Ein unmoralisches Angebot

Weil die Grenzen zwischen Kind und Jugendlichem verschwommen sind, wird einem jungen Deutschen in der Türkei sexueller Missbrauch vorgeworfen

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In der Türkei sitzt ein 17jähriger Deutscher ein, weil er eine 13jährige Britin sexuell missbraucht haben soll; er selber räumt ein, es habe sexuelle Kontakte gegeben, die aber einvernehmlich gewesen seien. Außerdem habe das Mädchen gesagt, sie sei 15 und habe auch danach ausgesehen. Dennoch ist dies sowohl nach türkischem als auch nach deutschem Recht illegal. Ein klarer Fall also? Ja. Und nein.

Normalerweise wäre der junge Mann schnell nach Deutschland abgeschoben worden und wahrscheinlich auch dort vor Gericht gestellt worden. Aber in einer zutiefst sexualisierten Gesellschaft verschwimmen die Grenzen zwischen Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, erleben Heranwachsende ihr erstes Mal in einem immer jüngeren Alter; zunehmend ist nicht mehr erkennbar, was richtig, was falsch ist, was nichts daran ändert, dass es falsch bleibt, intime Kontakte zu Kindern zu suchen oder zu pflegen. Sie, möglicherweise auch junge Jugendliche, können nicht alle Aspekte ihrer Handlungen und deren mögliche Folgen voll durchblicken. Deshalb ist ihre Fähigkeit, Nein zu sagen, reduziert.

Die Versuche, dies gesetzlich zu regeln, haben dazu geführt, dass sexuell aktiv Jugendliche Gefahr laufen, kriminalisiert zu werden. Es ist ein gesellschaftliches Umdenken erforderlich: Kinder müssen wieder zu Kindern werden. Der Grund, warum Marco W immer noch in einem türkischen Gefängnis auf seinen Medien wartet, ist allerdings ein ganz Anderer: Die Berichterstattung über seinen Fall hat dazu geführt, dass die türkische Justiz ein Exempel statuieren will, vielleicht sogar muss.

Antalya ist Westen, nur enthemmter – denn es ist Urlaub

Antalya ist nicht Türkei. Es ist sogar sehr weit entfernt davon. Nur wenige Kilometer weiter landeinwärts ist Alkohol nicht tabu, weil es ihn gar nicht mal gibt, die Hosen reichen auch im Sommer bis zu den Schuhen und bei jungen Männern wird streng darauf geachtet, dass sie sich den obligatorischen Schnäuzer nicht wachsen lassen, bevor „die Zeit gekommen ist“, wie man hier, in den Dörfern der Landbevölkerung sagt.

Antalya ist anders: Durch die Innenstadt des Badeortes, in der die Waren auf Deutsch, Englisch und allen möglichen anderen Sprachen angepriesen werden, flanieren leicht bekleidete Touristen, bevor sie am Hotelpool die Hüllen vollends fallen lassen, und in der Nacht laden die Strände der Stadt zum Urlaubsflirt ein (man könnte natürlich auch auf die Sehenswürdigkeiten natürliche Schönheit des Umlandes und die Freundlichkeit seiner Bewohner hinweisen, aber darum geht es hier nicht). Antalya ist Westen, nur enthemmter – denn es ist Urlaub.

In dieser Stadt also, in deren heißen Nächten kaum etwas unmöglich ist, hat ein junger Deutscher eine junge Britin geküsst, und normalerweise wäre das keine einzige Zeile wert. Der Grund, warum es dennoch erwähnt werden muss, ist, dass das Mädchen erst 13 war, seine Eltern finden, dass dieses Alter zu jung zum Knutschen ist, und das vor allem, wenn der Partner schon 17 ist. Also sind sie zur Polizei gegangen, die den jungen Marco ins Gefängnis gebracht hat, wo er bleiben soll, bis ihm am kommenden Mittwoch der Prozess wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemacht wird. Deutschland ist entrüstet; in den Medien wird die Türkei als Dritte-Welt-Staat mit überkommenen Moral-Vorstellungen dargestellt. Zu Recht?

