Gewalt muss sein

Warum Killerspiele keine Amokläufer machen

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Immer wieder ist zu hören, dass die Gewalt unter Kindern und Jugendlichen ständig weiter zunehme – und vor allem brutaler werde. Verantwortlich dafür soll unter anderem der Einfluss von Medien wie Gewaltvideos und Computerspiele sein, hier speziell die so genannten „Killerspiele“, wie es mit einem sehr unscharfen Begriff heißt.

Zumindest für den Bereich der Schulen scheint die Behauptung eines Anstiegs der Gewalt nicht zu stimmen. So berichtet der Bundesverband der Unfallkassen, dass nach einer zehnjährigen umfassenden Untersuchung (1993-2003) mit der Meldung aller erfassten Unfälle und Verletzungen im Schulbereich an die Unfallkassen – wozu die Schulen seit geraumer Zeit verpflichtet sind – der Umfang und die Schwere der Verletzungen rückläufig sind.

Quake 2

Auch die Mitteilungen der Polizeilichen Kriminalstatistiken über den angeblich drastischen Anstieg der Jugendgewalt sind mit Vorsicht zu genießen: Dort registrierte starke Zunahmen von krimineller Jugendgewalt haben offenbar mit einem erhöhten Anzeigeverhalten der Bevölkerung und der größeren Bereitschaft der Polizei zu tun, auch geringfügigere Vorkommnisse aufzunehmen. Klar ersichtlich ist, dass die Zahl der Gewalttaten Verdächtigter weit höher liegt als die tatsächliche Anzahl der dann auch Verurteilten. Eine echte Zunahme jugendlicher Gewalttaten scheint es vor allem im Bereich deutscher Heranwachsender mit Migrantenhintergrund zu geben (Christian Pfeiffer, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen).

Nun klagte man schon zu allen Zeiten in Schriften, Medien und der Politik über eine „Verwahrlosung“ und zunehmende Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen. Das reicht von der Antike bis dahin, dass 1956 der Deutsche Bundestag sogar eine Diskussion über die „randalierende Jugend“ auf die Tagesordnung setzte.

Dennoch ist festzuhalten, dass es das aktuelle Problem der Gewalt unter Kindern und Jugendlichen gibt und hier zudem immer jüngere Tatbeteiligte erfasst werden. Auch die zwar seltenen, aber in ihren Auswirkungen jeweils verheerenden Amokläufe oder School Shootings geben Anlass zur Besorgnis.

Worin liegen die Ursachen, und was ist zu tun?

Der Umgang mit im weitesten Sinne violenten Medien ist in Deutschland durch ein Tabu bestimmt: Gewalt ist in jedem Fall von Übel, so heißt es, egal ob sie sich in spielerischer oder zerstörerischer Form äußert.

Durch den Einfluss der Friedensbewegung und – pädagogik der Siebzigerjahre ist es zu einer Tabuisierung auch der kindlichen und spielerischen Gewalt gekommen, zu der etwa das Toben und Raufen unter Gleichaltrigen in Kindergarten, Schule oder beim Spielen draußen gehören. Dazu zählt auch das Rollenspiel mit „Waffen“ wie Spielzeugpistolen oder Naturgegenständen, die in der kindlichen Fantasie zu Gewehren oder Laserwaffen umfunktioniert werden. Aber: „Wir spielen hier nicht mit Waffen“1 ist ein Verdikt der radikal-pazifistischen Friedenspädagogik, das alle Lebensbereiche jedes Menschen umfasst. Dabei übersah man jedoch, dass das Ausagieren und Kanalisieren von Aggressionen auch in gewalthaltigen, aber nicht vorsätzlich verletzenden Spielformen zur natürlichen Entwicklung von Kindern, vorwiegend wohl von männlichen, dazugehört und nicht ohne Schaden für die charakterliche Entfaltung unterdrückt werden darf.

Pädagogen konnten dementsprechend in diversen Untersuchungen belegen, dass Kinder, die gewalthaltig wirkende Spiele ausüben durften, anschließend zu weniger aggressivem Verhalten und höherer sozialer Kompetenz neigen.

Häufig wird unterstellt, dass das Hören, Spielen oder Ansehen violenter Medieninhalte Kinder und Jugendliche in der Folge auch in der Realität aggressiver macht. Dazu fehlen freilich außer in einigen Untersuchungen mit kurzfristigen Effekten die Beweise – in manchen Fällen kann dagegen sogar das Spielen von Ego-Shootern „beruhigende“ Wirkung haben, wie Forscher für hyperaktive Kinder beim experimentellen Spielen des Ballerspiels Quake 2 nachwiesen.

