Ecuador: Erste Risse im strahlenden Bild

Auf dem Weg zur neuen Verfassung gibt es viele Unsicherheiten

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Ende April war Rafael Correa mit einer Akzeptanzrate von 76 % der beliebteste Präsident Lateinamerikas. Jetzt sind es noch knapp über 60 %. Doch statt über die Ursachen dieses Popularitätsverlustes nachzudenken, beginnt Correa, die Umfrageergebnisse von Cedatos-Gallup anzuzweifeln. Dabei sagt er selbst, dass mit den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung am 30. September die „Mutter aller Schlachten“ noch bevorsteht.

Rafael Correa. Bild: presidencia.gov.ec

Ab 31. Oktober dieses Jahres wird in Ecuador die Verfassunggebende Versammlung zusammenkommen. Bestehen wird sie aus 130 Männern und Frauen, die in 180 Tagen über die neue Verfassung entscheiden sollen. Derzeit prüft das oberste Wahlgericht, ob die politischen Parteien und sozialen Bewegungen, die bis 18. Juni ihre Kandidatenlisten eingereicht haben, auch wie gefordert Unterschriften von einem Prozent der Wahlberechtigten in ihrem Wahlbezirk mitbringen. Ein guter Teil der Listen scheitert offenbar an dieser Anforderung. Andere erfüllen die Quotenregelung nicht und fallen so ebenfalls aus dem Rennen: Erstmals in der Geschichte des Landes wird das Quotengesetz angewandt, das vorschreibt, dass sich männliche und weibliche Kandidaten auf den Listenplätzen stets abwechseln müssen.

Selten bestand soviel Hoffnung in dem kleinen südamerikanischen Land, dass der tiefgreifende Wandel, den die arme Bevölkerungsmehrheit braucht, diesmal gelingen könnte. Das Referendum vom 15. April für das Ja zur neuen Verfassung (Überwältigender Sieg für Correa) hatte geradezu Euphorie ausgelöst. Doch allmählich zeichnet sich ab, dass weder die Popularität des meist strahlenden Präsidenten noch die Verfassunggebende Versammlung an sich die erhoffte, sozial gerechte Neugründung der Gesellschaft garantieren.

Eine breite, offene und informierte Debatte tut Not

Inhaltliche Vorschläge für die neue Verfassung werden in Ecuador bislang kaum öffentlich diskutiert. Während im Süden des Landes Indigene und Kleinbauern gegen großflächige Bergbaukonzessionen protestieren, reagiert die Regierung Correa mit Verärgerung und Repression. Bergbau hat in der Vergangenheit aufgrund katastrophaler Konzessionsbedingungen ganze 0,3 % zum Bruttosozialprodukt Ecuadors beigetragen, droht jedoch andererseits, die Ökologie ganzer Landstriche zu verwüsten. Auf diese Weise werden notwendige Räume für eine Auseinandersetzung über Kernfragen der ökonomischen und politischen Zukunft des Landes geschlossen, noch bevor sie entstehen konnten.

Eine neue Verfassung ist keine Wunderwaffe. Noch ist längst nicht ausgemacht, ob sie tatsächlich den Umbau der ecuadorianischen Gesellschaft hin zu mehr Gerechtigkeit ins Rollen bringen, oder ob sie, wie so viele Verfassungen, lediglich auf dem Papier glänzen wird. Das hängt in entscheidendem Maß von der Mobilisierung sozialer Bewegungen ab, davon, inwieweit die Bevölkerung sich die Verfassung als Instrument für die politische Alltagspraxis aneignet und ihre tatsächliche Anwendung erkämpft – ähnlich, wie es in den ersten Jahren der Präsidentschaft von Hugo Chávez in Venezuela der Fall war. Ein weniger ermutigendes Beispiel ist Bolivien, wo die Verfassungsgebende Versammlung sich gerade ihre Frist um ein halbes Jahr bis Mitte Dezember 2007 verlängert hat, weil auf Grund politischer Blockaden nach 10 Monaten Debatte noch kein einziger Artikel der neuen Verfassung verabschiedet ist.

Bei der Aufstellung der Wahllisten in Ecuador war von den winds of change, die das Land ansonsten beflügeln, nicht allzu viel zu spüren. Wahltaktische Erwägungen und große Namen bestimmten die Listenplätze mehr als inhaltliche Kompetenz oder demokratische Repräsentativität. Eine lange eingespielte politische Kultur lässt sich in sechs Monaten Regierung Correa nicht umstülpen. Sie kommt bei jeder Gelegenheit an die Oberfläche, und es bedarf sehr bewusster Anstrengungen, sie zurückzudrängen.