Sexuelle Kontakte mit Kindern sind eine Straftat

Was Moral ist, was nicht, muss jeder für sich selbst entscheiden. Nach Ansicht von Experten sollte dabei allerdings ein Grundsatz als unumstößlich gelten: „Sexuelle Kontakte mit Kindern müssen ein dogmatisches Tabu sein, weil ein Kind noch nicht weiß, was da gerade mit ihm geschieht, und deshalb auch die Fähigkeit Nein zu sagen, erst dann aufkommt, wenn es weh tut“, sagt ein Ermittler der Einheit für häusliche Gewalt und Sexualdelikte bei der israelischen Staatspolizei, der nur als B identifiziert werden darf, um seine Person und seine Arbeit zu schützen.

Abgesehen von den möglichen körperlichen Schäden, kann Geschlechtsverkehr Kinder traumatisieren. Deshalb ist es richtig und wichtig, ihn zu kriminalisieren, selbst dann, wenn das Kind zugestimmt haben sollte, und der Täter erst 16, 17 oder 18 gewesen sein sollte.

Und das haben sowohl der türkische als auch der deutsche Gesetzgeber getan: Absatz eins des Paragraphen 176 des deutschen Strafgesetzbuches sieht für sexuelle Handlungen an Kindern eine Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und zehn Jahren vor; ob diese Handlungen einvernehmlich waren, oder ob es das Kind war, das angefasst hat, während sich der ältere Partner passiv verhielt, zählt dabei nicht:

Es reicht, wenn der Täter oder die Täterin geduldet hat, dass diese Handlungen vollzogen wurden. Im Widerspruch zum Justizministerium, das erklärte, der junge Mann könne eine enventuelle Strafe nicht in Deutschland verbüßen, weil es sich bei seinen Handlungen in Deutschland nicht um eine Straftat handelt, hätte Marco W also auch nach deutschem Recht eine Straftat begangen und könnte dafür nach der eigens für Missbrauchsfälle geschaffenen Ziffer 8b des Paragraphen Fünf im Strafgesetzbuch in Deutschland vor Gericht gestellt werden, selbst wenn diese Tat im Ausland begangen wurde.

In westlichen Gesellschaften sind Kinder und Jugendliche zunehmend sexualisiert

Ein klarer Fall also? Ja und Nein. Marco W hat sich strafbar gemacht, wenn die Vorwürfe stimmen, und das dies so ist, hat er ja mittlerweile eingeräumt. Aber das es soweit kommt, hätte verhindert werden können, glaubt Polizist B:

Ich bin mir sehr sicher, dass es aufmerksamen Eltern aufgefallen wäre, denn es gibt immer Anzeichen. Allen voran hätten die Eltern des Mädchens genau hinsehen müssen, was ihre Tochter tut, vor allem wenn sie schon sehr reif aussieht und sich auch so kleidet, was ich an ihrer Stelle nicht zugelassen hätte. Aber ich weiß auch, dass dann oft zu Hause die Hölle los ist, weil ja alle anderen Kids auch so rumlaufen.

Denn in westlichen Gesellschaften sind Kinder und Jugendliche zunehmend sexualisiert: Selbst Zehn-, oder Zwölfjährige gehen bauchfrei, geschminkt oder mit enganliegender Kleidung, oder auch alles zusammen, auf die Straße, weil die Jungs/Mädchen der gerade angesagten Boyband/Girliesband so rumlaufen, weil der Gruppendruck nun mal groß ist, wenn man dazu gehören will. So sind in den Kinderabteilungen britischer Bekleidungsketten Kleidungsstücke zu haben, mit denen manche ihre Frau nicht auf die Straße lassen würden, wenn sie denn auf sie hören würde. Es ist Mode, keine Einladung.

Aber Andere könnten es als Einladung interpretieren, und das Kind könnte sie annehmen, weil es seine eigenen Gefühle noch nicht interpretieren kann. Richtig wird die Sache damit nicht, aber es wird schwieriger, zu erkennen, dass diese Handlung falsch ist. „Die Grenzen zwischen Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen sind heute stark verschwommen: Jugendliche erleben ihr erstes Mal zu einem immer früheren Zeitpunkt; ihr Verhalten hat sich stark sexualisiert, und die elterliche Toleranz dafür ist größer geworden“, sagt der Sexualtherapeut Michael Harnisch:

Das ist eine sehr problematische Entwicklung, denn Kinder können nicht erkennen, welche Folgen dieses Verhalten für sie haben kann – dafür sind die Eltern da.