Die Abneigung vieler Erwachsener vor allem gegen Action-Computerspiele und bestimmte Videos sowie die Furcht vor dadurch ausufernder Gewalt rührt zudem von einer bildungsbürgerlich gestimmten Aversion gegen typische, bewusst provozierende Ausdrucksformen jugendlicher Subkultur, zu der auch jeweils „angesagte“ Musik wie „Gangsta-Rap“ gehört.

Doch speziell die gern als Beispiel für die verrohende Jugend angeführten, aber zum Glück extrem seltenen Amokläufe haben vielfältige Gründe. Meist handelt es sich bei den Tätern um hoch gewaltbereite junge Menschen, die sich in ihrer Seele verlassen und verloren fühlen, oft keine Perspektiven mehr für ihr Leben sehen, und die zudem Zugang zu Waffen erhielten, etwa über Schützenvereine, bei denen sie das Schießen geübt haben. Der schlimmste Amoklauf in der Geschichte der USA an der Virginia Tech Universität im April 2007 fand jedenfalls völlig ohne Einfluss von „Killerspielen“ statt – der Student aus Südkorea hatte sich auf seinen Computer lediglich „unverdächtige“ Rockmusik geladen.

Doom

Selbstverständlich ist Jugendschutz nötig. Mindestens die Altersfreigaben der USK (Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle unter der Aufsicht eines Vertreters der Obersten Landesjugendbehörden) bei gewalthaltigen Computerspielen sind beim Verkauf und durch die Wachsamkeit der Eltern nachdrücklich einzuhalten - ein entsprechender Vorstoß von Familienministerin Ursula von der Leyen, allgemein „Gewalt beherrschte“ Spiele für Jugendliche automatisch zu verbieten, zeigt hier eher in die richtige Richtung als die überzogenen und unnützen Forderungen der bayerischen und niedersächsischen Innenminister nach einem absoluten Herstellungsverbot.2

Jugendschutz ist erforderlich, um unsere Kinder mit altersgerechten Inhalten zu fördern und nicht weil zu fürchten wäre, dass wir sonst amoklaufende Gewalttäter heranzüchteten – wäre dem so, müsste fast täglich eine derartige Tragödie stattfinden, denn Millionen von Jugendlichen und sogar Kindern spielen bereits seit Jahren weltweit die inkriminierten Shooter.

In Wahrheit aber, wie erwähnt, war die messbare Gewalt an Schulen in der Zeit seit dem Erscheinen des ersten berühmten Ego-Shooters Doom (1993) rückläufig. Kritiker müssten diese gegenläufige Entwicklung stichhaltig erklären, bevor sie unbewiesene Behauptungen formulieren, hinter denen offensichtlich ein eher politisches, ja populistisches Interesse steht.

Zudem würden sich in diesem Ausmaß gewaltbereite Jugendliche oder junge Erwachsene von Verboten nicht im Geringsten beeindrucken lassen. Selbst Kinder wissen heute, wie sie sich im Internet leicht Spiele und Videos aller Art besorgen können, notfalls aus illegalen, aber wegen ihrer Internationalität kaum zu überwachenden Tauschbörsen. „Killerspiele“ verbieten zu wollen ist purer Aktionismus und wird nicht einen Fall von Gewaltausbruch oder Amokläufen verhindern.

Selbst wenn das Abtauchen in die virtuellen Gewaltwelten im einen oder anderen Fall der Tropfen sein sollte, der das Fass zum Überlaufen bringt – was keineswegs erwiesen ist –würde ein solches Verbot niemanden mit derartiger krimineller, zu allem entschlossener Energie davon abhalten, sich diese Spiele doch zu besorgen.

Dagegen wäre echte Gewaltprävention an Schulen zwar sehr viel aufwändiger und teurer als das vordergründige Verbot der Herstellung und Verbreitung von „Killerspielen“. Organisierte, professionelle Kurse zur Gewaltprävention und flächendeckender Einsatz von Schulpsychologen bis hin zu Ganztagsschulen, so dass viele Kinder zuhause nicht mehr einfach sich selbst überlassen wären, sind mit hohen Kosten versehen, die aber zweifellos sehr gut angelegt wären.