Rafael Correa selbst sagte bei der Eintragung der regierungsnahen Liste Movimiento País, auf der u.a. auch Models und Filmschaffende kandidieren: „Das ist die Mutter aller Schlachten. Wenn wir die verlieren, haben wir den ganzen Krieg verloren.“ Dieser Prioritätensetzung entsprechend hat die Regierung ihre Kandidatenliste mit großen Namen ausgestattet – sogar um den Preis, das eigene Kabinett auseinander zu nehmen.

Angeführt wird die regierungsnahe Liste vom bisherigen Energieminister Alberto Acosta, dem geistigen Vater einer Initiative zum Verkauf von Öko-Bons für Barrel ungefördertes Erdöl aus dem Amazonasgebiet. Ein Ölfeld, welches genau unter dem größten Nationalpark des ecuadorianischen Amazonas liegt, soll unangetastet bleiben, wenn Gläubiger aus dem Norden der Regierung dafür Schulden für die Hälfte der erwarteten Gewinne aus diesem Ölvorkommen erlassen. Diese Kombination aus Umwelt- und Energiepolitik will Alberto Acosta nun von der Verfassunggebenden Versammlung aus weiter betreiben – ab Oktober wird diese das mächtigste politische Gremium Ecuadors sein. Begleitet wird er auf der Liste von Mónica Chuji, der indigenen Ex-Kommunikationsministerin und Regierungssprecherin von Correa. Mit Chuji und Acosta haben die beiden Minister, die die besten Beziehungen zu den sozialen Bewegungen des Landes hatten, das Kabinett auf eigenen Wunsch verlassen und auf die Verfassunggebende Versammlung gesetzt. Darüber, ob dies ein erstes schlechtes Zeugnis für die Regierung Correa darstellt, darf spekuliert werden.

Entgegen den Erwartungen mancher Linker hat Correa den Vorschlag einer nationalen linken Einheitsliste für die Verfassunggebende Versammlung zurückgewiesen. Zwar wurden regionale Bündnisse mit anderen linken Listen geschlossen, doch nicht auf nationaler Ebene - in der Verfassunggebenden Versammlung solle eine sichtbare Vielfalt progressiver Kräfte vertreten sein. Kritiker befürchten, das könne die Linke insgesamt ihre Mehrheit in der Versammlung kosten – zumindest bei manchen, umstrittenen Themen.

Mögliches Aus für das linke Projekt

Da die Verfassunggebende Versammlung über allen drei bestehenden politischen Gewalten stehen wird, möchte der Präsident ihr formal am ersten Sitzungstag seinen Rücktritt präsentieren. Ob er im Amt bleibt, hängt dann von den Mehrheitsverhältnissen in der Versammlung ab. Correas etwas voreilige Äußerung, die Verfassunggebende Versammlung werde sogleich auch das Parlament auflösen – was zwar sehr gut möglich ist angesichts der Unbeliebtheit der derzeitigen Abgeordneten, aber noch lange nicht ausgemachte Sache ist - , sorgte in den Medien für große Aufregung. Denn diese Entscheidung wird nicht von Correa abhängen, sondern vom Wahlverhalten der Constituyentes.

Verschiedene soziale und Bürgerbewegungen haben sich an der Zusammenstellung der Wahllisten beteiligt. Auf nationaler Ebene sind es 20, doch gibt es noch zahlreiche Listen auf Provinzebene und sogar für die ausgewanderten EcuadorianerInnen, die in Spanien, Italien oder den USA leben. Verhandlungen der indigenen Dachorganisation CONAIE um eine gemeinsame Liste mit Acción Ecológica und anderen scheiterten im letzten Moment. Die CONAIE-nahe Partei Pachakutik verhandelte ihrerseits um eine Einheitsliste mit der Sozialistischen Partei und ging ein Bündnis mit der politischen Organisation der ehemaligen Guerillabewegung der 80er Jahre, Alfaro Vive Carajo, ein. Diesem wurde allerdings in der Hauptstadtprovinz die Kandidatur wegen fehlender Unterschriften bereits versagt. Eine weitere Dachorganisation der afroecuadorianischen und indigenen Bevölkerung, die FENOCIN, hat sich mit anderen Organisationen in einem Block namens Asamblea Nacional Constituyente zusammengeschlossen.

Die ecuadorianische Rechte hat, nachdem sie die Verfassunggebende Versammlung nicht verhindern konnte, nun ebenfalls ihre Kandidatinnen in Position gebracht. Ex-Präsident Lucio Gutiérrez und seine Partido Sociedad Patriótica wollen sogar eine Führungsposition in der Constituyente einnehmen.