Wenn man sich die Medienberichte über den Fall Marco W anschaut, und die Beiträge in den Leserforen liest, dann könnte man allerdings zu der Ansicht gelangen, dass die meisten das Alles als völlig harmlos betrachten, weil der junge Deutsche ja erst 17 und die jüngere Britin ja schon 13 sei. Außerdem habe sie ja gesagt, sie sei 15. In der Tat bestätigen Hotelangestellte, mit denen ein Kollege vor Ort sprach, das Mädchen habe sehr reif ausgesehen.

Wenn das, was Marco W getan habe, strafbar sei, heißt es in einem Forum, dann müssten künftig Millionen von jungen Deutschen eine Gefängniszeit in ihrem Lebenslauf einplanen. „Oder vielleicht würde es reichen, wenn die Eltern mal grundsätzlich darüber nachdenken, wie sie ihre Kinder erziehen“, sagt Polizist B, der von ähnlichen Problemen in Israel zu berichten weiß:

Man muss nicht jedem Trend blind folgen – und vor allem muss das eigene Kind nicht alles sehen, lesen, anziehen und tun dürfen, was es will, Mit 17 kann man allerdings Verantwortungsbewusstsein verlangen, auch wenn es darum geht, mit wem man ins Bett geht. Ich habe bei dem Fall, wie bei vielen meiner Eigenen auch, beobachtet, dass bei Jugendlichen das Unrechtsbewußtsein für so etwas abhanden gekommen ist.

In Israel stehen derzeit mehrere Jugendliche vor Gericht, denen sexueller Missbrauch vorgeworfen wird; ihre Verteidigung ist ähnlich.

Ist Marco das Opfer?

Aber im Fall Marco W ist der junge Deutsche in den Medien längst zum Opfer geworden: Er sitzt kahl geschoren in einem türkischen Gefängnis, in dem er sich eine Zelle mit 30 Verbrechern teilen muss, und das schon sehr lange. Das ist hart, und möglicherweise unverhältnismäßig.

Aber wer ihn zum Opfer macht, muss auch über das Argument nachdenken, dass 17 eben nicht 13, seine Handlungen möglicherweise weitreichende Folgen hätten haben können, und in diesem Alter nach Ansicht von Psychologen in der Regel ein reflektiertes Handeln möglich ist – eine Annahme, die Gesetzgeber und Öffentlichkeit als Basis für eine Reihe von Gesetzen und Initiativen dient: In Deutschland wird, mal mehr, mal weniger, über die Einführung von Wahlrecht und Führerschein für 16jährige diskutiert, Bier dürfen sie schon seit Ewigkeiten trinken und heiraten auch, wenn ihnen die Behörden das erlauben.

13Jährige hingegen gelten als nicht strafmündig, denn das sogenannte „Schutzalter“ liegt bei 14 Jahren: Bis dahin geht der Gesetzgeber davon aus, dass es sich um ein Kind handelt, das den umfassenden Schutz von Eltern und Staat verdient, weil es nicht dazu in der Lage ist, das volle Ausmaß seiner Handlungen zu überblicken, was meist dann relevant wird, wenn es um Haftungsfragen geht, oder das Kind die Waren aus dem Supermarkt trägt, ohne dafür zu bezahlen – oder eben im Falle sexuellen Missbrauchs.

Ab wann hört man denn nun auf Kind zu sein?

In Zeiten der Massen-Berichte über Klau-Kinder und rüpelnde Rütli-Schüler ist allerdings die Forderung aufgekommen, das Alter der Strafmündigkeit auf zwölf herabzusetzen. Ab wann hört man denn nun auf Kind zu sein? Ab wann darf der Nachwuchs zum ersten Mal ran? Mit zwölf, 14, 16, 18? „Ich würde sagen, eher später als früher, wenn es um Sex geht“, sagt Sexualtherapeut Harnisch:

13 ist für sexuelle Handlungen eindeutig zu früh. Und was die Strafmündigkeit betrifft: Die sollte auch bei 14 bleiben, und stattdessen die Instrumente geschaffen werden, um die Eltern stärker in die Pflicht zu nehmen.

