Rabeneltern

Die Sensationspresse als untaugliche Elternschule der Nation

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Im Moment haben wieder andere Themen Konjunktur, aber bis vor kurzem waren Erwachsene, die ihren Kindern schlechte Eltern sind die absoluten Quotenbringer - und sie werden es auch in Zukunft wieder sein. Vernachlässigte, zurückgelassene oder gar getötete Kinder werden wieder zuverlässig auf den ersten Seiten der Zeitungen auftauchen und im Fernsehen durchgehechelt werden. Die wohlfeile Empörung über die elterlichen Versager geht aber am Problem vorbei.

Kinder sind anstrengend. Nicht auf die Art, wie ein anstrengender Beruf anstrengend ist, sondern eher wie eine lange Krankheit mit ungewisser Prognose, die massive sozial massive Nachteile mit sich bringt. Der Prozess, in dem aus Kindern Leute werden, ist entsetzlich mühsam und fordert Erwachsene geistig und körperlich bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit - und oft genug darüber hinaus.

Lärm, Streit, Dreck, zerstörte Einrichtungsgegenstände, Windpocken & Co., verpasste soziale Gelegenheiten en masse, grotesk überteuerte oder gar verunmöglichte Urlaube, Ansprüche, Frustrationen, Zumutungen. "Ich könnte sie manchmal an die Wand klatschen" - der häufig von Eltern zu hörende Spruch, meist mit einem schiefen, fatalistischen Grinsen vorgetragen, ist oft weniger metaphorisch gemeint, als die kinderlosen Freunde glauben. Für die sehr konkreten Qualen der Elternschaft hat die Gesellschaft wenig mehr anzubieten als ein paar dumme Sprüche. "Aber es ist doch auch schön!" - das sagt der mit leichtem Herzen, der das Vergnügen noch nie hatte, und der mit schwerem Herzen, der es schon allzu deutlich hatte - weil dieser Spruch in den Momenten, um die es hier geht, nichts als ein Strohhalm ist.

Über den Ausbau von Beratungsmöglichkeiten für Eltern und Betreuungsmöglichkeiten für Kinder wird viel und gern geredet, in der Praxis ergibt sich der Eindruck eines allgemeinen Abbaus.

Kinder sollen her - aber nach konkreter Vorbereitung auf die Elternschaft in der Schule oder nach einem allgemeinen Angebot an alle Erwachsenen mit Kinderwunsch, sich über ein paar Grundlagen zu informieren, sucht man vergebens. Und bei den kirchlichen und sonstigen Beratungsstellen hört ein Paar wohl auch eher selten den Tipp, dass es doch besser auf Kinder verzichtet, wenn weder Großeltern zur Verfügung stehen, noch die nötigen Mittel, um Tagesmütter und andere kostenintensive Entlastungsmöglichkeiten zu bezahlen. Dann ist oft nämlich ganz schnell Schluss mit dem Elternglück und die kitschbunt ausgemalte Familienharmonie verwandelt sich einen endlosen Alptraum, der allen Beteiligten auf der Seele lastet.

Der Untergang der Großfamilie mit ihren patriarchalen Zwängen und ihrem Traditionsgehubere ist ja schon ein Segen; dass ein Ersatz fehlt, der die positiven Aspekte weiterführt, eher nicht. Und wenig hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Gesellschaft zwar diesen Ersatz nicht bereithält, aber eine Menge Vorstellungen davon, wie das ideale Kind zu sein hat. Nicht zu angepasst, nicht zu rebellisch, nicht zu dünn, aber neuerdings vor allem nicht zu dick, seit Kitazeiten (vorausgesetzt, es gab eine Kita) mit Fremdsprachen vertraut, "selbstwirksam" (vgl. Kevin und die Selbstwirksamkeit)und sozial allseits kompetent.

Wenn man der Pädagogik früherer Jahrhunderte vorgeworfen hat, sie hätte aus Kindern kleine Erwachsene machen wollen, so könnte man der aktuellen vorhalten, sie wolle Kinder in Supererwachsene verwandeln. Die derzeit gültige Idealvorstellung vom Kind präsentiert es als eine Art Schweizer Klappmesser, das für jede denkbare Problemlage ein schlaues Miniaturwerkzeug an Bord hat.

Herstellen sollen diesen Zustand die Eltern. Und für den Fall, dass das katastrophal nicht funktioniert, gibt es ja immer noch die Sensationspresse und ihre Gegenstücke in den anderen Medien. Da kann man dann lesen, wie aus den Müllfamilien der "bildungsfernen Schichten" die Hauptschulversager erwachsen, wie Großväter die Knochen ihrer Enkel aus dem Waldboden buddeln, von den Eltern verlassene Geschwisterkinder jahrelang allein durchkommen müssen, ungewollte Kinder in irgendwelchen Verliesen verhungern. Das Publikum geilt sich an Schauergeschichten auf und wird gleichzeitig "erzogen", indem man ihm vorführt, wohin’s kommen kann, wenn es sich nicht endlich aus dem Nichts heraus zur guten Elternschaft bekehrt - das von Schiller projizierte Theater als moralische Anstalt ist in diesem modernen Bänkelsang endgültig auf den Hund gekommen.

An den Zuständen, die solche Zustände möglich machen, wird nie gerüttelt. Wenn’s hoch kommt, werden die Jugendämter für ihr Versagen bei den grausigsten Fällen gegeißelt; wie die unterfinanzierten und überlasteten Jugendämter ihrer Aufgabe aber ohne Zauberei nachkommen sollten, wird nicht gefragt.

Ein kluger Sexualkundeunterricht zur Vermeidung ungewollter Schwangerschaften, flächendeckende Kitabetreuung für Kleinkinder (und nicht nur das endlose Geschwätz darüber), ein konsequenter Ausbau von Beratungs- und Therapiemöglichkeiten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene könnten hier längst nicht alles gut machen, aber vieles verbessern. Stattdessen ist das Thema in den Händen von Leuten, die damit Auflage und Quote machen. Und dadurch ist dafür gesorgt, dass genau diesen Leuten der Stoff nie ausgeht.