"Das hält doch kein normaler Mensch so lange aus!"

Die Allianz profiliert sich als Speerspitze des Verbraucherschutzes und führt den Prozess gegen eine Mängelleistung der Sängerin Nena fort

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"Nena", die mit bürgerlichem Namen Gabriele Kerner heißt, sollte auf einer "Incentive-Veranstaltung" für vier- bis fünfhundert verdiente Allianz-Mitarbeiter singen. Doch während ihres 25 - 30 Minuten dauernden Auftritts verließ mindestens die Hälfte der Anwesenden den Saal, der Rest blieb angeblich zum größten Teil nur deshalb, weil nach dem Auftritt die "Ziele" für das neue Jahr bekannt gegeben wurden. Deshalb forderte die Allianz eine Rückzahlung der Hälfte des Honorars von etwa 100.000 (nach anderen Angaben sogar 120.000) Euro. Als die Sängerin dies verweigerte, strengte die Versicherung beim Landgericht München I eine Klage auf „Minderung und Schadensersatz“ an.

Der Allianz-Anwalt beklagte, dass es sich um eine Firmenveranstaltung "auf höchstem Niveau" gehandelt habe. Doch warum hatte man dann Frau Kerner engagiert? Lag eine Verwechslung vor? Oder wurde die Allianz vielleicht absichtlich getäuscht? Aufgrund dieser verrätselten Ausgangslage vermuteten einige, dass hier "schon vor dem Auftritt einiges schief gelaufen" sein musste. Im Lawblog befand dazu ein Leser:

"Weg mit den Aktien, falls Sie welche haben! Die Allianz hat Frau Kerner 120.000 Euro für einen (!) Auftritt gezahlt. Vertretbar wären höchstens 1,20 Euro gewesen. In diesem Unternehmen werden Entscheidungen von Irren getroffen. Oder von Zufallszahlen."

Bemerkenswert war die Klage auch insofern, als "Künstlerverträge" in der Regel als Werkverträge eingestuft werden und an das Werk – abgesehen von der Länge – nur wenig objektive Kriterien angelegt werden können. Deshalb brachte die Allianz eine weiteres Argument ins Feld: Die Sängerin habe bei ihrem Auftritt die Versicherung und ihre Mitarbeiter beleidigt. Da die Rechtsprechung zur künstlerischen Freiheit bei Werkverträgen allerdings einiges abdeckt, musste schon massiv beleidigt worden sein, wenn die Allianz tatsächlich mit Erfolgsaussichten klagen wollte.

Der Finblog spekulierte deshalb, ob die Sängerin vielleicht ihre Texte etwas abgewandelt und gesungen habe: “Irgendwie, irgendwo, irgendwann kriege ich endlich den Wasserschaden bezahlt” oder “Liebe ist wenn ihr mich ohne Verlust aus der Lebensversicherung rauslasst” - und ein Lawblog-Leser mutmaßte, ob die Sängerin nicht vielleicht die Otto-Waalkes-Version der Allianz-Werbehymne vorgetragen hatte:

“Bist du Arroganz-Versichert

hast du völlig ausgekichert

denn mit der Arroganz beginnt vom ersten Augenblick

das Bündnis mit dem Strick.”

Doch was war tatsächlich geschehen? Was waren die ominösen "Beleidigungen"? Die Allianz schwieg sich aus und so konnte nur die mündliche Verhandlung am 2. Juli 2007 vor dem Landgericht München I Klarheit bringen.

Dort hatte die Versicherung eine eindrucksvolle Auswahl von Zeugen des Auftritts aufgeboten, die unisono bemängelten, dass die Sängerin bei dem Auftritt augenscheinlich betrunken gewesen sei. Als unangenehm wurden auch Titulierungen wie "Krawattenträger", die Anrede mit "Ey" und Animationsversuche wie "kommt doch nach vorne", "singt doch mit" und "habt doch keine Angst" empfunden. Als ein Zeuge ständige Wiederholungen kritisierte, wurde er vom Anwalt Frau Kerners darüber belehrt, dass dies das "künstlerische Konzept" sei. Besondere Heiterkeit rief eine ältere ostdeutsche Augenzeugin hervor, die "Drogeneinfluss" vermutete und dies durch vierminütiges Headbangen des Musikers "mit den langen Haaren" begründete. Ein anderes Highlight war ein Zeuge, der den Auftritt mit dem von Kanzler Schröder am Wahlabend 2005 verglich. Der ehemalige Musikagent von Frau Kerner meinte dagegen, die Show sei nach den Auftrittsstandards von Nena "nichts ungewöhnliches" gewesen.

Ebenfalls gekränkt sahen sich viele der ob ihrer besonderen Erfolge geladenen Versicherungsmakler offenbar auch durch den Animationszuruf, sie mögen doch mitsingen, denn – so die Sängerin auf der Veranstaltung: "Singen kann jeder – genauso wie Versicherungen verkaufen". Den größten Unmut scheint bei den Allianz-Mitarbeitern aber eine Äußerung hervorgerufen zu haben, die von den Zeugen in leicht verschiedenen Versionen wiedergegeben wurde: Danach habe Frau Kerner gesagt, dass sie ihre Allianz-Krankenversicherung entweder gerade gekündigt habe oder kündigen wolle. War die Sängerin eventuell mit der Leistung ihrer privaten Krankenversicherung ähnlich zufrieden wie die anwesenden Allianz-Mitarbeiter mit ihren musikalischen Leistungen? In der Verhandlung wurde diese Frage nicht beantwortet. Allerdings bietet Michael Moores neuer Film Sicko einige Anhaltspunkte dafür, dass es vor allem die krank gewordene n (ehemaligen) Kunden sind, die an dem System der privaten Krankenversicherung etwas auszusetzen haben.

Da nicht alle geladenen Zeugen erschienen waren, kam das Gericht zu keinem Abschluss, legte den gegnerischen Parteien aber nahe, sich mittels einer Spende der Sängerin an eine gemeinnützige Organisation gütlich zu einigen. Der Unterhaltungswert der Verhandlung überstieg nicht nur den der durchschnittlichen Fernsehgerichtsshow bei weitem, sondern wahrscheinlich auch den der "Incentive-Veranstaltung" mit Nena-Konzert. Finanziert wurde beides von der Allianz – allerdings mussten die Zuhörer der Verhandlung vorher nicht eine bestimmte Menge an Versicherungen verkaufen, sondern konnte sie kostenlos genießen. Von daher ist im Interesse der Öffentlichkeit zu hoffen, dass sich die Parteien nicht auf einen Vergleich einigen und bald eine neue Verhandlung mit neuen Zeugen ansteht.