Ob Marco W für längere Zeit im Gefängnis bleiben muss, hängt von den Richtern in Antalya ab, die am komenden Mittwoch seinen Fall hören werden. Seine Karten stünden schlecht, ist man sich bei der dortigen Staatsanwaltschaft sicher:

Er hat ja selbst gesagt, dass er zugelassen hat, dass das Mädchen ihn berührte und dass er mit ihm schlafen wollte. Meiner Ansicht nach war erkennbar, dass sie nicht 15 war.

Ob sich das Gericht davon selbst ein Bild wird machen können, ist unklar, denn noch ist nicht sicher, ob sie zum Verfahren erscheinen wird. Es sei eine Vorladung zugestellt worden, heißt es in der Pressestelle der türkischen Botschaft in London. Ein britischer Kollege, der mit den Eltern gesprochen hat, zitiert sie mit den Worten, dass Mädchen sei „stark traumatisiert“; man sei sich nicht sicher, ob die Teilnahme am Verfahren das Richtige sei.

“Türkische Beamte und Politiker sehen sich vom Westen verfolgt“

Dass es überhaupt zu einem Prozess in der Türkei kommt, liegt derweil ausgerechnet an der Berichterstattung, von der sich Marco Ws Eltern zunächst erhofft hatten, dass sie ihren Sohn freipressen könnte – das Gegenteil war der Fall. „Normalerweise schieben wird Ausländer, mit deren Heimatland die Türkei ein Abkommen hat, so schnell wie möglich ab, damit sie in ihrer Heimat vor Gericht gestellt werden“, sagt eine Sprecherin des Justizministeriums in Ankara: „In diesem Fall haben wir allerdings die Befürchtung, dass er in Deutschland nicht mit dem erforderlichen Nachdruck verfolgt werden würde.“

Der Journalist Kenan Yigenoglu von der Zeitung Cumhuriyet macht dafür drei Gründe verantwortlich:

Es war verkehrt, den Fall in die Medien zu bringen – türkische Beamte und Politiker sehen sich vom Westen verfolgt; die negative Darstellung der türkischen Justiz hat dazu geführt, dass diese jetzt alles hundertprozentig machen will und die Öffentlichkeit sieht das Ansehen der Türkei durch die einseitige Berichterstattung beschmutzt. Den jungen Deutschen jetzt auszuliefern würde bedeuten, dem Druck nachzugeben, und das wäre ein Gesichsverlust. Und wenn er dann auch noch nicht vor Gericht gestellt werden sollte – dann wäre das eine Katastrophe, weil die Regierung gerade gegen die Kinder-Ehen vorgeht.

Gesetze gegen sexuellen Missbrauch von Kindern in der Türkei wegen Druck aus Europa verschärft

Denn während in Antalya die Touristen leicht bekleidet die Einkaufstraßen hinunter flanieren, am Pool die Hüllen fallen lassen und abends am Strand in die Sommernacht hinein flirten, war es nur wenige Kilometer weiter landeinwärts bis vor Kurzem üblich, Mädchen noch im Kindesalter an ältere Männer zu verheiraten.

Die Gesetze gegen sexuellen Missbrauch von Kindern wurden vor allem deshalb verschärft; dass man sich des Problems annahm, war auf den Druck aus der Europäischen Union zurückzuführen, in die die Türkei aufgenommen werden will, und deren Mitgliedsstaat Deutschland sie jetzt dafür kritisiert, dass die Türkei diese Gesetze anwendet.

Dass Jugendliche immer früher Sex haben, und dass sie dabei auch, wissentlich oder unwissentlich, an Kinder geraten, mit denen sie diesen eigentlich nicht haben dürften und dabei immer öfter nichts Verkehrtes finden, weil Kleidung und Verhalten sie glauben lassen, dass das in Ordnung geht, daran werden diese Gesetze nichts ändern können.

Die Gesetze müssen bleiben, und angewendet werden, wir dürfen die Grenze nicht verschwimmen lassen – diejenigen, die es wissentlich tun, müssen dafür bestraft werden, aber es ist auch ein gesellschaftliches Umdenken erforderlich.

Michael Harnisch