Das reale Problem der Spielsucht

Ein anderes, in dieser Hinsicht sehr viel ernster zu nehmendes Thema ist allerdings die Gefahr der Spielsucht. Schon vergleichsweise „harmlose“ Spiele wie das Online-Rollenspiel World of Warcraft (USK ab 12 Jahren) können jüngere wie ältere Spieler dazu verführen, sich dieser Fantasy-Welt völlig zu überlassen und an nichts anderes mehr zu denken, als sich so schnell wie möglich wieder in das virtuelle Geschehen hineinzubegeben – wenngleich auch hier vor einer sinnlosen und oft ignoranten Verteufelung zu warnen ist. Es ist ja übrigens auffällig, dass einige der schärfsten Propagandisten eines Verbots oder umfassender Kontrolle solcher Spiele ältere Herren sind, die sich niemals persönlich auf die Erfahrung der beklagten Computerspiele eingelassen haben und von deren Faszination daher wenig verstehen.

Um die Suchtgefährdung bei Jugendlichen einzuschränken ist wiederum die bewusste Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern und anderer Erziehungspersonen nötig. Eltern müssen sich einfach darum kümmern und beachten, welche Spiele und in welchem Umfang ihre Kinder auf dem PC „zocken“. Dies aber weniger in Big-Brother-Mentalität des alles kontrollierenden und sanktionierenden Über-Ichs, sondern vielmehr durch teilnehmendes Interesse. Eltern können und sollen sich von ihren Kindern erzählen und erklären lassen, was ihr Nachwuchs spielt, worin die Faszination liegt und wie es sich „anfühlt“, gerade dieses Game zu spielen. Eltern sollten also unter „Anleitung“ ihrer Kinder auch selbst zur Maus oder dem Joystick greifen. Erst dann können sie kompetent mitreden. Allerdings müssen sie auch nicht davor zurückschrecken, im Zweifel Verbote auszusprechen oder den zeitlichen Umfang des Spielens klar zu limitieren.

Für effektive Maßnahmen gegen Spielsucht wie auch gegen zerstörerische Gewalt – die nicht mit der virtuellen Gewaltdarstellung in Computerspielen zu verwechseln ist! - ist unsere Gesellschaft als ganze aufgefordert, Kindern und Jugendlichen wieder mehr Gelegenheit zum freien Toben und Raufen bis hin zu regelmäßigem Sport und auch Kampfsportarten wie Taekwondo an den Schulen zu ermöglichen.

Unsere Städte gleichen oft Betonwüsten oder bestenfalls „kultivierten“ Parkanlagen, die keinen Raum zum kindgemäßen Spielen und Toben bieten. Auch Ganztagsschulen – sofern ein stimmiges pädagogisches Konzept vorliegt und die Finanzierung auf hohem qualitativen Niveau gesichert ist – können einen wichtigen Beitrag dazu liefern, die Kinder aus ihrer Vereinzelung und „Verinselung“ besonders in den größeren Städten herauszuholen und vom exzessiven Gebrauch von Unterhaltungsmedien aller Art konstruktiv abzuhalten. Die „Lust am Leben“ zu fördern, wie es der Kriminologe Christian Pfeiffer ausdrückt, ist ein sinnvoller Ansatz, der freilich methodisch im Detail erst noch zu erarbeiten ist.

Fazit

Gewalt muss sein – und zwar in klarer Abgrenzung spielerischer von zerstörerischer Gewalt. Kinder müssen toben und raufen dürfen, und sie brauchen für ihre seelische Entwicklung in gewissem Umfang auch „Monster“. Was Bruno Bettelheim einst für die Grimmschen Märchen zeigte, gilt heute unter anderen Vorzeichen für Computerspiele. Über das Ausmaß und den Umfang müssen Erwachsene als Eltern und Pädagogen und auch als Politiker unter Beachtung der Kriterien der USK unbedingt mitreden und vor allem mit der Jugend sprechen. Dies aber informiert und kompetent und nicht populistisch in harter Ablehnung bestimmter medialer Inhalte der Jugendkultur.

Statt Verbote braucht es Konzepte, Verständnis und Toleranz gegenüber kindlichen wie jugendlichen Verhaltensmustern mit wohl begründeten Grenzen. Und weniger Hysterie bei der Diskussion um Jugendgewalt, die bei weitem nicht so dramatisch ist wie oft behauptet.

Vom Autor erscheint am 3. September im Eichborn-Verlag das Buch "Schluss mit dem Gewalt-Tabu! Warum Kinder ballern und sich prügeln müssen" (ISBN 3821856637)