Indígena-Bewegung geschwächt

Die Verfassunggebende Versammlung wird nicht nur Präsident und Parlament absetzen können, sie wird auch alle Inhalte der Verfassung von 1998 aufheben und neu zur Debatte stellen. Dies ist in Bezug auf das neoliberale Entwicklungsmodell, das in der alten Verfassung festgeschrieben ist und das der Ökonom Correa durch ein sozial gerechteres Modell ersetzen will, zweifellos erfreulich. Doch beispielsweise in Sachen Menschenrechte gilt die Verfassung von 1998 als eine der fortschrittlichsten des lateinamerikanischen Kontinents – und es gibt keine Garantie dafür, dass die Verfassung von 2008 das auch sein wird.

2006 war die indigene Bewegung noch auf der Strasse

Eine wirklich partizipative Demokratie funktioniert nur, wenn die Basisbewegungen unabhängig von der Popularität und Kohärenz der Regierung ihre Interessen selbst geltend machen können. Die Indígena-Bewegung Ecuadors, die im Frühjahr 2006 noch massiv gegen das Freihandelsabkommen mit den USA auf den Straßen präsent war, ist allerdings seit mehreren Monaten kaum öffentlich in Erscheinung getreten und politisch längst nicht mehr so stark wie noch um die Jahrtausendwende. Die CONAIE-nahe Partei Pachakutik hat immer noch mit den Folgen ihrer Regierungsbeteiligung unter Präsident Lucio Gutiérrez zu kämpfen, der im April 2005 von der Bevölkerung aus dem Amt gejagt wurde.

Doch steht mit der Constituyente nichts Geringeres als das gerade erst 1998 von den Indígenas erkämpfte Selbstverständnis Ecuadors als multiethnische Nation zur Disposition; ferner die Festschreibung indigener Territorien (die trotz dieser Verfassungsbestimmung bisher nur teilweise gesetzlich festgelegt und abgegrenzt worden sind,) und das Recht, in den Dörfern traditionelles Recht zu sprechen. Gerade die Frage um effektiv geschützte Territorien ist ein Knackpunkt der Debatte zwischen Indígenas und Regierung, da letztere ihr Projekt weitgehend auf die ökonomische Ausbeutung von Naturressourcen aufbaut.

Doch während die CONAIE im Vorfeld der Verfassung von 1998 eine eigene Parallelversammlung ins Leben rief und an mehreren runden Tischen um interkulturelle Inhalte in der neuen Verfassung rang, ist bisher nicht deutlich geworden, mit welchen inhaltlichen und Mobilisierungs-Ressourcen sie sich der diesjährigen Herausforderung stellen kann. Ausdruck hiervon ist beispielsweise, dass auf der nationalen Wahlliste, an der Pachakutik beteiligt ist, ein einziger indigener Kandidat steht, obwohl diese Partei einmal als politischer Arm der indigenen Bewegung galt.

Lebensschützer auf dem Vormarsch

Ähnliches gilt auch für gender-spezifische Menschenrechte wie z.B. das Anti-Diskriminierungsgebot, das seit 1998 auch die sexuelle Orientierung mit einschließt - in einem Land, in dem Homosexualität unter Männern noch bis 1997 ganz offiziell ein Straftatbestand war, der mit 4 bis 8 Jahren Gefängnis geahndet wurde. Die konservativen Kräfte in der Bevölkerung, insbesondere die Kirchen, bereiten sich schon lange mit eigenen Kampagnen auf die Verfassunggebende Versammlung vor. Die Katholiken zum Beispiel wollen ein Abtreibungsverbot gleich in der Verfassung verankern, um neue Vorstöße von Frauengruppen für eine Indikationsregelung, wie sie im letzten Jahr im Parlament gescheitert ist, von vorneherein zu unterbinden. Da Correa selbst überzeugter Katholik ist, bleibt unklar, ob er sich einem solchen Ansinnen entgegenstellen würde.

Es wird also einer gut koordinierten Vertretung der Interessen der Frauen in der Versammlung selbst bedürfen, um hier Rückschritte zu verhindern. Zwar organisierte der Nationale Frauenrat CONAMU, das Äquivalent zu einem Frauenministerium, eine Serie von Vorversammlungen für die weibliche Bevölkerung – doch sind deren Ergebnisse öffentlich kaum bekannt geworden.

Auch wenn im Moment für die ecuadorianische Linke noch alles glatt zu laufen scheint, könnte genau dies ihr zur Falle werden. Die Verfassunggebende Versammlung beinhaltet das Risiko, das linke Projekt, das Ecuador derzeit beflügelt, abrupt zu beenden. Und: Eine Verfassung ist wenig mehr als eine Grundsatzerklärung, wenn es nicht den nötigen politischen Druck gibt, sie dann auch auf Gesetzesebene und in der Praxis umzusetzen. Dies ist noch ein langer Weg – auf dem letztlich selbst die Popularität Rafael Correas ein Risiko darstellt, wenn am Ende nicht Caudillismo und Autoritarismus die Aufbruchstimmung wieder ersticken sollen.

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