechtecharta. Sie soll allerdings durch einen speziellen Beschluss (außer für Großbritannien) für bindend erklärt werden.

Buchstäblich bis zur letzten Minute hatten Merkel und ihr Verhandlungsteam die Gegner der EU-Verfassung bearbeitet. Zum Einsatz kam dabei auch das so genannte Beichtstuhlverfahren. Dabei werden die Widerspenstigen einzeln zum Konferenzvorsitz einbestellt, um ihre Zustimmung zu wichtigen Beschlüssen doch noch zu erreichen. Bekannt ist diese Methode unter anderen aus der alle sieben Jahre stattfindenden „mittelfristigen Finanzplanung“.

Bedenken Polens nicht unberechtigt

So haben die traditionell europaskeptischen Briten mit dem Beichtstuhl reichlich Erfahrung, während Polens Präsident erstmals mit diesem Zuckerbrot-und-Peitsche-Verfahren Bekanntschaft machte – und letztlich dem Druck nicht gewachsen war. Dazu mag auch beigetragen haben, dass führende europäische Politiker, wie der Präsident des Europaparlaments Hans-Gert Pöttering, Warschau schon vor dem Gipfel nachdrücklich vor einer „Schädigung“ Europas warnten.

Man kann der Warschauer Regierung viel vorwerfen: Eine Staatsführung mit autokratischen Zügen, die Aushebelung der Pressefreiheit oder die Diskriminierung Homosexueller. Nicht jedoch, dass sie mit ihren Vorschlägen zu einer neuen Stimmgewichtung im Rat Europa sprengen wollten. Denn die Bedenken Polens sind nicht unberechtigt.

Die vier „Großen“ der EU – Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland – verfügen derzeit über je 29 Stimmen im Ministerrat, dem eigentlichen Entscheidungsgremium, was gerade einmal acht Prozent der Gesamtstimmen ausmacht. Wird jedoch, wie nun beschlossen, die Bevölkerungszahl über den Stimmenanteil entscheiden, kommen die vier Staaten auf 53 Prozent. Zwar wäre damit die „doppelte Mehrheit“ (55 Prozent der Staaten, die zugleich mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren) noch nicht erreicht. Dass sich eine Reihe der verbleibenden 23 Mitgliedsländer der Vierergruppe bei wichtigen Beschlüssen anschließen wird, darf aber angenommen werden.

Als problematisch zeigte sich in Brüssel, dass die Gebrüder Kaczynski die Spielregeln in der EU offensichtlich noch nicht verinnerlicht haben. Denn letztlich ist die Gemeinschaft ein permanentes Konfliktmanagement zwischen widerstreitenden nationalen Interessen. Und dieses vollzieht sich nicht zuletzt übers Geld. Schon auf dem Nizza-Gipfel im Dezember 2000 war die prinzipielle Zustimmung der südlichen EU-Länder zur Aufnahme osteuropäischer Staaten mit weiteren finanziellen Zuschüssen zu Brüssels Mittelmeerpolitik erkauft worden.

Denn bekanntlich sind gerade Deutschland und Frankreich als traditionelle Handels- und Wirtschaftspartner der Neumitglieder Nutznießer der Erweiterung. Zudem ist Polen inzwischen sogar zum größten Empfänger von Strukturfondsmitteln aus EU-Kassen avanciert. Im vergangenen Monat hatte die Kommission Gelder in Höhe von 67 Milliarden Euro für 2007 bis 2013 freigegeben.

Zumindest dafür hatten sich einige Regierungen mehr Entgegenkommen Warschaus in der Verfassungsfrage versprochen. Selbst die große Zustimmung der polnischen Bevölkerung zur EU – 67 Prozent halten nach der jüngsten Eurobarometer-Umfrage (PDF-Datei) die EU-Mitgliedschaft für eine „gute Sache“ – prallte an der Kaczynski-Doppelspitze ab. Erst das Angebot der Verschiebung der „doppelten Mehrheit“ führte zum Einlenken Warschaus.

Dominanz Marktwirtschaft, Ausblendung der Sozialpolitik, fortgesetzte Militarisierung

Weitgehend unbeachtet blieben im Streit um Stimmenverhältnisse und institutionelle Änderungen die politischen und wirtschaftlichen Weichenstellungen des Grundlagenvertrags. Denn für diese wurden die Vorgaben des Verfassungsvertrags als Blaupause genutzt. So ist die Dominanz Marktwirtschaft, die weitgehende Ausblendung der Sozialpolitik und die von den realen Notwendigkeiten abgekoppelte europäische Geldpolitik ebenso weiterhin Bestandteil des Vertrags wie die fortgesetzte Militarisierung der EU.

Diskutiert wurde in Regierungskreisen über diese Prämissen kaum, sondern allein darüber, wie die in Frankreich und den Niederlanden durchgefallene Verfassung, die seit der Berliner Erklärung (PDF-Datei) zum 50. EU-Geburtstag nur noch Vertrag heißen soll, doch noch durchgebracht werden könnte.

Wie das Dokument aber genannt wird spielt für dessen Rechtsverbindlichkeit ebenso wenig eine Rolle wie die Frage, ob die berüchtigten „Ausführungsbestimmungen“ im dritten Teil des Verfassungsentwurfs (die ohnehin schon zum großen Teil EU-Recht sind) nun Bestandteil des neuen Vertrags sind oder von diesem abgekoppelt werden. Damit wird tatsächlich ein hässlicher Vertrag Europas Zukunft bestimmen.